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Über die Berechnung des Rauminhalts III

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Matthes & Seitz Berlin Verlagerschienen am31.05.20241. Auflage
Noch immer ist Tara Selter in einer Zeitschleife gefangen - doch sie ist nicht mehr allein. Der norwegische Soziologe Henry war auf einer Konferenz in Düsseldorf, als auch für ihn die Zeit stehen blieb. So unterschiedlich Tara und Henry die Wiederholungen und viele Dinge im Leben wahrnehmen, kommen sie doch in einem Bewusstsein für die Zeit und in der Wertschätzung des Augenblicks zusammen. Henry wird Tara zu einem dringend benötigten Freund und Gesprächspartner, sie scheinen die einzigen Menschen auf der Welt zu sein; zumindest in ihrer Welt, in der jeder andere ein Statist ist, der den ewig wiederkehrenden 18. November zum ersten Mal erlebt. Bald jedoch stellt sich heraus, dass auch noch andere Menschen in jenem Novembertag feststecken. Gemeinsam beziehen sie ein leerstehendes Haus in Bremen, von dem aus sie versuchen, die Risse in der Welt zu kitten, die ihnen die ständige Wiederholung vor Augen führt. In Über die Berechnung des Rauminhalts III schlägt Solvej Balle hoffnungsvollere Töne an und entwirft als Gegengewicht zu Taras bisheriger Angst, die Welt aufzubrauchen, die Idee eines positiven Fußabdrucks: Die lähmende Einsamkeit weicht der Dynamik eines Kollektivs, das entschlossen ist, der Zeitschleife zu entkommen - und bis dahin das Beste daraus zu machen. Ein origineller, radikal unideologischer Kommentar zum Verbrauch der Ressourcen und der Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Menschheit. 

Solvej Balle, 1962 in Bovrup geboren, studierte Literatur und Philosophie in Kopenhagen und veröffentlichte 1984 ihren ersten Roman. Nach Jahren ausgedehnter Reisen durch Europa, Amerika, Kanada und Australien wurde sie 1996 Herausgeberin der literarischen Zeitschrift  Den blå port. Seither veröffentlicht sie in unregelmäßigen Abständen eigene literarischen Werke und übersetzte aus dem Englischen u.a. Rosemare Waldrop. Auf Deutsch erschien bislang der Roman Nach dem Gesetz.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextNoch immer ist Tara Selter in einer Zeitschleife gefangen - doch sie ist nicht mehr allein. Der norwegische Soziologe Henry war auf einer Konferenz in Düsseldorf, als auch für ihn die Zeit stehen blieb. So unterschiedlich Tara und Henry die Wiederholungen und viele Dinge im Leben wahrnehmen, kommen sie doch in einem Bewusstsein für die Zeit und in der Wertschätzung des Augenblicks zusammen. Henry wird Tara zu einem dringend benötigten Freund und Gesprächspartner, sie scheinen die einzigen Menschen auf der Welt zu sein; zumindest in ihrer Welt, in der jeder andere ein Statist ist, der den ewig wiederkehrenden 18. November zum ersten Mal erlebt. Bald jedoch stellt sich heraus, dass auch noch andere Menschen in jenem Novembertag feststecken. Gemeinsam beziehen sie ein leerstehendes Haus in Bremen, von dem aus sie versuchen, die Risse in der Welt zu kitten, die ihnen die ständige Wiederholung vor Augen führt. In Über die Berechnung des Rauminhalts III schlägt Solvej Balle hoffnungsvollere Töne an und entwirft als Gegengewicht zu Taras bisheriger Angst, die Welt aufzubrauchen, die Idee eines positiven Fußabdrucks: Die lähmende Einsamkeit weicht der Dynamik eines Kollektivs, das entschlossen ist, der Zeitschleife zu entkommen - und bis dahin das Beste daraus zu machen. Ein origineller, radikal unideologischer Kommentar zum Verbrauch der Ressourcen und der Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Menschheit. 

Solvej Balle, 1962 in Bovrup geboren, studierte Literatur und Philosophie in Kopenhagen und veröffentlichte 1984 ihren ersten Roman. Nach Jahren ausgedehnter Reisen durch Europa, Amerika, Kanada und Australien wurde sie 1996 Herausgeberin der literarischen Zeitschrift  Den blå port. Seither veröffentlicht sie in unregelmäßigen Abständen eigene literarischen Werke und übersetzte aus dem Englischen u.a. Rosemare Waldrop. Auf Deutsch erschien bislang der Roman Nach dem Gesetz.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783751809733
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum31.05.2024
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse2356 Kbytes
Artikel-Nr.15601509
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

# 1144

Ich habe einen Menschen getroffen, der sich erinnert. Gestern. Das heißt, ich habe ihn gestern getroffen. Aber er erinnert sich auch an gestern. Er erinnert sich daran, dass wir uns gestern getroffen haben. Eigentlich hatten wir uns schon vorgestern getroffen, aber erst gestern sprachen wir miteinander. Und gestern bekam er einen Namen. Er heißt Henry Dale, und ich brauche ihm nicht zu erzählen, dass die Zeit stehen geblieben ist. Er weiß es.

Und er weiß noch so einiges mehr. Er weiß, dass wir Herbst haben, aber nicht auf den Winter zugehen. Dass es weder Frühling noch Sommer wird. Dass die goldene Färbung der Bäume gekommen ist, um zu bleiben. Er weiß, was die Wörter bedeuten: dass gestern nicht der siebzehnte November bedeutet, dass morgen der Achtzehnte bedeutet und dass der Neunzehnte ein Tag ist, den wir vielleicht nie erleben werden. Er weiß es, wenn er morgens aufwacht und wenn er abends zu Bett geht.

Jetzt weiß er auch, dass er nicht allein ist, denn heute früh trafen wir uns im Café Möller. Und wir trafen uns dort, weil wir uns zu dem Treffen verabredet hatten und weil wir noch wussten, dass wir uns verabredet hatten. Zwei Menschen, die sich erinnern. Nicht einer, der sich erinnert, und ein anderer, der vergisst. Ein seltsamer Gedanke: dass ein Mensch durch die Tür kommt, dessen Gedächtnis intakt ist.

Das genau tat er nämlich: Er erschien in der Tür und betrat das Café. Er kam kurz vor neun, ich saß schon am Tisch. Ich war gegen halb neun eingetroffen, hatte mir einen Kaffee an der Theke bestellt und darauf gewartet, dass der Fensterplatz frei wurde. Das geschah um 8.39 Uhr, und ich war noch nicht sehr lange da, als Henry D. die Stufen zum Café heraufstieg. Er öffnete die Tür, entdeckte mich, und mit einem Gesichtsausdruck, der mir zeigte, dass er mich erkannt hatte, kam er an meinen Tisch, zögerte gerade lange genug, damit ich mich von meinem Stuhl erheben konnte, und dann standen wir uns gegenüber, ohne gleich eine passende Geste zu finden, mit der wir uns begrüßen konnten.

Henry D. machte einen Schritt auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen, da ich aber gleichzeitig auch einen Schritt nach vorn machte, zog er seine Hand wieder zurück. Ich drehte mich ein wenig, und wir endeten in einer etwas linkischen Bewegung, ich mit einem halben Luftkuss zur einen Seite, er mit ein paar Klapsen auf meine Schulter, eine merkwürdige Mischung aus Begrüßungsroutinen, Relikte alter Gewohnheiten, die wir aus der Vergangenheit mitgeschleppt hatten, und das Ganze endete in einem wunderlichen Tanz: ungelenk und nicht ganz im Gleichgewicht.

Wir mussten beide lachen, sicher über unser Gehampel und unsre komischen Gebärden, aber auch, weil sich alles so ungewohnt anfühlte. Wir hatten beide augenscheinlich verlernt, einen anderen Menschen zu begrüßen, oder richtiger gesagt, einen Menschen zu begrüßen, den wir wiedererkannten und der seine Wiedererkennung zurücksandte.

Nicht dass es etwas Besonderes gewesen wäre. Wir waren schlicht zwei Personen, die sich am Tag zuvor begegnet waren und den anderen aus der Kategorie ein anderer Mensch in die Kategorie ein bestimmter anderer Mensch verschoben hatten und die sich nun wieder trafen. Das sollte kein Problem sein, aber wir waren anscheinend derart daran gewöhnt, mit Menschen zu verkehren, die uns noch nie gesehen zu haben glaubten, dass wir nicht mehr wussten, wie man einen Menschen grüßt, den man kennt.

Das war nämlich die Pointe: Wir kannten uns. Denn wir hatten uns gestern getroffen, und heute erinnerten wir uns daran, und obwohl ich alle Cafégäste und das Personal und die Passanten auf der Straße vorm Fenster viel öfter gesehen hatte als Henry D., würde keiner von denen sagen, dass wir uns kennen. Im Gegenteil, sie würden beteuern, sie hätten mich noch nie gesehen. Das Wiedererkennen ist ganz auf meiner Seite, ist ja klar, aber dann standen wir uns plötzlich gegenüber, Henry D. und ich, und wenn jemand gefragt hätte, ob wir uns kennen, hätten wir sagen können, ja, tatsächlich, tun wir. Wir hatten uns unterhalten, kannten unsere Namen, wir wussten, dass wir uns schon kennengelernt hatten, und nun nahmen wir ein Gespräch wieder auf, das gestern in der Universität begonnen hatte und hier am Fenstertisch im Café Möller weitergeführt werden konnte, hier, wo wir beide erschienen waren und uns in einem linkischen Tanz begrüßten, der uns zum Lachen gebracht hatte.

Er musste genauso verwundert gewesen sein wie ich, denn die Situation bekam auf einmal eine gewisse Leichtigkeit, eine Ausgelassenheit, die sicher nicht nur daher rührte, dass wir beide den größten Teil der Nacht keinen Schlaf gefunden hatten. Wir lachten unser kurzes und befreiendes Lachen, und plötzlich hatte die Situation nichts Sonderbares mehr. Wir mussten einfach ein Gespräch fortsetzen, das schon angefangen hatte.

Beim Gedanken an unsere Begegnung muss ich jetzt wieder lächeln, und mir wird bewusst, wie lange mir dieses gegenseitige Wiedererkennen gefehlt hatte, dieses kleine Zucken im Bewusstsein, ein schwaches Zittern im Gehirn, wenn man einen Menschen wiedererkennt, der einen auch erkennt. Eine Empfindung, die so lange verloren gewesen war, dass ihre Rückkehr überraschend kam, wie ein neues und merkwürdiges Gefühl, das uns in einen wunderlichen Tanz versetzte.

Ich bin wieder in der Wohnung im Wiesenweg, allein, weil jeder zu sich nach Hause gegangen ist, aber noch immer erstaunt, dass man mitten im achtzehnten November eine gemeinsame Geschichte haben konnte, eine ganz kurze zwar, aber doch eine mit Begegnungen und Abschieden und Wiedersehen und Verabredungen zu einem neuen Treffen.

Als unser leichtes und etwas nervöses Lachen verklungen war, gestand Henry D. seine Unsicherheit. Er habe Angst gehabt, meine Erinnerung an unsere Begegnung könne mich im Laufe der Nacht im Stich gelassen haben. Ich sagte, dass ich am Morgen, nach einer schlaflosen Nacht, überzeugt gewesen war, dass alles nur pure Phantasie gewesen sei, dass unser Treffen nicht stattgefunden habe, dass es schlichtweg nicht passiert sei. Aber es hatte stattgefunden, es war passiert, und er bestellte eine Tasse Kaffee, wir frühstückten, und ich verstehe noch immer nicht richtig, wie es sein kann, aber plötzlich sprachen wir über unsere erste Begegnung, gestern im Hörsaal der Universität, er mit seiner Version, ich mit meiner, er auf dem Weg die Treppe hinunter, ich eine Stuhlreihe verlassend, er mit erstauntem Blick auf die Frau, die auf ihn zukam, ich mit einer Geste, die deutlich machte, dass ich mit ihm ins Gespräch kommen wollte, jeder mit seinem Blick, aus zwei verschiedenen Perspektiven, aber die Zutaten waren dieselben, der Raum, die Stuhlreihen und die Treppe, die zum Ausgang führte. Wir erinnerten uns an alles, und wir konnten uns gemeinsam daran erinnern, denn wir hatten beide unsere Begegnung im Gedächtnis aufbewahrt.

Nach dem Frühstück gingen wir zu meiner Wohnung, und ich bat ihn herein, nicht in mein römisches Durcheinander, zu den Abfalltüten an der Tür, den halb geleerten Tassen, den Salatbehältern, den Fußböden mit herumfliegenden Zetteln und Büchern, sondern in meine aufgeräumte Küche, in mein Wohnzimmer mit den Regalen und den ordentlich gestapelten Mappen und Papieren. Hier lagen meine Forschungen. Bücher über Griechen und Makedonier, Mykener und Perser, einige Seiten mit Aufzeichnungen über Hethiter und Sumerer und ein Stapel zu Ägyptern. Und Römer selbstverständlich. Und Bücher über die Franken und Mappen mit den Spartanern und Etruskern. Da waren Notizen über die nördlichen Völkerschaften, Listen mit den Namen verschiedener germanischer Stämme, und neben dem Computer auf dem Tisch lagen nicht nur Janita Wengs Rome and Rye, sondern auch ihr letztes Buch Noxious Pustule - the case against claviceps purpurea sowie ein Übersichtswerk über unterwasserarchäologische Wrackfunde, alles in einer Ordnung, die weder chronologisch noch alphabetisch, geographisch oder nach sonst einem bekannten System organisiert war, aber trotzdem einer Art Ordnung. Man konnte herumgehen, ohne auf die Stapel zu treten, es waren keine zufälligen Reste, die nach Tagen und Nächten auf den Spuren toter Römer und verschwundener Kulturen übrig geblieben waren, es war leicht, einen Weg durch die Räume zu finden, man musste sich nicht hindurchgraben, man musste keinen Wald roden oder sich mit der Machete vorankämpfen. Es war nur eine Wohnung, die verhältnismäßig ordentliche Wohnung eines neugierigen Menschen, die wir nach einem kurzen Rundgang, einem Blick auf den Mispelbaum im Hof, einem Glas Wasser an der Küchenspüle wieder verließen, und als wir gingen, blieben unsere Taschen auf dem Boden in der Küche stehen. Wir verloren kein Wort darüber. Wir ließen sie einfach stehen, gingen aus der Wohnung und machten einen langen Spaziergang am Rhein entlang.

Da hatten wir längst angefangen, die ganze Geschichte aufzurollen, diese...
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Autor

Solvej Balle, 1962 in Bovrup geboren, studierte Literatur und Philosophie in Kopenhagen und veröffentlichte 1984 ihren ersten Roman. Nach Jahren ausgedehnter Reisen durch Europa, Amerika, Kanada und Australien wurde sie 1996 Herausgeberin der literarischen Zeitschrift  Den blå port. Seither veröffentlicht sie in unregelmäßigen Abständen eigene literarischen Werke und übersetzte aus dem Englischen u.a. Rosemare Waldrop. Auf Deutsch erschien bislang der Roman Nach dem Gesetz .

Peter Urban-Halle, 1951 in Halle (Saale) geboren, wuchs in Dortmund auf und studierte Germanistik und Skandinavistik in Berlin und Kopenhagen.
Er ist Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Dänischen (u. A. Peter Høeg und Janne Teller) und wurde mit mehreren Übersetzerpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin.