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Leben ohne Folgen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Wallstein Verlagerschienen am24.07.20241. Auflage
Ein komischer, berührender Roman über das Scheitern in und an unserer Zeit Die große Liebe ist gefunden, das erste Kind ist unterwegs, bevor steht der Umzug in die Provinz - weg aus der Wahlheimat Berlin. Man hofft auf das vollkommene Glück, aber vollkommen ist nur der Zerfall: Beziehungen rücken in ein anderes Licht, gängige Rollenbilder werden aufgebrochen, aber das Scheitern an den Herausforderungen des Lebens ist unausweichlich. Aus Liebe wird Hass und plötzlich ist die Trennung nah. In verschiedenen literarischen Fragmenten werden Urkonflikte immer wieder neu durchlebt, mit Protagonisten, die sich in der heutigen Leistungsgesellschaft nur schwer zurechtfinden, die sich gleichen, die vielleicht miteinander verwandt sind und deren Leben auf geheimnisvolle Weise verbunden scheinen - beinahe so wie im Werk des großen Schriftstellers Roberto Cotti, der zum Fixstern in diesem literarischen Kosmos des Scheiterns wird. Der Montageroman »Leben ohne Folgen« ist provozierend im Politischen, berührend im Persönlichen und zeigt die Fragilität des Wohlstands. Prallvoll mit Leben oszilliert der Roman zwischen bodenlos Tragischem und absurd Komischem. Überlagerungen, Spiegelungen und Widersprüche fügen sich nach und nach wie Teile eines Puzzles zusammen.

Roman Graf, geboren 1978 in Winterthur, arbeitete nach einer Lehre als Forstwart in verschiedenen Berufen, studierte an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Er lebt seit 2003 in Deutschland und veröffentlichte die Romane »Herr Blanc«, »Niedergang« und »Mädchen für Morris« sowie den Gedichtband »Zur Irrfahrt verführt«. Auszeichnungen u.a.: Nominiert für den Schweizer Buchpreis (2013); Preis für das beste deutschsprachige Debüt vom Festival du premier roman in F-Chambéry; Förderpreis Bremer Literaturpreis (2010); Mara-Cassens-Preis (2009); Studer/Ganz-Preis (2008)
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextEin komischer, berührender Roman über das Scheitern in und an unserer Zeit Die große Liebe ist gefunden, das erste Kind ist unterwegs, bevor steht der Umzug in die Provinz - weg aus der Wahlheimat Berlin. Man hofft auf das vollkommene Glück, aber vollkommen ist nur der Zerfall: Beziehungen rücken in ein anderes Licht, gängige Rollenbilder werden aufgebrochen, aber das Scheitern an den Herausforderungen des Lebens ist unausweichlich. Aus Liebe wird Hass und plötzlich ist die Trennung nah. In verschiedenen literarischen Fragmenten werden Urkonflikte immer wieder neu durchlebt, mit Protagonisten, die sich in der heutigen Leistungsgesellschaft nur schwer zurechtfinden, die sich gleichen, die vielleicht miteinander verwandt sind und deren Leben auf geheimnisvolle Weise verbunden scheinen - beinahe so wie im Werk des großen Schriftstellers Roberto Cotti, der zum Fixstern in diesem literarischen Kosmos des Scheiterns wird. Der Montageroman »Leben ohne Folgen« ist provozierend im Politischen, berührend im Persönlichen und zeigt die Fragilität des Wohlstands. Prallvoll mit Leben oszilliert der Roman zwischen bodenlos Tragischem und absurd Komischem. Überlagerungen, Spiegelungen und Widersprüche fügen sich nach und nach wie Teile eines Puzzles zusammen.

Roman Graf, geboren 1978 in Winterthur, arbeitete nach einer Lehre als Forstwart in verschiedenen Berufen, studierte an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Er lebt seit 2003 in Deutschland und veröffentlichte die Romane »Herr Blanc«, »Niedergang« und »Mädchen für Morris« sowie den Gedichtband »Zur Irrfahrt verführt«. Auszeichnungen u.a.: Nominiert für den Schweizer Buchpreis (2013); Preis für das beste deutschsprachige Debüt vom Festival du premier roman in F-Chambéry; Förderpreis Bremer Literaturpreis (2010); Mara-Cassens-Preis (2009); Studer/Ganz-Preis (2008)
Details
Weitere ISBN/GTIN9783835387522
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum24.07.2024
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse3351 Kbytes
Artikel-Nr.17202277
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


 

 
Vater und Sohn
q)

Der alleinstehende Reisende, dessen Leben kinderlos geblieben war, der als Einziger im leeren, unaufhaltsam nach Westen rasenden Waggon saß und sich im richtigen Zug wähnte, war niemand anderer als Eugen Niggli.

In glückliche Gedanken versunken, sah er auf den ersten Blick nicht schlecht aus: Sein Gesicht leuchtete erwartungsfroh, das bereits ergraute Haar war zu einem ordentlichen Scheitel gekämmt und der dünnlippige Mund unterhalb des Schnauzes schien zu lächeln. Die beige Manchesterstoffhose war jedoch aus der Mode gekommen und von der Art, wie sie von alten Männern getragen wurde; sie entblößte ein Stück milchweißes, abgeledertes Schienbein, das in einer dicken Wollsocke verschwand, deren Farbkombination einem Risotto mit Erbsen glich.

Traf man Niggli stehend an, verschwand die Socke unter der Hose, doch nun war offensichtlich, dass er höchstens einen Meter fünfundsechzig groß war; außerdem wog er, was er jedoch für sich behielt, lediglich siebenundvierzig Kilogramm.

Dr. Eugen Niggli, Schweizer, genauer: geboren in Bern, aufgewachsen im Umland, abgesehen von einem zwei Jahre dauernden Abstecher nach Zürich und dem jetzigen, Leipziger Ankerplatz sein ganzes Leben wohnhaft in Bern, Studium der Linguistik und der Germanistik, Verfasser einiger wissenschaftlicher Arbeiten sowie des Rechtschreibhandbuchs Berndeutsch heute aus dem Jahre 1997, weniger aus praktischen als aus idealistischen Gründen als einer der Letzten eines aussterbenden Völkchens promoviert in Schweizer Literatur, war bis zum heutigen Tag über den Doktortitel nicht hinausgekommen: Um den vakant gewordenen Lehrstuhl für Schweizer Literatur, der ihm die Würden eines Professorentitels eingebracht hätte, hatte er sich gerade bewerben wollen, als er erfuhr, dass dieser nicht mehr besetzt wurde - und andere Bewerbungen waren erfolglos geblieben. Zuletzt war er längere Zeit arbeitslos gewesen. Unter dem Druck des Arbeitsamtes gezwungen, in zwei mögliche Richtungen flexibler zu werden, entweder sich beruflich neu zu orientieren oder seine Suche auf den gesamten deutschsprachigen Raum, ja, sogar auf fremdsprachige Länder auszudehnen, hatte er, W. G.âSebald folgend, sich in England beworben; zunehmend verzweifelt, hatte er über eine überarbeitete Neuauflage seines geliebten, in versteckter Weise revolutionären, jedoch seit geraumer Zeit vergriffenen, also verramschten Berndeutsch heute nachgedacht, aber da er den Druck selber hätte finanzieren oder ein entsprechendes Gesuch um einen Druckkostenzuschuss bei Stadt oder Kanton stellen müssen und die finanziellen Einnahmen durch die erste Ausgabe keineswegs ergiebig gewesen waren, hatte er die Idee wieder verworfen. Dank eines Wunders, wie er es nannte, lebte er seit sechs Monaten in Leipzig, wo er an der Universität im Rahmen einer Schwangerschaftsvertretung ein zweisemestriges Seminar zum Thema Schweizer Literaturgeschichte halten durfte.

Eugen Niggli war auf dem Weg von Leipzig nach Berlin - es war Februar, die Semesterferien hatten begonnen, ein idealer Zeitpunkt für sein Vorhaben -, um bei einer Pflegestelle den Hund abzuholen, für den er sich entschieden hatte. Nach und nach war ihm bewusst geworden, dass er gerne ein Kind gehabt hätte und ein Hund dieses Fehlen vielleicht ein Stück weit kompensieren konnte.

So weit fort von der Heimat, in der ihn allerdings nicht mehr viel gehalten hatte, sollte der Hund sein treuer Begleiter werden. Es handelte sich um einen Galgo aus Spanien, der von einer Hilfsorganisation für Galgos nach Deutschland gebracht worden war: ein sandfarbener Rüde mit weißen Füßen, einer weißen Spitze am Ende der Rute und einer schwarzen Maske, als hätte er die Nase zu tief in einen Topf mit schwarzer Tinte gesteckt. Er war zwei Jahre alt und in Spanien für die Jagd untauglich gewesen, weshalb der Besitzer ihn zusammen mit anderen untauglichen oder zu alten Hunden in den Wald gebracht hatte, um ihn an einem Baum zu erhängen. Irgendwie schaffte er es zu entwischen; er wurde auf einer Straße umherirrend aufgelesen. Gemäß Angabe der Hilfsorganisation besaß der Hund ein ruhiges und liebevolles Wesen; er hatte keine der sonst üblichen Mittelmeerkrankheiten.

Niggli hatte keinen jungen Hund gewollt, schon gar keinen Welpen, ein solcher hätte ihn, wie er fürchtete, überfordert. Allerdings schien das Bild, das er besaß und das den Hund mit einem leicht zur Seite gekippten, neugierig in die Kamera blickenden Kopf zeigte, zu verraten, dass es sich um ein jung gebliebenes Schlitzohr handelte. Schaute Niggli das Bild an, stieg seine Laune. Letzte Nacht hatte er kaum einschlafen können, so sehr hatte er sich auf den neuen Mitbewohner gefreut.

Um Geld zu sparen, schließlich brauchte er für die Rückfahrt neben seiner eigenen auch eine Fahrkarte für den Hund, hatte er nicht einen Intercity-Express genommen, sondern eine günstigere Verbindung mit Regionalbahnen herausgesucht, was jedoch zur Folge hatte, dass die Strecke nicht eine Stunde und zwanzig Minuten dauerte, sondern fast drei Stunden. Durch den Umweg würde er allerdings mehr von Deutschland sehen, und Zeit hatte er genug.

Nach zwanzig Minuten Reise erklärte ein hilfsbereiter Schaffner dem armen, verwirrten Niggli, dass er im falschen Zug saß: Er fuhr nach Halle.

»Abär ...«, fragte Niggli mit schweizerischem Akzent, »ich komme trotzdäm nach Bärlin, odär?«

Er erhielt zur Antwort, dass ihn dieser Zug in die falsche Richtung bringe: nach Westen statt nach Norden. Von Halle aus könne er nach Berlin fahren. Aber er brauche eine neue Fahrkarte, die jetzige sei in jenem Zug nicht gültig.

»Ein neues Billet?«

Er begann zu ahnen, dass er nun mehr Geld verlor, als wenn er gleich mit dem Intercity-Express gefahren wäre, und fing wie immer bei Aufregung oder Verwirrung, einer Gogol´schen Figur verwandt, damit an, ohne auf den Punkt zu kommen, Umstandswörter aneinanderzureihen: »Abär im Grunde ... das ist ja eigäntlich ... sozusagen ... also wirklich! Ich wollte ... ich dachte ...«

Ob er ab Halle den ICE nehme, wollte der Schaffner wissen.

Niggli fragte, wie viel der ICE und wie viel die Regionalbahn koste.

Da er rechtzeitig ankommen musste, entschied er sich für den ICE. Das Portemonnaie nahm er mit Vorsicht heraus, darin befand sich das Geld für den Hund, lediglich eine Schutzgebühr und doch ein paar hundert Euro, die er in bar mitbringen musste, eine für ihn hohe Summe, die er jedoch ohne lange zu überlegen für seinen Hund auszugeben bereit war und vom Sparkonto bei der Berner Kantonalbank auf sein neues deutsches Konto überwiesen hatte. Er bezahlte den Fahrschein und verstaute das Portemonnaie wieder an seinem sicheren Platz.

In Halle musste er zwanzig Minuten warten. Kurz nachdem er sich auf eine Bank gesetzt hatte, klingelte das »Natel«, wie er als Schweizer sein Handy nannte; etwas Außergewöhnliches musste geschehen sein, denn das Natel klingelte sonst nie. Er fingerte es aus der Innentasche des Mantels, und als er das klingelnde, vibrierende und orange blinkende Gerät, das ihm, wie jedes technische Ding, schon immer fremd gewesen war, in der Hand hielt, war er vor Aufregung wie paralysiert und wusste auf einmal nicht mehr, welchen der vielen Knöpfe er drücken musste. Es blieb keine Zeit, er drückte auf den erstbesten Knopf, legte den Lautsprecher ans Ohr, sagte »Niggli« und erhielt als Antwort eine in ihrer Vollkommenheit faszinierende Stille.

Er fluchte leise und studierte die Tastatur. Die Zahlen und Zeichen auf den Knöpfen erschienen ihm wie eine komplizierte mathematische Gleichung. Auf zwei Knöpfen war ein Telefonhörer abgebildet. Bei dem einen Hörer befand sich zwischen den beiden Muscheln ein kleines Rechteck, beim anderen fehlte das Rechteck. Aha, dachte Niggli, in dessen Kopf soeben ein Gedanke in einem zweifachen Rückwärtssalto eine andere Ebene erreicht hatte: Er musste den linken Knopf drücken.

In diesem Moment klingelte das Gerät erneut, Niggli drückte besonnen den linken Knopf und sprach mit der Frau von der Pflegestelle, die ihn mit »Herr Nicklii« ansprach, wie alle Deutschen, denen er noch nicht erklärt hatte, dass er Niggli hieß, »mit Betonung auf dem ersten i«, wie er sagte und worauf er meistens noch anfügen musste: »Nein, kein ck, zwei g, kurz und hart ausgesprochen: Niggli«, und ihm mitteilte, dass sich der Hund am Morgen beim Spielen auf der gefrorenen Erde eine Kralle abgerissen habe, er beim Tierarzt gewesen sei und einige Tage einen Verband werde tragen müssen. Sie wolle fragen, ob er bereits unterwegs sei und, falls noch nicht, ob man die Übergabe eine Woche später machen könne. Für den Hund sei es nicht ideal, in dieser Hektik in ein neues Zuhause umzuziehen.

Er sei noch so gut wie zu Hause, sagte Niggli. Er wünschte gute Besserung, betonte, wie sehr er sich auf den heutigen Tag gefreut habe, dass er jedoch eine Woche warten und den Hund dann, falls nötig, weiter pflegen werde.

Kaum hatte er das Natel verstaut, kaum dachte er an den schelmischen Blick seines, noch immer nicht seines Hundes, sank er in sich zusammen. Und er war nicht zu Hause, sondern in Halle, was für ihn gleichbedeutend war mit irgendeinem Kaff.

Er musste die eben gekaufte ICE-Fahrkarte stornieren. Er dachte...
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Roman Graf, geboren 1978 in Winterthur, arbeitete nach einer Lehre als Forstwart in verschiedenen Berufen, studierte an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Er lebt seit 2003 in Deutschland und veröffentlichte die Romane »Herr Blanc«, »Niedergang« und »Mädchen für Morris« sowie den Gedichtband »Zur Irrfahrt verführt«.
Auszeichnungen u.a.:
Nominiert für den Schweizer Buchpreis (2013); Preis für das beste deutschsprachige Debüt vom Festival du premier roman in F-Chambéry; Förderpreis Bremer Literaturpreis (2010); Mara-Cassens-Preis (2009); Studer/Ganz-Preis (2008)