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Kristina, vergiss nicht

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Arena Verlag GmbHerschienen am01.07.2012

Produkt

Details
Weitere ISBN/GTIN9783401801100
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum01.07.2012
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1230444
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1

»Sie werden dich doch wieder abwimmeln, Großmutter«, sagte Kristina.

»Abweisen.« Großmutter achtete streng darauf, dass keine Abweichungen von der Hochsprache vorkamen. Sie liebte überhaupt keinerlei Abweichungen. Sorgfältig breitete sie die Antragsformulare auf dem Tisch aus. Viele Bögen hatte sie mit ihrer kleinen, zierlichen Schrift bedeckt.

»Lies die Anträge, Kristina«, sagte die Großmutter. »Es darf kein Fehler darin sein.«

Das Mädchen hockte sich auf die Bank hinter dem Tisch. Schon wieder dieser Mist, dachte sie.

»Du weißt genau, dass du keine Fehler schreibst, Großmutter.«

»Ich bin alt, Kristina. Eine fremde Sprache bleibt fremd.«

»Fremde Sprache! Seit dreißig Jahren hörst du polnisch, liest du polnisch, schreibst polnisch an die Behörden und sprichst oft genug polnisch.«

»Es bleibt polnisch«, beharrte die Großmutter.

»Für mich ist Polnisch keine fremde Sprache. Es ist meine Sprache.«

»Rede nicht dumm, Kind. Dein erstes Wort, das du vor fünfzehn Jahren gesprochen hast, war: Mama. Und das ist deutsch!«

»Und die Nachbarn, die Schule, meine Freundinnen!«

Die Großmutter presste die Lippen gegeneinander und schwieg. Kristina wusste, wo die Großmutter verwundbar war. »Und Janec?«, fügte sie hinzu.

»Du sollst ihn nicht Janec nennen! Es sind die Umstände in diesem Land, die den Jungen so machen. Hans wird schon gutes Deutsch sprechen, wenn wir erst drüben sind.«

Kristina wusste, dass sie nicht daran vorbeikam, die Formulare wieder einmal zu lesen. Sie kannte die Fragen und Antworten längst auswendig. Achtmal schon waren Großmutters Anträge auf eine Ausreisegenehmigung aus Polen abgelehnt worden. Allein im vergangenen Jahr 1969 hatte sie all die Formulare dreimal abgeschickt und dreimal hatte es »nein« geheißen. Warum sollte es 1970 gelingen? Sinnlose Arbeit.

Kristinas ganze Kindheit hatte unter der Überschrift gestanden: Wenn wir erst drüben sind. Alles war vorläufig. »Vorläufig musst du eben hier in die Schule gehen.« - »Vorläufig fragen wir die Jablonska, ob sie dir Flötenunterricht gibt.« - »Vorläufig werden wir diese Wohnung beziehen.« Diese Wohnung! Kristina schlief mit der Großmutter zusammen in einem kleinen Zimmer - vorläufig. Das Licht fiel durch ein winziges Fenster auf einen altersschwachen Kleiderschrank. Ihr Metallbett stand in der dunklen Ecke an der Wand, dem Eichenbett der Großmutter gegenüber. Auf der Kommode mit der gesprungenen Marmorplatte hatte zwar eine irdene Waschschüssel ihren Platz, aber sie wuschen sich - vorläufig - in der Küche, weil auf dem gewaltigen Herd ein Kessel mit heißem Wasser wenigstens einen Hauch von Luxus bot.

Großmutters Lieblingsplatz war der rötlich schimmernde Holzsessel zwischen Tisch und Herd. Kristina hockte meist auf der Bank hinter dem Tisch. Die weiß gescheuerte Herdplatte war groß genug, um Hefte, Bücher, Atlas und Zeichenpapier darauf zu verteilen. Sie hatte das alles gern griffbereit, wenn sie mit den Arbeiten für die Schule begann. Sie hätte auch die Sekretärplatte des schmalen Fichtenschrankes herunterklappen können, aber das sah Großmutter nicht gern. Dort war Großvaters Platz gewesen. In den meisten der vierzehn winzigen Schubladen lagen noch immer Rädchen, Federn, Bolzen, Gläser, Uhrengehäuse.

»Lass sie vorläufig darin«, sagte Großmutter jedes Mal, wenn die Rede darauf kam.

Das einzig wirklich unpassende Möbelstück war das Klavier. Schwarz und feierlich füllte es beinahe die gesamte Fensternische. Früher, als Mutter noch im Hause wohnte, wurde gelegentlich darauf gespielt. »Wir lassen es vorläufig hier stehen.« Diese zermürbende Vorläufigkeit.

Nichts war endgültig, nichts sicher.

Blatt um Blatt des Antrags sah Kristina durch. Keinen Fehler fand sie. Manchmal war Großmutters Ausdrucksweise ungewöhnlich. »Würden Sie die Güte haben . . .« Wer schreibt so etwas heute noch?

Die Großmutter öffnete die Tür, die aus der Küche hinab in den Keller führte.

»Was willst du im Keller, Großmutter? Hat Jan dir kein Holz heraufgeholt?«

»Doch, Kristina. Ich muss etwas suchen.«

Großmutter stieg langsam die steile Stiege hinunter. Wolf, der große Hund, der faul auf seiner Decke gedöst hatte, sprang auf, reckte sich, gähnte und zeigte sein starkes Gebiss. Er neigte seinen Kopf tief in das Kellerloch und sog die Witterung ein. Seine spitzen Ohren spielten und seine gelbgrünlichen Augen versuchten das Dämmerlicht des ihm unbekannten Kellers zu durchdringen. Er war nur wenig kleiner als ein Schäferhund, aber breiter in der Brust und der Schädel war flacher. Großmutter behauptete, er trage seinen Namen Wolf nicht zu Unrecht. Ein Schuss Wolfsblut sei unverkennbar.

Kristina legte gerade das letzte Blatt auf den Tisch, als Großmutter endlich wieder heraufkam. Sie trug ein flaches Holzkästchen in der Hand. Sorgfältig wischte sie es mit dem Staubtuch sauber.

»Was ist das?«, fragte Kristina. Sie sah das Kästchen zum ersten Male.

»Wart es ab«, sagte die Großmutter.

Sie setzte sich zu Kristina und versuchte den Schiebedeckel aufzuziehen. Die Kellerfeuchtigkeit hatte das Holz quellen lassen. Erst als Kristina ihr half, ließ sich der Deckel ruckweise öffnen.

Kleine Gegenstände lagen darin, eingeschlagen in fettgetränkte Stofffetzen. Die Großmutter wickelte vorsichtig winziges Metallwerkzeug aus und legte es auf den Tisch. Eine Lupe, ein Satz streichholzlanger Schraubenzieher, eine kleine Mikrometerschraube. Aber erst der ein wenig größeren Schieblehre, die auf dem Boden des Kästchens lag, schenkte Großmutter ihre Aufmerksamkeit. Sie versuchte die Messzangen auseinander zu ziehen. Mühelos glitt Stahl über Stahl. Die dicke Fettschicht hatte jeden Rostansatz verhindert.

»Was willst du mit dem Zeug?«

»Zeug? Das sind Großvaters Instrumente.«

»Ich denke, alles sei in den letzten Kriegswochen verloren gegangen?«

»Stimmt. Unser Haus ist zerschossen worden, damals, 1944. Wenn dein Großvater nicht so dickköpfig gewesen wäre, hätten wir den elenden Trümmerhaufen nie wieder gesehen. Ich wollte früh genug in den Westen. Wir hätten es machen sollen wie unsere Verwandten, die Bienmanns aus Ostpreußen, wie Johannes und Agnes. Aber dein Großvater war störrisch wie ein Schafbock. Er konnte seine Werkstatt, sein Haus nicht aufgeben. Bis uns dann die deutschen Soldaten zwangen den Ort zu verlassen. Es war zu spät. Die Front überrollte uns wenige Stunden später. Wir wurden von den Russen zurückgetrieben. Ins Elend wurden wir zurückgetrieben. Bekamen heimgezahlt, was dieser Hitler, was dieser Krieg angerichtet hat. Wir konnten froh sein, dass wir das nackte Leben retteten.

Unser Haus war ein Trümmerhaufen. Nur der Schornstein ragte hoch und oben im ersten Stock hing an der Installation noch die grüne, gusseiserne Badewanne, und der Wind schlug sie wie einen riesigen Gong gegen den Schornstein.

Großvater hat irgendwo eine Schaufel aufgelesen und eine Hacke und hat den Schuttberg durchwühlt. Tatsächlich fand er diese Werkzeuge. Er konnte wieder Uhren reparieren. Damit haben wir uns über die erste schwere Zeit hinweggeholfen.«

Großmutter blickte starr auf die Wand über dem gusseisernen Herd. Jedes Mal, wenn sie von früher erzählte, dann wurden ihre mausgrauen Augen groß und rund und schienen alles das genau zu sehen, wovon sie berichtete. Wäre Großmutters weißgraues Haar nicht gewesen, es wäre jedem schwer gefallen ihr mehr als fünfzig, fünfundfünfzig Jahre zuzutrauen. Ihre Haut spannte sich straff über den schmalen Jochbeinen, dünne Fältchen spielten um Augen und Mund, ihre kräftigen, dunklen Brauen, schmale, meist fest aufeinander gepresste Lippen, ihre zielbewussten, flinken Bewegungen, alles ließ erkennen: Großmutter wusste, was sie wollte.

Kristina hatte heute keine Lust, Großmutters alte Geschichten zu hören. Basia wollte diesen Nachmittag kommen. Kristina dachte daran, dass sie vorher noch flöten musste. Sie unterbrach Großmutter und fragte: »Und was willst du jetzt mit dem Zeug?«

»Werkzeug bitte«, sagte die Großmutter. Aber auf Kristinas Frage antwortete sie nicht. Sie wischte sorgfältig das Fett von der Schieblehre und wusch sich die Hände.

Kristina rückte den Notenständer an das Fenster und griff nach der Flöte. Wolf, der die ganze Zeit über neugierig das Kästchen und die Werkzeuge beschnüffelt hatte, verkroch sich. Kristinas Flöten schätzte er nicht. Er legte sich, wenn sie nur den Notenständer anfasste, in der entferntesten Zimmerecke auf den Boden, den Kopf zwischen den Pfoten, und schaute sie mit einem beleidigt-traurigen Blick an, ließ sich auch während der ganzen Zeit ihres Spiels nicht aus seiner Ecke locken und kam erst wieder hervor, sobald sie die Stoffhülle über ihren Flötenkasten streifte.

Großmutter suchte aus dem Stapel der Formulare den Umschlag mit den Passfotos heraus. Jedes einzelne maß sie mit der Schieblehre nach. Als Kristina ihre halbe Stunde geübt hatte und endlich die übliche Schlussmelodie spielte, war Großmutter noch immer dabei, mit Großvaters altem Rasiermesser winzige, sich ringelnde Millimeterstreifen von den Fotos abzuschneiden.

»Warum tust du das?«, fragte Kristina.

»Sie haben die Donatkas vor ein paar Tagen aus dem Amt weggeschickt. Alles sei in Ordnung, haben sie gesagt. Nur die Passbilder hätten nicht das vorgeschriebene Maß.«

Ein schriller Pfiff gellte von der Straße herauf. Wolf blaffte kurz. Kristina stand...


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Autor

Willi Fährmann wurde am 18. Dezember 1929 in Duisburg geboren. Nach einer Maurerlehre entschloss er sich zum Besuch des Abendgymnasiums und studierte nach erfolgreichem Abschluss an den Pädagogischen Hochschulen in Oberhausen und Münster. Seit 1988 widmet sich der Schulamtsdirektor a. D. und freie Autor ganz dem Schreiben. Fährmann ist in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen und war lange Zeit in der Katholischen Jugendbewegung aktiv. Zum Schreiben ist er, wie er selbst sagt, eindeutig über das Erzählen gekommen. Sein Vater, der ihm als Kind schon früh fast täglich vorlas und die Großmutter - eine Meisterin des Erzählens - prägten seine Entwicklung. 1956 erschien sein erster Roman, "Kraniche - Kurs Süd", dessen Grundthema in dem 1997 veröffentlichten Werk "Unter der Asche die Glut" wiederkehrt. In seinen Büchern behandelt Fährmann in realistischer Weise Themen wie etwa Vertreibung, Antisemitismus oder das Schicksal von Spätaussiedlern. Besondere Beachtung erfuhren und erfahren seine vierbändige "Bienmann-Saga" sowie der aus drei Titeln bestehende Romanzyklus mit der Figur des Christian Fink. Willi Fährmann wurde mit zahlreichen literarischen Auszeichnungen geehrt, darunter der deutsche Jugendliteraturpreis, der Katholische Kinder- und Jugendbuchpreis, der Österreichische Staatspreis für Jugendliteratur. Mehrere Bücher standen auf der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Übersetzungsrechte wurden an Verlage weltweit vergeben. Für sein Gesamtwerk erhielt der Autor 1978 den großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Er starb 2017 in seiner Heimatstadt Xanten am Niederrhein.