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E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
438 Seiten
Deutsch
Kulturmaschinen Verlagerschienen am10.06.20241. Auflage
Unterschiedlicher könnten die Zwillingsschwestern Judith und Rebecca nicht sein. Dennoch sind sie natürliche Verbündete. Isoliert von der Außenwelt wachsen sie in einem streng religiösen Elternhaus auf. Statt in die Schule zu gehen, lernen sie Latein beim Vikar ihres Vaters, der seiner Position als erster fremder Mann in ihrem Leben nicht gewachsen ist. Kein Wunder, dass sie im Alter von fünfzehn Jahren die Gelegenheit zur Flucht ergreifen. Ziel der Reise ist Rom, schließlich spricht man dort Latein. Stattdessen geraten sie in ein skurriles Dorf in Portugal. Mit einer ungesunden Portion Naivität machen sie sich auf, die Welt zu entdecken und entdecken vor allem sich selbst.mehr
Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR18,00
BuchGebunden
EUR28,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR5,99

Produkt

KlappentextUnterschiedlicher könnten die Zwillingsschwestern Judith und Rebecca nicht sein. Dennoch sind sie natürliche Verbündete. Isoliert von der Außenwelt wachsen sie in einem streng religiösen Elternhaus auf. Statt in die Schule zu gehen, lernen sie Latein beim Vikar ihres Vaters, der seiner Position als erster fremder Mann in ihrem Leben nicht gewachsen ist. Kein Wunder, dass sie im Alter von fünfzehn Jahren die Gelegenheit zur Flucht ergreifen. Ziel der Reise ist Rom, schließlich spricht man dort Latein. Stattdessen geraten sie in ein skurriles Dorf in Portugal. Mit einer ungesunden Portion Naivität machen sie sich auf, die Welt zu entdecken und entdecken vor allem sich selbst.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783967633092
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum10.06.2024
Auflage1. Auflage
Seiten438 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1425 Kbytes
Artikel-Nr.15592690
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Judith die Hexe

Gott war eine Nicht-Tatsache, an der keinesfalls gezweifelt wurde. Ein Buchhalter am Himmel, distant, aber zu gelegentlichen Strafen aufgelegt, wenn er nicht gerade Sternlein zählte oder Kuchen aß. Soviel verriet ihnen Yvonne. Ewald kommunizierte über das Thema nur in den Formeln des Gebets und seiner Predigttexte, die ebenso unverständlich wie unheimlich waren.

Nicht, dass die Schwestern sie häufig zu hören bekamen.

Zum einen hatte er sechs Dorfkirchen zu versorgen und hielt entsprechend selten bei ihnen im Ort seinen Gottesdienst ab. Zum anderen ging Yvonne, seit dem kurzen und vergeblichen Kindergartenbesuch ihrer Töchter, nur ungern mit den ­beiden in die Kirche. Sie spürte, dass die Dorföffentlichkeit ihren Kindern feindlich gesonnen war. Die übelwollenden Blicke der anderen spiegelten unmissverständlich, was Yvonne schon wusste. Die Schwestern waren nicht, wie kleine Mädchen sein sollten: Die renitente Rebecca mit ihrem ewig mürrischen Ausdruck im Gesicht, und die zarte Judith in Wahrheit unförmig, oberflächlich brav, unterschwellig boshaft. So weit Yvonnes nüchternes Urteil über ihre Kinder, zuerst gefasst, als diese vier Jahre alt waren, seitdem täglich bestätigt.

Nur alle vier Wochen, wenn DAS GETRÄNK ihre monatliche Blutung zum Fließen brachte und ihr zugleich das Gefühl schenkte, dass alles möglich, alles offen war, erlaubte sich Yvonne einen anderen Blick auf die Dinge. Es waren die glücklichsten Momente ihres ansonsten öden Daseins. Ihr Rausch verlieh der Welt eine freundliche Aura. Wenn das zweite Glas leer war, kamen ihr sogar ihre Töchter liebenswert vor. Phantasien gingen ihr durch den Kopf. Sie versuchte sich Martin-­Sie ohne Hemd vorzustellen; eine Urlaubsreise mit Mahlzeiten im Restaurant und lächelnden Kellnern; die feierliche Be­erdi­gung von Ewald. Verbotene Gedanken, die sie nicht einmal in lateinische Worte zu fassen wagte. In den darauf folgenden Tagen flüchtete sie in das intensive Singen von Chorälen und Hausarbeit. Abends im Bett an Ewalds Seite beschäftigte sie ihr schlechtes Gewissen, ein schwammiges Angstgefühl, ebenso beunruhigend wie die schnell sinkenden Pegelstände in den Flaschen. Dann fühlte sie ihre Frömmigkeit verblassen, durchsichtig werden wie ein zu oft getragenes Kleidungsstück, bis sie als Mauer gegen die Schrecken der Welt, als feste Burg nicht mehr taugte.

Immerhin gab es die Mauern des Hauses, um sie abzuschirmen. Aber sie ahnte und fürchtete, dass es unmöglich sein würde, Rebecca und Judith dauerhaft vor dem zu bewahren, was in ihrem Wesen angelegt war, was sie nicht benennen konnte, was jeder, dem die Mädchen begegneten, als abstoßend empfand.

Wenn Yvonne einmal so weit war, brach sie ihre Gefühle her­unter auf gewöhnliche mütterliche Angst um die Zukunft der Kinder und nahm Zuflucht zu einem neuen geistigen Lied. Sie sang laut, das Haus war groß genug, dass man sie nicht hörte, das Bügelbrett stand in einem sonst unbenutzten Zimmer, der Staubsauger übertönte ihre Stimme. Es zog höchstens ein düsteres Summen durch die Wände, das Rebecca hinaus in den Garten trieb, und das Judith unter die Haut sickerte wie eine giftige Anklage, ein Band der Melan­cholie um ihre Eingeweide, zu sprengen höchstens durch Nahrungs­aufnahme.

Oder durch das Behexen von Martin-Sie.

Judith, das bläuliche, das dicke weiße Mädchen, der alptraumbringende sechsfingrige Geist, Judith der Beinahe-Zwilling brachte es fertig, folgsam zu übersetzen, wie junge Römer sich auf engen Theatersitzen an junge Römerinnen drängten. Dabei richtete sie ihren Willen ganz darauf aus, Macht über ihren ­linkischen Lehrer zu gewinnen, der die stumpfsinnig scheinende Sonne ebenso mied, der ebenso leicht schwitzte wie sie, und von dem sie nicht hätte sagen können, dass er ihr gefiel. Oder aber missfiel. Sie hatte niemanden zum Vergleich.

Wenn Rebecca in den Pausen nach draußen ging, blieb ­Judith im Schulzimmer. Martin-Sie ging in einen anderen Raum. Sie folgte ihm nicht. Sie wartete. Unbeirrt von Rebeccas Zorn wie von seinem Unwillen.

Einmal verließ Martin-Sie das Zimmer nicht. Er sah in ­seinen Text, kritzelte Unleserliches an den Rand, schwieg. Judith schwieg zurück, fixierte die Schweißperle an seiner Ober­lippe. Machte unwillkürlich ein kleines schmatzendes Geräusch, da fuhr er zusammen wie bei ihrer Berührung in der Unterrichtsstunde. Judith war nicht sicher, was sie von ihm wollte. Aber in diesem Augenblick wusste sie, sie würde es bekommen.

Martin-Sie saß in den Pausen jetzt neben ihr. Er ging nicht mehr in sein Zimmer, kein einziges Mal. Manchmal verschwand er kurz, kam aber wieder. Zur Toilette, vermutete Judith.

Rebecca bestrafte ihre Schwester, indem sie ganze Nachmittage im Versteck auf dem Schuppendach verbrachte, das Judith mit ihrem Gewicht nicht erreichen konnte. So wenig, wie sie selbst es aushielt, die Schulpausen im Haus zu verbringen, erst recht nicht jetzt, wo der Kirschbaum trug. Der Baum war alt, er trug nicht in jedem Jahr, aber in diesem Sommer war er übervoll, seine Krone mehr rot als grün. Die Kirschen hatten große Kerne, wenig Fruchtfleisch und einen leicht bitteren Geschmack. Rebecca aß davon, bis sie Bauchschmerzen bekam, während Judith geduldig an der Seite des Lehrers ausharrte.

Seit Martin-Sie in ihrem Haus erschienen war, beschränkte sich das Familienleben mehr und mehr auf die gemeinsamen Mahlzeiten. Yvonne gab ihre Unterrichtsstunden an ihn ab, lag im Bett auf dem Rücken oder wandelte durch den ­Garten, warf kaum einen Schatten, machte kaum ein Geräusch, es sei denn, sie sang. Ewald sprach seine wenigen Worte nun vornehmlich mit dem Vikar. Der wurde täglich zum Essen an den Familientisch gebeten, schlug die Einladungen aber meistens aus. Wenn er dabei war, bemühte sich Yvonne, ein Tischgespräch zu führen, wählte als Thema die antiken Dichter oder die Fortschritte ihrer Töchter. Wenn er nicht dabei war, machte sie Bemerkungen über Rebeccas Appetitlosigkeit oder beobachtete Judiths Großmutterbauch, ihre speckigen Hände, die breit angelegte Brust, ohne einen Kommentar zu wagen. Ewald überwand sich, stellte eine oder zwei Fragen über den Tagesablauf der Mädchen und hörte deren Antworten ohne Interesse. So sehr er wünschte, weitere Kinder in die Welt zu setzen, so wenig sagte ihm die Gesellschaft der beiden zu, die er besaß. Sie waren ihm nur ein Versuch, ein unvollkommener Anfang, sie waren ermüdend und Yvonnes Aufgabe.

An einem Abend im Juli, Rebecca krümmte sich auf ihrem Stuhl, hatte den Nachmittag über Klatschmohnblüten gegessen, oben auf ihrem Dach, hatte die Glockenblumen unten an der Schuppenwand nach der Besessenheit ihrer Schwester befragt und keine Antwort bekommen, sogar ihren Dybbuk gerufen, der auf Rufen nicht kam, da trat Judith mit ihrem Fuß unter dem Tisch sehr bestimmt auf den Fuß von Martin-­Sie. Berechnend war das, sie wusste, er konnte nichts tun oder sagen, da er doch mit ihren Eltern am Abendbrottisch saß. Sie ließ den Fuß dort, einen nackten verschwitzten Fuß, nicht zärtlich oder sanft, eher eine Drohung. Niemand sah es außer Rebecca.

Yvonne, in ihrer prämenstruellen geistigen Schwerelosigkeit, zitierte Verse von Vergil, und Martin-Sie murmelte benommen die Übersetzung, wie zwei Mönche in einem Sprechgesang klangen sie.

Ich lebe nicht wirklich, dachte Yvonne.

Was hatte es schon auf sich mit so einem Leben, ob man es im Irrenhaus verbrachte oder in einem Pfarrhaus, in den Armen eines Satyrs oder allein - letztlich ging es ums Durchhalten, ums Tagezählen, das Warten auf Ereignisse und Nicht-­Ereignisse.

Was Martin-Sie betraf, wartete sie auf Ereignisse, die nicht kommen würden und nicht kommen durften. Und sie war nicht mehr die Einzige im Haus, die Tage zählte. Rebecca tat das ebenso, nicht bis zur 28 wie ihre Mutter, sondern weiter ins Ungewisse. Das Ziel, auf das sie hinzählte, lag an einem ihr noch unbekannten Tag, begonnen hatte sie die Zählung mit dem Entschluss, das Elternhaus zu verlassen. Sie rief sich die aktuelle Zahl ins Bewusstsein, über dem Tisch Vergil, ­unter dem Tisch der aufdringliche Fuß. Wenn der Tag kam und sie der Welt begegnen würde, wie jemand, der aus dem Gefängnis entlassen wird, wenn dieser Tag kam, würden Vergil und seinesgleichen ihr nichts nützen, sie würde nichts zum Mitnehmen haben - was wollte Judith nur mit dem blöden Vikar? Was krallten sich die kleinen weißen Würmer ihrer ­Zehen so beharrlich in dessen Birkenstockschuh? Wie ein Hund, dachte Rebecca, wie ein Hund ist das, und sie trat ihrerseits gegen Judiths Schienbein. Das bemerkte Judith nicht, weil sie so sehr mit dem Fuß des Lehrers beschäftigt war, aber Yvonne: »­Rebecca, verlass sofort den Tisch!«

Von diesem Abend an war sie auf der Hut. Zum ersten Mal empfand sie echtes Misstrauen ihrem Beinahe-Zwilling gegen­über. Wenn sie nach den Pausen ins Klassenzimmer zurückkehrte, schien Judith ihr jedes Mal verändert; nie die Schwester, die sie zurückgelassen hatte. Sie war ein Bündnis gegen sie eingegangen, mit dem einzig möglichen Verbündeten, Martin-­Sie.

In den Pausen ging Rebecca nicht mehr in den Garten. ­Rebecca stellte sich auf den Flur und lauschte. Viele Tage hörte sie nichts. Einen Stuhl rücken vielleicht, oder das Geräusch von Büchern, die aufgeschlagen, geglättet, wieder auf den Tisch gelegt wurden. Das Geräusch von Papier. An Tag 33 ihrer persönlichen Zeitrechnung hörte sie den Vikar »du kleine Hexe« sagen, so, als drücke er es zwischen seinen Zähnen hinaus, so, als wäre er böse auf Judith. Als die Pause vorbei war, suchte Rebecca in beider Gesichtern nach Zeichen von Streit oder Ärger; die aber verrieten nichts.

An Tag 37...
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