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Wild Herbeigesehntes

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
336 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am21.02.2024
Wirklich berühmt wurde Urs Widmer mit seinem Spätwerk: ?Der blaue Siphon?, ?Der Geliebte der Mutter? oder ?Das Buch des Vaters? finden auch heute noch viele begeisterte Leserinnen und Leser. Aber da ist viel mehr, wie beim berühmten Eisberg schlummert auch beim Zeitzeugen Urs Widmer vieles unter der Oberfläche und wartet auf Erkundung. Seine frühen Erzählungen sind der beste Anfang: anarchische Freude daran, das Gebälk der Literatur knarzen zu lassen.mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR26,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR22,99

Produkt

KlappentextWirklich berühmt wurde Urs Widmer mit seinem Spätwerk: ?Der blaue Siphon?, ?Der Geliebte der Mutter? oder ?Das Buch des Vaters? finden auch heute noch viele begeisterte Leserinnen und Leser. Aber da ist viel mehr, wie beim berühmten Eisberg schlummert auch beim Zeitzeugen Urs Widmer vieles unter der Oberfläche und wartet auf Erkundung. Seine frühen Erzählungen sind der beste Anfang: anarchische Freude daran, das Gebälk der Literatur knarzen zu lassen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257614923
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Verlag
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum21.02.2024
Seiten336 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse900 Kbytes
Artikel-Nr.12644830
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Es wäre warm, und da, wo das Grau in das Blau überginge, würden die schroffen Felsenschründe in den Himmel ragen. Über den eisblauen Viertausendern stünde die klirrende Kälte. Was für eine Luft wehte! Welch ein Licht schiene! Die Bergvögel zögen ihre Kreise. Das Stoppelgras knirschte, während die letzten Kühe durch den Raureif stapfâten. Die Herbstzeitlosen wären vom Wind zerfetzt, das Alpenrosenkraut wäre brandrot, die Arven, die Föhren, die Tannen stünden. Welcher Wind wäre! Was für ein Frost herrschte! Über dem Bergbach läge die erste Eisschicht, die Bretterbrücke wäre eine plötzliche Lebensgefahr. Wie still es wäre! Die uralte Forelle, die unter dem Stein schwömme, dächte, ihr letzter Winter ist da. Die Schwalben hätten die jähe Ahnung, werden wir die ersten Opfer der kommenden Schneestürme sein? Der Saumweg käme aus dem tiefen Tal den kalten Berghang hoch, zur Kapelle, in deren Gitter die Aster steckte, durch den Wald mit den vermoosten Baumstrünken, durchs Tobel, über den Wasserfall, am Schlund vorbei, unterm Bergsturz durch, über die Schwebebrücke, die Felsleiter hinauf, den glitschigen Abgrund entlang, über die Gletscherzunge, durchs Geröll, die steile Hochalpenwiese hinauf. Da wären sie endlich! Sie kämen in ihrer Einerkolonne den Pfad vom Gletschersee herab. Wie kräftig pfiffen sie das Lied! Sie wären noch immer sechs, der mit der blauen Joppe, der Mürrische, der mit der vernarbten Nase, der Dicke, der mit den kräftigen Füßen, der ohne Bart. Wie sängen sie! Zwischen dem Dicken und dem mit den kräftigen Füßen wäre eine Art Lücke. Sie wären klein, sie hätten ihre Bärte, Kappen, Joppen und Schuhe. Wie sie aussähen! Sie würden die Pfade des Gebirges kennen, die da begännen, wo jeglicher menschliche Fuß zurückschaudert. Es gäbe keine Wegmarkierungen da oben. Die Kühe und Ziegen wären ihre Geheimnisse. Sie wüssten, wer das höchstgelegene Kornfeld hätte, in Wirklichkeit. Sie hätten die Hutten auf dem Rücken. Sie hüpfâten fast, ihre Bergbeine sprängen von Fels zu Fels. Sie hätten das Brennholz gesammelt. Summend kämen sie zum Haus. Wie es dastünde! Wie es aussähe! Es hätte kleine Fenster und kleine Türen, ein Steinplattendach, einen Balkon ohne Geländer, es wäre arvenbraun, schwarze Holzbalken ragten aus den Ecken. Es hätte einen Felskeller, in dem das Trockenfleisch und der Weißwein lagerten. Welch ein Blick über das Tal wäre! Tief unten wäre das Dorf mit den tanzenden Bauern.

Sie beträten das Haus durch die Holzküchentür. Sie stellten ihre Hutten ab, sie holten sich die Flaschen, sie gössen sich jeder ein Glas Rotwein ein. Wie gut er ihnen täte! Sie redeten. Der mit der blauen Joppe hätte eine dunkle Stimme, der Mürrische brummelte, der mit der vernarbten Nase hätte eine Stimme wie ein junges Mädchen, der Dicke lachte beim Reden, der mit den kräftigen Füßen redete durch die Nase. Der ohne Bart spräche leise.

Sie fachten ihr Holzfeuer an. Im kupfernen Kessel über dem Feuer hinge die Polenta. Es röche. Der Dicke wäre der Koch. Die Falter surrten um die Lampe. Sie säßen da und täten Karten spielen, sie lösten Kreuzworträtsel und Rebusse. Wie warm es wäre in der Küche! Wie der Wind draußen heulte! Sie dächten an die Urzeiten. Um ihre Bergschuhe wären Pfützen entstanden. Die Nebelbänke zögen tief unten vorbei. Die Krähen stürzten tot ins Tobel, die Eise bildeten sich, die Felsspalten bärsten, die Lawinen donnerten. Die Sonne näherte sich den Bergkämmen des Horizonts.

Der mit der blauen Joppe säße am Tisch am Fenster. Die Sonne schiene schräg auf sein Gesicht. Er hätte den Wurzelvermouth und die Knoblauchzehe vor sich. Sein Gesicht wäre rosa, sein Bart weiß. Sein Blick ginge aus dem Fenster, auf die Dohlen, auf die Föhren, auf die Schatten der Felsen. Was er dächte! Wie er träumte! Er dächte an den unbekannten Siebenten. Wie sähe er aus! Welch glitzernde Hosen er hätte! Wie groß er wäre! Welche Wörter er sagte! Der mit der dunklen Stimme nähme einen Schluck und einen Biss. Bis hinab zu den Nebelbänken rührte sich nichts. Die Wolken ballten sich dichter. Ja, der Siebente, dächte der mit der blauen Joppe, der stünde in seinem Großstadtzimmer, der hätte ein Hemd, eine Hose und Schuhe, in seinen Geschichten kämen D-Marks und Dollars vor. Aber in seinem Innern wüchse eine Ahnung, nämlich die, das Leben gehe an ihm vorbei, dächte der mit der dunklen Stimme. Er nähme einen Aperitifschluck. Er dächte, es wäre dem Siebenten, ein unsichtbarer Riesenvogel flöge durchs Zimmer, der kalte Hauch streifâte sein Gesicht. Mit heftigen Schritten stürzte er hinaus, er packte die Forscherschuhe und den Helm. Schon wäre er am Schiffssteg. Seufzend nähme der mit der blauen Joppe einen Schluck. Sein Blick ginge den Berg hinab. Hinten im Tal, wo die Staumauer wäre, bildeten sich die Regenwolken. Hier wäre noch die letzte Sonne. Der Mürrische und der mit der vernarbten Nase spielten ihre Schachpartie. Die Habichte flögen. Es wäre still. Auf dem Fensterbrett lägen die Versteinerungen und die Kristalle. Es wäre schon etwas, sich einmal einem dieser Vögel an die Beine zu hängen!

Der Wind rüttelte heftig an der Tür. Er heulte. In dem tiefen Tal läge die erste Dämmerung. Die Arven stünden schräg am Hang. Die Schatten der Wolken gingen über den Rübenacker. Der mit der dunklen Stimme nähme noch einen Schluck, diesmal einen heftigen. Welch ein Rumoren! Was für eine heiße Luft!

Da!, riefe er plötzlich. Alle sechs wären sie auf die Holzterrasse gerannt und starrten nach unten. Wie sie sich über die Augen wischten! Was für offene Münder sie hätten! Sie könnten es nicht glauben. Nur mechanisch tränken sie ihre Schlucke und bissen sie in die knoblaucherne Zeh. Ihr Blick hinge an dem, was da käme. Wer mag denn das sein, sagten die sechs zueinander, während sie den schwarzen großen Punkt nicht aus den Augen ließen. Insgeheim dächten sie alle, dass da endlich der Siebente käme.

Wie ihre Herzen klopfâten! Was für ein Zittern durch sie ginge!

Der Siebente stiege. Seine Beine schmerzten. Er wäre über die entfernte Industrieebene gekommen, über den ersten Berg, über die Steppe, durch das Sandtal, über das Hitzeplateau, den Bergkamm entlang, über den zweiten Berg, an der Wasserstelle vorbei, über den Schilfweg, über den dritten Berg, durch den Hohlweg, über die Schlingpflanzenbrücke, über den vierten Berg, durch den staubenden Kalk, über die Weide, über den fünfâten Berg, in die Klus, die Eiswand hoch, den Holzwasserleitungen entlang, über den sechsten Berg, über den siebenten Berg, ins Tal hinab, über den Talboden am Dorf mit den Häusern auf den Steinplattenpilzen vorbei, den Saumweg am kalten Berghang hoch, zur Kapelle, durch den Wald mit den vermoosten Baumstrünken, durchs Tobel, über den Wasserfall, am Schlund vorbei, unterm Bergsturz durch, über die Schwebebrücke, die Felsleiter hinauf, den glitschigen Abgrund entlang, über die Gletscherzunge, durchs Geröll, die steile Hochalpenwiese hinauf. Er bliebe schnaufend stehen. Er nähme sich die Kappe vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er sähe durch den Augenschleier am Berghang hoch, die tiefe Sonne blendete ihn, er keuchte und stellte den Rucksack beim stehenden Ausruhen auf einen Felsblock. Wie dünn die Luft wäre! Welche Wolken sein Atem machte! Noch nie wäre er so hoch gekommen. Hier wüchse das kurze dürre Gras, hier sprössen aus den Schneeflecken die kleinen Blumen. Ein eisiger Wind käme von den Bergkämmen herab. Die sechs, die er jetzt hoch oben als kleine schwarze Punkte sähe, schwenkten das Leintuch zur Begrüßung. Er winkte mit der Kappe. Die Dämmerung wäre da. Er sähe das Haus über sich nur noch undeutlich im Abenddunst, aber er erkennte, dass die sechs in gewaltigen leichten Sätzen bergab gerannt kämen. Sie riefen Sätze, die er nicht verstünde. Er bliebe stehen. Da wären sie. Sie lachten alle. Ein Luftzug striche über sie hinweg. Er würfe das Marschgepäck hin und zeigte ihnen die Mitbringsel aus dem Unterland. Sie hätten so etwas noch nie gesehen. Sie gingen los. Ganz automatisch nähme er den Platz zwischen dem Dicken und dem mit den kräftigen Füßen in der Einerkolonne ein, ganz von selbst pfiffe er den Beginn des Lieds. Wie es in ihm rumorte! Wie es klänge, zusammen mit den sechs andern Stimmen! Sie gingen bergauf. Er sähe die Kühe. Er schritte ganz leicht, entgegen jeder Regel lachte und spräche er beim Hochstieg. Wie viel würde ihm einfallen! Er spräche vom Schwimmen, vom Bergsteigen, von den Wettrennen, den Zehenkämpfen, den Holzbetten, dem Eisenbahnfahren, dem Abseilen, den Höhlen etc. Es wäre jetzt dunkel. Was freute er sich auf das Festessen! Er sähe die Kappen vor sich als schwarze Schatten gegen den Sternenhimmel. Er hörte das Geräusch der Lederschuhe. Sie pfiffen nicht mehr, aber sie wären schnell. Er sähe das Licht des Hauses über sich. Dann wäre es verschwunden. Die Farben der Joppen der sechs wären nicht mehr zu erkennen, aber er könnte sie sich vorstellen. Was hätten sie sich zu erzählen! Er sähe die Schatten der Tannen. Sein Fuß stieße an die unsichtbaren Felsbrocken. Die andern machten kaum Geräusche. Sie schwiegen jetzt mit ihren merkwürdigen Stimmen. Auf der Bretterbrücke merkte er, dass unter ihm der Abgrund wäre, aber es ginge gut. Er hörte, dass der Dicke zu dem mit den kräftigen Füßen etwas sagte. Er keuchte, denn sie gingen schneller. Er hielte das Tempo. Wie gesund sie wären! Wie sie sich auskennten in ihren Alpen! Das Eis knirschte unter seinen Nagelschuhen. Er spürte beim Ausglitt die Fäuste des Dicken und dessen mit den kräftigen Füßen...
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