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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Voland & Quisterschienen am09.09.20241. Auflage
Leo Puschkin ist Reporter. Er lebt in den Tag hinein, gönnt sich zu seinem selbst gestreckten Kaviar gerne mal einen Schluck Baikal-Wodka und macht sich mit keiner Sache gemein, schon gar nicht mit einer guten. Als er eines Tages den Auftrag bekommt, den Auslandssender des Kremls zu unterwandern, gelingt Leo eine spektakuläre Recherche - aber sein Arbeitgeber, eine renommierte Zeitung aus Berlin, will seine Story nicht drucken. Um nicht durchzudrehen, schreibt Leo seine Geschichte als 'Roman' auf. Hier ist er.

Nikita Afanasjew, 1982 in der Sowjetunion geboren, emigrierte in den 90er-Jahren nach Deutschland. Als Journalist bereist Afanasjew Osteuropa und seine alte post-sowjetische Heimat, schreibt für die ZEIT, GEO und Reportagen. Er wurde ausgezeichnet mit dem Deutschen Reporterpreis und war nominiert für den Henri-Nannen und Axel-Springer-Preis. Bei Voland & Quist veröffentlichte Afanasjew mit 'Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt' (2017) seinen ersten Roman.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextLeo Puschkin ist Reporter. Er lebt in den Tag hinein, gönnt sich zu seinem selbst gestreckten Kaviar gerne mal einen Schluck Baikal-Wodka und macht sich mit keiner Sache gemein, schon gar nicht mit einer guten. Als er eines Tages den Auftrag bekommt, den Auslandssender des Kremls zu unterwandern, gelingt Leo eine spektakuläre Recherche - aber sein Arbeitgeber, eine renommierte Zeitung aus Berlin, will seine Story nicht drucken. Um nicht durchzudrehen, schreibt Leo seine Geschichte als 'Roman' auf. Hier ist er.

Nikita Afanasjew, 1982 in der Sowjetunion geboren, emigrierte in den 90er-Jahren nach Deutschland. Als Journalist bereist Afanasjew Osteuropa und seine alte post-sowjetische Heimat, schreibt für die ZEIT, GEO und Reportagen. Er wurde ausgezeichnet mit dem Deutschen Reporterpreis und war nominiert für den Henri-Nannen und Axel-Springer-Preis. Bei Voland & Quist veröffentlichte Afanasjew mit 'Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt' (2017) seinen ersten Roman.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783863914318
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum09.09.2024
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse1658 Kbytes
Artikel-Nr.17321692
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

I

Meine Lucky Strike war halb aufgeraucht, als ich beschloss, Russia Today zu unterwandern.

Wie aus dem Nichts war Suse Fink, meine Chefin, auf der Terrasse des Redaktionsturms aufgetaucht: hochgesteckte Haare, eng geknöpfter oberer Hemdknopf, Hosenanzug - eine furchterregende Erscheinung, zumal für einen jungen Reporter und auf nüchternen Magen.

»Ich habe lange nichts mehr von dir gelesen, das mich wirklich bewegt hätte«, sagte Suse. »Lass dich zum Schein bei Russia Today anstellen, arbeite dort einige Tage und schreib einen schön dreckigen Text.« Sie hielt eine blaue Gauloises in ihrer Hand. »Die haben ein Büro in der Ebertstraße angemietet, gleich gegenüber vom Holocaust-Mahnmal. Suchen händeringend neue Mitarbeiter.«

Ich zog an meiner Lucky Strike.

Nun zündete auch Suse ihre Zigarette an. »Jetzt oder nie, Leo.«

Und so sagte ich zu.

Vielleicht fiel mir die Zustimmung so leicht, weil ich damals nach etwas Großem suchte, ohne mir das selbst einzugestehen. Ich war achtundzwanzig Jahre alt, ein Zugereister, seit einer Dekade im Westen, und hatte mich, wie es so schön heißt, eingenordet. Ich fuhr einen Honda Accord, war von Selbstgedrehten auf Filterzigaretten umgestiegen und schrieb als Reporter für den Berliner Lokalanzeiger, ein Regionalblatt mit bundesweiter Ambition. Ich konnte sogar von mir behaupten, entdeckt worden zu sein, von der großen Suse Fink, der Redakteurin für besondere Aufgaben. Wenn mich aber jemand in einer Bar ausfragte, verschwieg ich meinen Job bei der Journaille lieber und sagte: »Kaviar! Ich strecke und verkaufe Kaviar, den Fischgestank der Zivilisation.«

In der Redaktion erzählte ich dagegen offen von meinem gar nicht so kleinen fischigen Nebenverdienst. Ich brachte meinen Kaviar unter seinem Markennamen Bärluga sogar zu Weihnachtsfeiern mit. Das Etikett, entworfen von meinem Compagnon Vitali, zeigte einen Bären und einen Weißwal beim Paartanz. Vor allem Suse Fink hatte einen Narren an mir gefressen, wobei ich erst später begreifen sollte, dass sie meinen gestreckten Kaviar für eine amüsante Räuberpistole hielt.

Suse und mich verband ein Vorfall auf einer Weihnachtsfeier, mit dem ich mich jetzt nicht aufhalten möchte. Es wäre auch nicht in Ordnung, davon zu berichten. Suse hatte mich danach um Stillschweigen gebeten - obwohl so ziemlich alle in der Redaktion etwas mitbekommen hatten. Trotzdem hatte ich zugesagt, nichts zu erzählen, ich wollte ihr nicht widersprechen. Suse widersprach keiner gerne.

Als ich an dem Tag, an dem Suse mir den verhängnisvollen Auftrag erteilt hatte, durch Berlin lief, die Potsdamer Straße immer weiter hinunter, befielen mich Zweifel. Immerhin war es noch nicht zu spät, alles abzublasen. Zwar hatte ich den Auftrag angenommen, aber noch war nichts geschehen, ich konnte ebenso gut wieder absagen oder einfach meine Füße stillhalten. Suse gehörte zu den Menschen, deren Vorstellungskraft ihr eigenes Gedächtnis überforderte. Sie produzierte ständig Ideen, die meisten davon verflüchtigten sich wieder. Mit etwas Glück würde Suse auch ihren Russia-Today-Einfall bald vergessen und versuchen, mich auf irgendein Netzwerk bibeltreuer Reichsbürger oder radikalislamischer Feministinnen anzusetzen. Es ging Suse immer um die Show. Worum es mir damals ging, wusste ich nicht so genau.

Ich schreibe diese Zeilen achteinhalb Jahre nach den Ereignissen rund um meinen Auftrag und staune ständig über die unglaublichen Möglichkeiten, die damals noch vorhanden gewesen sein müssen. Es war noch nicht alles zu spät. Ich bin mir selbst nicht sicher, was ich damit meine, aber vermutlich sind es Angriffskrieg und Zeitenwende, die noch abzuwenden gewesen waren, vielleicht sogar solch pathetische Kuriositäten wie eine neue Weltordnung, who knows? Ich bin mir nicht sicher, ob alles hätte anders laufen können, finde Vorsehung aber schlichtweg zu deprimierend. Wenn alles vorherbestimmt ist, wozu dann die ganze Aufregung?

An jenem Tag dachte ich aber nicht allzu komplex. Ich stellte mir eine so berechtigte wie banale Frage: Sollte ich es nicht einfach lassen? Russia Today - oder RT, wie sich der Auslandssender des Kremls nannte - zu infiltrieren, hieß schließlich, knietief durch ostigen Sumpf zu waten. War ich etwa in den Westen gegangen, um weiterhin mit perfiden Ostigkeiten belästigt zu werden? Wenn ich Lust auf Schmiergeldzahlungen, gebrochene Rippen oder warmes Bier bekam, konnte ich immer noch Urlaub in Sotschi machen. Überdies musste ich mich, wenn ich diese RT-Nummer durchzog, mit meinem inneren Osten auseinandersetzen, meinem familiären Hintergrund, den ich nicht einmal in einem vernünftigen Satz zusammenfassen konnte. Herkunft liegt mir einfach nicht.


Als kleiner Steppke mochte ich die ostslawische Lässigkeit meiner Mutter, die in einem windschiefen Dorf am Asowschen Meer zur Welt gekommen war - dagegen nervten mich die armenischen Opfermythen meines Vaters hart. Als wäre es nicht genug, dass ich von ihm meine Unfähigkeit stillzusitzen erben musste, traktierte er mich und meine Mutter mit der Idee historischer Schuld, als hätten Mama und ich die Armenier eigenhändig genozidiert. Mama erzählte mir einmal, dass mein Vater so für die Sache der Armenier brannte, weil er in Wahrheit gar keiner war. Wenn sie wütend wurde, titulierte sie ihn als einen »Ein-Achtel-Osseten«, was für mich mehr nach Hund denn nach Herkunft klang. Trotzdem glaubte ich ihr, da ich optisch keinerlei Kaukasus in mir erkennen konnte. Mein Vater keilte zurück, beschimpfte uns im Suff als »dreckige Türken«.

Aber Mamas Moment sollte kommen.

Als mein Vater irgendwann in den Neunzigern - ich spielte in der Küche unseres bröckelnden Wohnblocks in Leningrad auf einer japanischen Konsole Super Mario - mit schwerem Anis-Atem mal wieder die Welt verwünschte, erschien Mama in einem neuen kupferfarbenen Mantel in der Tür. Sie sagte, dass sie »nach Hause« fliege.

»Bring Speck mit«, murmelte mein Vater.

Meine Mutter lachte höhnisch auf, als hätte sie derlei Einfältigkeit erwartet, und verkündete triumphal, dass sie zu ihrer israelischen Sippe rübermache, die sie viel zu lange vernachlässigt habe. Mein Vater verzog sein Gesicht und blickte zur vergilbten Tapete über dem Herd, als versteckte sich dort, zwischen wilden braunen Spritzern, eine alle Zeiten überdauernde Antwort. Ich ignorierte die beiden und ritt auf Yoshi ins Ziel.

Mama flog nach Tel Aviv. Sie kam nicht zurück.

Und mir konnte der Osten auch gestohlen bleiben.


Lieber lief ich weiter durch Berlin, das auch in jenem Frühling wie ein leckgeschlagenes Boot behäbig mit Touristen volllief, streifte an rot-weißem Baustellenband entlang und versuchte, an Deutschland zu denken, dieses großartige Land, das sich aller Sorgen entledigt hatte. Deutschland war sicher in den Hafen des postheroischen Nirwanas gesegelt, war angekommen, auserzählt. Alles Heldenhafte schien vollbracht, Nationalsozialismus und Kommunismus waren besiegt, Heckler & Koch ebenso überwunden wie Horch & Guck - beim schwarz-rot-goldenen Film lief eindeutig der Abspann. Warum zum Teufel sollte ich es mir nicht genauso bequem machen wie alle anderen und darauf warten, dass die Filmrolle riss?

Natürlich wollte ich den Auftrag annehmen, wollte Deutschland helfen, den Auslandssender Moskaus zu diskreditieren, gleichzeitig fürchtete ich mich davor. Von dem Moment an, in dem ich meine Story gegen das gewollte Imperium publizierte, wäre ich ein Kritiker des Kremls, ein Apologet westlicher Dominanz, ein piefiger Systemling. Ich bereute nicht, welche Seite ich zu wählen drohte - sondern hasste es, mich überhaupt für eine zu entscheiden.

Ich bog in die Kurfürstenstraße ein und wurde von den ersten Prostituierten taxiert. Mein Kaviar-Compagnon Vitali wohnte schon so lange in der Kurfürstenstraße 145, dass ich die Straßenschwalben vor seiner Tür beim Namen kannte. Auf dem Treppenabsatz traf ich Alessia, die ein bauchfreies Top und einen falschen Klunker im Bauchnabel trug. Ich schätzte sie auf sechzehn, obwohl sie mir kürzlich erzählt hatte, sie sei fünfundzwanzig. Sie bedachte mich mit ihrem irren Blick, von dem ich nie sagen konnte, ob er mir fick mich zurief oder doch fick dich. Sie gab mir ein High Five und lachte dazu wie eine verrückte Alte. Ihr fehlte ein Schneidezahn, der am Vortag noch da gewesen war. Ich wusste nicht, was Alessia genommen hatte und ob sie es mir auch anbieten würde, ließ sie stehen und eilte die Treppe hinauf.

Ich traf Vitali in seiner Küche an, wo er in einem Zehn-Liter-Aluminiumtopf voller Kaviar rührte. Er trug eine Schürze, was bei Vitali - groß und pelzig wie ein Raubtier, siebenundvierzig Jahre alt, Gewaltintellektueller - immer etwas Komödiantisches hatte. Vitali war überall sehr behaart, außer dort, wo es angezeigt gewesen wäre. Auf seiner Glatze sammelten sich Schweißtropfen, die irgendwann in alle Richtungen hinabkullerten, als wären sie Pilger, die sich auf dem heiligen Berg zerstritten hatten und getrennt voneinander den Rückweg antraten. Vitali wischte sich mit seiner Schürze aber nie über seinen kahlen Schädel. Vitali hatte Stil.

Bald rührte ich neben ihm Fischeier von Stör und Forelle zusammen. Ich gab mich der Trägheit der fischigen Masse hin. Als mein Oberarm erst müde und dann taub wurde, schoss Säure in meine Muskeln - Erlösung setzte ein. Es ging doch nichts über ehrliche körperliche Arbeit, wenn die Welt da draußen...
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Autor

Nikita Afanasjew, 1982 in der Sowjetunion geboren, emigrierte in den 90er-Jahren nach Deutschland. Als Journalist bereist Afanasjew Osteuropa und seine alte post-sowjetische Heimat, schreibt für die ZEIT, GEO und Reportagen. Er wurde ausgezeichnet mit dem Deutschen Reporterpreis und war nominiert für den Henri-Nannen und Axel-Springer-Preis. Bei Voland & Quist veröffentlichte Afanasjew mit "Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt" (2017) seinen ersten Roman.
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