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Der Mann ohne Schatten

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
384 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am23.05.20181. Auflage
Für ihn ist immer alles Gegenwart: 1965 lernt die junge Neurowissenschaftlerin Margot an der Universität von Darven Park den charismatischen Patienten Eli kennen. Er leidet an Gedächtnisverlust und kann sich nur an Dinge erinnern, die nicht länger als siebzig Sekunden zurückliegen. Margot beginnt, Elis Erinnerungsvermögen mit einer Reihe von Tests zu untersuchen, und kommt dem ungewöhnlichen Patienten im Laufe der Zeit erstaunlich nahe. Eine unmögliche Beziehung, denn er vergisst immer wieder, wer sie ist. Joyce Carol Oates hat einen Roman über Liebe und Erinnerung, über Einsamkeit und imaginierte Nähe geschrieben - luzide, feinsinnig, funkelnd.

Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport (New York) geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. 2019 wurde ihr der Jerusalem Prize verliehen. 2020 erhielt sie den renommierten Cino del Duca World Prize. Joyce Carol Oates lebt in Princeton (New Jersey), wo sie Literatur unterrichtet.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextFür ihn ist immer alles Gegenwart: 1965 lernt die junge Neurowissenschaftlerin Margot an der Universität von Darven Park den charismatischen Patienten Eli kennen. Er leidet an Gedächtnisverlust und kann sich nur an Dinge erinnern, die nicht länger als siebzig Sekunden zurückliegen. Margot beginnt, Elis Erinnerungsvermögen mit einer Reihe von Tests zu untersuchen, und kommt dem ungewöhnlichen Patienten im Laufe der Zeit erstaunlich nahe. Eine unmögliche Beziehung, denn er vergisst immer wieder, wer sie ist. Joyce Carol Oates hat einen Roman über Liebe und Erinnerung, über Einsamkeit und imaginierte Nähe geschrieben - luzide, feinsinnig, funkelnd.

Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport (New York) geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. 2019 wurde ihr der Jerusalem Prize verliehen. 2020 erhielt sie den renommierten Cino del Duca World Prize. Joyce Carol Oates lebt in Princeton (New Jersey), wo sie Literatur unterrichtet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783104903637
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum23.05.2018
Auflage1. Auflage
Seiten384 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1097 Kbytes
Artikel-Nr.2505001
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Kapitel zwei

»Mr Hoopes? Eli?«

»Hal-lo!«

»Mein Name ist Margot Sharpe. Ich bin Professor Ferris´ Mitarbeiterin. Wir kennen uns bereits. Wir sind gekommen, weil wir heute Vormittag ein wenig von Ihrer Zeit beanspruchen wollen ...«

»Ja. Guten Tag.«

Seine Augen leuchten auf. Das Aufblitzen der Hoffnung in seinen Augen!

»Guten Tag, Margot!«

Ihre Hand von seiner umschlossen, ein wiedererkennendes Halten.

Er erinnert sich an mich. Nicht bewusst - aber er erinnert sich.

Noch kann sie darüber nicht schreiben. Noch hat sie dafür keine wissenschaftlichen Belege.

Der Amnesiekranke wird Arten des Erinnerns finden. Es ist eine nichtdeklarative Erinnerung, sie kommt ganz ohne das Bewusstsein aus.

Denn es gibt ein emotionales Gedächtnis, genauso wie es ein deklaratives Gedächtnis gibt.

Es gibt ein tief im Körper wurzelndes Gedächtnis - ein Gedächtnis, das von Leidenschaft hervorgebracht wird.

Von Glück durchströmt, fühlt sich Margot Sharpe wie ein Ballon, dem das schnell einströmende Helium Auftrieb gibt.

 

»Mr Hoopes? Eli?«

»Hal-lo! Hal-lo.«

Er lächelt sie erwartungsvoll an, beugt sich vor und schüttelt ihr die Hand.

In seiner großen, kräftigen Hand Margot Sharpes kleine Hand.

»Vielleicht erinnern Sie sich nicht, wir kennen uns bereits - Margot Sharpe. Ich bin eine Kollegin aus der Forschungsgruppe von Professor Ferris. Wir arbeiten schon, nun ja, einige Zeit zusammen.«

»Mar-got Sharpe. Ja. Wir arbeiten schon ... einige Zeit zusammen.« E.H. lächelt höflich, als wisse er sehr genau, wie lange sie schon zusammenarbeiten, doch als sei das ein Geheimnis zwischen ihnen.

Heute hat E.H. die größere Zeichenmappe bei sich. Er hat das Kreuzworträtsel der New York Times gelöst, die Zeitungsseite liegt wie üblich auf dem Fußboden.

Er hat mit einem Kohlestift gezeichnet, an einem Fenster im rückwärtigen Teil des Versuchsraums im dritten Stock. Er scheint das Fenster nicht wahrzunehmen, an dessen Scheibe dramatisch der Regen prasselt, so wenig wie er seine Klinikumgebung wahrnimmt; die Themen der Kunst, die seine Aufmerksamkeit ganz in Anspruch nehmen, liegen fast ausschließlich in seinem Innern, und darüber möchte er anderen nichts mitteilen.

Außer, manchmal, Margot Sharpe.

Allerdings weiß sie, dass sie ihn nicht fragen darf, ob sie seine Zeichnungen sehen kann, sondern warten muss, bis er sie ihr zeigen will. Das Angebot, wenn es denn kommt, wird spontan gemacht.

»Haben Sie eine Vorstellung, wie lange wir schon zusammenarbeiten, Eli?«, fragt Margot immer.

E.H.s Lächeln erlischt. Nachdenklich und ernst sagt er:

»Also, ich glaube ... sechs Wochen vielleicht.«

»Sechs Wochen?«

»Vielleicht mehr, vielleicht weniger. Ich weiß schon, ich hab ein Problem mit dem, was Gedächtnis genannt wird.«

»Wie lange haben Sie dieses Problem schon, Eli?«

»Wie lange ich dieses Problem schon habe? Also, ich glaube ... vielleicht seit sechs Wochen.« Er lächelt sie mit einem flehenden Ausdruck an, hält immer noch ihre Hand fest; sie muss sie ihm behutsam entziehen.

»Wissen Sie, was die Ursache für dieses Problem ist, Eli?«

»Ach, das ist neurologisch. Ich vermute, sie haben Röntgenaufnahmen gemacht. Ich meine mich zu erinnern, dass man mir den Kopf rasiert hat. Ich hab in Birmingham einen Schädelbruch gehabt, damals wusste das niemand. Ein haarfeiner Riss. Und dann hat es im Juli am See gebrannt. Ich glaube, so hat man es mir gesagt ... einen Brand gegeben. Schwer zu glauben, dass ich so nachlässig war und brennende Glut im Kamin zurückgelassen hab, aber - irgendetwas muss gewesen sein.« E.H. hält inne und verzieht das Gesicht wie jemand, der etwas Unhandliches, sehr Schweres, aus einem tiefen Brunnen zieht und dafür alle Muskeln seines Körpers anspannen muss. »Ein Feuer, das mein verdammtes Hirn versengt hat.«

»Vielleicht ein Fieber?«

»Ein Fieber ist ein Feuer. Im verdammten Gehirn.«

Es ist ein windiger, bedeckter Vormittag im März 1969.

***

Sein Name - Hoopes - geradezu unheimlich, welche Vorausahnung darin liegt, denkt sie.

Denn Elihu Hoopes lebt seit viereinhalb Jahren in grenzenloser Gegenwart. In einer Zeitschleife sozusagen, einem Möbiusband, das unendlich in sich zurückläuft.

Nur dass dieses Unendliche keine siebzig Sekunden dauert.

Es gibt kein war in seinem Leben, nur ein ist.

Er wird für immer siebenunddreißig sein. Er wird für immer nicht recht wissen, wo er sich befindet und was ihm zugestoßen ist.

Ein Feuer? Ich glaube, es war ein Feuer. Oder Großvaters zweisitziges Propellerflugzeug machte eine Bruchlandung auf der Insel und ging in Flammen auf. Und im Krankenhaus hat es später auch gebrannt. Meine Sachen und meine Haare waren nass und haben geschwelt. Ich hab gerochen, dass meine Haare versengt waren. Es kann sein, dass ich etwas von dem Feuer eingeatmet und mir die Lunge verbrannt habe.

Sie haben gesagt, ich hätte hohes Fieber gehabt, aber - es war ein Feuer, ich hab es gesehen und gerochen.

Das Mädchen wurde nicht gefunden. Rettungsmannschaften haben nach ihr gesucht, in den Wäldern rings um den Lake George, auf den Inseln.

Wenn jemand sie mitgenommen hat, hat er sie womöglich auf eine der Inseln gebracht, dachten sie. Sofern er ein Boot hatte. Und es unbemerkt tun konnte.

Großvater hatte eine kleine chromgelb gestrichene Beechcraft, die aussah wie ein Riesenvogel, und mit der ist er über den See geflogen. Großvater ist viele Male drübergeflogen, man hörte das Brummen des Propellermotors, wenn er dicht über dem Hausdach drüberflog.

Großvater sagte: Komm mit, Eli! Wir suchen zusammen nach deiner verschwundenen Cousine.

Nicht das erste Mal, dass der kleine Junge mit seinem Großvater in der Maschine mitgeflogen war, aber es sollte das letzte Mal sein.

 

Mit seiner hellen, angenehmen Stimme liest E.H. aus seinem Notizbuch vor:

»Es gibt keine Reise, und es gibt keinen Weg. Es gibt keine Weisheit, es gibt Leere.« Nach kurzer Pause fährt er fort: »Es gibt die Weisheit des Buddha. Aber es gibt keine Weisheit, und es gibt keinen Buddha.«

Er lacht traurig.

»Es gibt keinen Test, und es gibt keine Testes.«

Und lacht wieder. Traurig.

 

So hat man es ihr beigebracht: um zu erkennen, muss man zerstören.

Um den Ursprung des Verhaltens im Gehirn zu finden, muss man den Großteil des Gehirns zerstören.

Affen-, Katzen- und Rattenhirne. Auf der Suche nach dem schwer fassbaren, geheimnisvollen Gedächtnis. Jahre und Jahrzehnte, Tausende Gehirne von Tieren, Hunderttausende Stunden Chirurgie. Systematisch, methodisch. Akribische Labordokumentation. Grausame Zielstrebigkeit des Forschungswissenschaftlers, für den keine lebende Spezies ein Zweck an sich, sondern nur ein mögliches Mittel zu einem größeren Zweck ist. Hunderttausende von Tieren geopfert auf der Suche nach dem Engramm - dem vorgeblichen Eintrag des Gedächtnisinhalts.

Ein Prinzip der experimentellen Neurowissenschaft.

Niemand darf ein lebendes, normales menschliches Gehirn chirurgisch untersuchen, das geht nur bei Gehirnen von Tieren. Und in all diesen Jahrzehnten sind die Ergebnisse nicht überzeugend gewesen. Margot Sharpe überträgt das berühmt-berüchtigte Fazit des großen Experimentalpsychologen Karl Lashley in ihr Amnesie-Logbuch:

»Die Versuchsreihe hat einige Hinweise darauf erbracht, was und wo die Spur der Erinnerung nicht ist. Manchmal glaube ich ... wir müssen zwangsläufig feststellen, dass (Erinnerung) einfach nicht möglich ist.

 

Die tugendhafte Tochter. Was für ein Glück Margot Sharpe hat!

Und sie möchte es gern glauben: Meine Karriere - mein Leben -, das liegt alles vor mir.

1969 wird das Phänomen des Amnesiekranken »E.H.« in wissenschaftlichen Kreisen nach und nach publik.

Ein außergewöhnlicher Fall von vollständiger anterograder Amnesie. Und der Proband ansonsten bei guter Gesundheit, intelligent, kooperativ, zurechnungsfähig - eine Seltenheit in der hirnpathologischen Forschung, die es bei ihren lebenden Patienten meist mit Psychotikern, Moribunden oder schwer hirngeschädigten Alkoholikern zu tun hat.

Erste Artikel von Milton Ferris vom Neurologischen Institut in Darven Park über »E.H.« sind in namhaften neurowissenschaftlichen Fachzeitschriften erschienen; in der Regel werden seine Forschungskollegen als Co-Autoren aufgeführt, und Margot Sharpe ist eine davon. Ihren Namen gedruckt zu sehen, zusammen mit diesen anderen, erfüllt sie mit tiefer Genugtuung, zumal es überraschend schnell dazu kommt.

Mit Daten, Diagrammen, Statistiken und Zitaten angereichert, tragen die Artikel Titel wie »Verlust des Kurzzeitgedächtnisses nach Enzephalitisinfektion« - »Erhalt des deklarativen und des prozeduralen Gedächtnisses bei Amnesie. Die Geschichte von E.H.« - »Kurzfristiger Erhalt verbaler, visueller, auditorischer und olfaktorischer Reize bei Amnesie« - »Kodierung, Aufbewahrung und Abruf von Informationen bei anterograder Amnesie«. Ihre Vorbereitung ist ein langwieriger, kollektiver Arbeitsprozess, der sich über Monate oder sogar Jahre hinziehen kann und den Milton Ferris als Projektleiter überwacht. Ohne sein Imprimatur kann selbstverständlich...
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Autor

Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport (New York) geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. 2019 wurde ihr der Jerusalem Prize verliehen. 2020 erhielt sie den renommierten Cino del Duca World Prize. Joyce Carol Oates lebt in Princeton (New Jersey), wo sie Literatur unterrichtet.Silvia Morawetz ist die Übersetzerin von u.a. Anne Sexton, James Kelman,Ali Smith, Paul Harding und Steven Bloom. Sie erhielt Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds, des Landes Baden-Württemberg und des Landes Niedersachsen.