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Spiegelriss

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Arena Verlag GmbHerschienen am10.01.2013
Provokant, schonungslos, stark: Der neue Jugendroman von Alina Bronsky. Wie viel Zerstörung erträgt eine Gesellschaft, eine Familie, ein junger Mensch? Sie sagen, der Wald ist verboten Sie fürchten, er rückt immer näher Aber du tust alles, um hineinzukommen Sie nennen sich das Rudel und keiner traut dem anderen. Doch Juli ist froh, dass die abgerissenen Gestalten, die am Rand der Normalität leben, sie überhaupt aufgenommen haben. Nachdem ihr der Zugang zur Welt der Pheen verwehrt wird, hat sie keine Heimat mehr. Schlimmer noch, innerhalb der Normalität wird sie als letzte lebende Phee und gefährliche Mörderin gejagt. Verzweifelt versucht Juli, die Brücken zu ihrem früheren Leben wiederherzustellen. Doch bald muss sie erkennen, dass die Freunde von einst zu Feinden geworden sind und Verrat in der neuen Welt an der Tagesordnung ist.

Alina Bronsky, Jahrgang 1978, war Medizinstudentin, Werbetexterin und Redakteurin bei einer Tageszeitung, bis sie eines Tages ein Manuskript an drei Verlage schickte und auf Anhieb die Zusage bekam. Ihr Debüt 'Scherbenpark' gehörte zu den meist beachteten Debüts des Jahres 2008, wurde für diverse Preise nominiert, darunter den Deutschen Jugendliteraturpreis, und für das Kino verfilmt. Ihr zweiter Roman 'Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche' stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Die Rechte an Bronskys Romanen wurden in mehr als 15 Länder verkauft, sie erscheinen unter anderem in den USA und Italien. 'Spiegelkind' und 'Spiegelriss' bezeichnet Alina Bronsky als ihre bisher persönlichsten Bücher. Foto © Bettina Fürst-Fastré
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Produkt

KlappentextProvokant, schonungslos, stark: Der neue Jugendroman von Alina Bronsky. Wie viel Zerstörung erträgt eine Gesellschaft, eine Familie, ein junger Mensch? Sie sagen, der Wald ist verboten Sie fürchten, er rückt immer näher Aber du tust alles, um hineinzukommen Sie nennen sich das Rudel und keiner traut dem anderen. Doch Juli ist froh, dass die abgerissenen Gestalten, die am Rand der Normalität leben, sie überhaupt aufgenommen haben. Nachdem ihr der Zugang zur Welt der Pheen verwehrt wird, hat sie keine Heimat mehr. Schlimmer noch, innerhalb der Normalität wird sie als letzte lebende Phee und gefährliche Mörderin gejagt. Verzweifelt versucht Juli, die Brücken zu ihrem früheren Leben wiederherzustellen. Doch bald muss sie erkennen, dass die Freunde von einst zu Feinden geworden sind und Verrat in der neuen Welt an der Tagesordnung ist.

Alina Bronsky, Jahrgang 1978, war Medizinstudentin, Werbetexterin und Redakteurin bei einer Tageszeitung, bis sie eines Tages ein Manuskript an drei Verlage schickte und auf Anhieb die Zusage bekam. Ihr Debüt 'Scherbenpark' gehörte zu den meist beachteten Debüts des Jahres 2008, wurde für diverse Preise nominiert, darunter den Deutschen Jugendliteraturpreis, und für das Kino verfilmt. Ihr zweiter Roman 'Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche' stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Die Rechte an Bronskys Romanen wurden in mehr als 15 Länder verkauft, sie erscheinen unter anderem in den USA und Italien. 'Spiegelkind' und 'Spiegelriss' bezeichnet Alina Bronsky als ihre bisher persönlichsten Bücher. Foto © Bettina Fürst-Fastré
Details
Weitere ISBN/GTIN9783401801964
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum10.01.2013
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1239539
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Babyfuß

Ich sehe das Feuer nicht, aber ich spüre seine Nähe.

Das Rudel hat sich um die Feuerstelle versammelt. Ich halte mich abseits, ich mag keine Ellbogen an meinen Rippen und keine Füße in meinem Gesicht. Ich will nicht, dass jemand mir seinen Kopf auf die Schulter oder auf die Oberschenkel legt, wie es hier alle tun, um sich aneinander zu wärmen. Tief in mir drin weiß ich, dass es vielleicht langsam ganz gut wäre, wenn ich näher an die anderen rücken, mich geselliger und aufgeschlossener zeigen würde. Aber ich kann das nicht.

Mehr als einmal habe ich schon ein verächtliches Zischen hinter meinem Rücken gehört - dass ich seltsam und eingebildet sei. Dabei gibt es nichts, worauf ich mir etwas einbilden könnte. Niemand hier ist so hilflos und unwissend wie ich. Ich bin dem Rudel dankbar dafür, dass es mich aufgenommen hat. Ohne sie alle wäre ich längst verhungert und erfroren. Aber ich kann mich auch nach Monaten noch nicht dazu überwinden, so zu tun, als wäre ich eine von ihnen.

Ich liege zusammengerollt auf der Seite, die Knie berühren das Kinn, meine Arme sind um meine Beine geschlungen. Ich höre das Knacken des Brennholzes, der Wind weht den Rauch zu mir rüber.

Es ist Nacht. Das Rudel ist hungrig. Das ist immer so. Mit leerem Magen kann man schwer einschlafen, deswegen versuchen alle, sich mit Gruselgeschichten von der Leere im Bauch abzulenken. Abwechselnd schrauben sich Stimmen hoch, erkämpfen sich das Rederecht, das sie dann mit blutrünstigen Details verteidigen. Wenn die Spannung nachlässt, wird sofort gemeutert und der abgewürgte Erzähler muss dem nächsten Platz machen.

»Und dann beschlossen die Pheen, sich an der Normalität zu rächen.«

Ich lege mir die Hand aufs Ohr, kriege aber trotzdem die Stimme mit, die der Wind zusammen mit dem Rauch von der Feuerstelle zu mir rüberweht. Ich kann das alles nicht mehr hören. Fast alle Gruselgeschichten drehen sich um Pheen. Wenn ich nicht so hungrig und durchgefroren wäre, hätte ich vielleicht noch die Kraft gefunden, darüber zu grinsen. Die Ängste der anderen kommen mir albern vor. Sie wissen nicht, woher der eigentliche Schrecken kommt. Wenn sie wüssten, wo ich bis vor Kurzem noch gewesen bin, würden sie mich garantiert mit etwas mehr Interesse ansehen.

»Uuuuuuhhhh«, kommt es in einem vielstimmigen Chor. »Nicht immer das Gleiche.«

Genau, denke ich, drücke die Hand fester auf die Ohrmuschel. Obwohl ich meine Finger schon kaum spüre, scheint das Ohr noch viel kälter zu sein, jedenfalls fühlt es sich an, als würde es gar nicht zu mir gehören.

»Es ist überhaupt nicht das Gleiche«, verteidigt sich der heisere Erzähler, den ich nicht sehen kann.

Ich nehme die Hand von meinem Ohr und drehe mich auf die andere Seite. In der Geschichte, die gestern erzählt wurde, haben die Pheen normalen Männern die Herzen geklaut und gegessen. Das kam gut an: Das Rudel lauschte konzentriert wie nie. Ich hatte mein Gesicht versteckt, damit niemand die Grimassen mitbekam, die ich mir nicht verkneifen konnte. In der Geschichte von vorgestern ging es darum, wie die Pheen den Männern Küchenschaben ins rechte Ohr pflanzen. Die merke man dann am Kribbeln im Kopf, erzählte die dünne Stimme und schwor, es von der eigenen Großmutter gehört zu haben, die es persönlich beobachtet habe. Die Küchenschaben würden sich vermehren, das Regiment übernehmen über den Körper und den Normalen von innen auffressen. Bleibt nur die Hülle übrig, verlassen sie den Körper durch den Mund.

Ich musste kurz würgen, während die anderen zustimmend nickten und sagten, so etwas hätten sie schon gesehen: tote Leute, denen etwas aus dem Mund kroch.

»Die Pheen hassen die Normalen«, sagt jetzt eine piepsige Stimme ganz nah bei mir. »Deswegen klauen sie ihnen ihre Seelen.«

»Die Normalen hassen die Pheen«, korrigiert jemand von links.

»Klappe!«, schreien einige andere. Sie wollen nun doch weiter hören, wie genau sich die Pheen an der Normalität rächen wollten.

Der Erzähler fährt also fort.

»Sie wollen sich für das Dementio rächen. Für ihre Schwester, die dort eingesperrt wurde und nie wieder herauskam.« Die Stimme wird kraftvoller und geschmeidiger. Entweder der Erzähler ist noch nicht lange dabei oder er raucht weniger Spot als die anderen.

»Das Dementio ist eine alte Idee, so alt wie die Normalität. Damals wusste niemand davon, es war sehr geheim. Die Normalen bauten es und sicherten es mit Stacheldraht, bewaffneten Soldaten und abgerichteten Hunden. Alle Pheen sollten dahin kommen. Aber die Pheen spürten die Gefahr und zogen sich in den Wald zurück. Nur eine einzige, sehr junge Phee wurde gefangen und ins Dementio gebracht. Sie war unerfahren und leichtsinnig und hatte vor nichts Angst. Und sie erwartete ein Kind. Vielleicht war es das, was die Phee so anfällig machte. Ein riesiges, großes, bewachtes Dementio für eine einzige, junge, schwangere Phee.

Die Nachbarn erzählten damals, dass sie das Weinen und Schreien der Phee nächtelang hörten. Sie kratzte an den Wänden und trommelte gegen die Fenster, bis man sie fesselte und knebelte, damit sie endlich still war. Trotzdem gelang es ihr, auch mit Knebel im Mund so laut zu sein, dass es den Nachbarn durch Mark und Bein ging. Selbst wenn sie sich die Ohren zuhielten, hörten sie die anklagende Stimme der jungen Phee, die sie wütend verfluchte.

Mein Kind wird euch zerstören, an seinen Flügeln werdet ihr es erkennen, hörten sie - es vibrierte nicht nur in ihren Ohren, sondern in ihrem ganzen Körper, ging ihnen unter die Haut, durch Mark und Bein.

Für einen Augenblick vergesse ich, wo ich bin. Ich spüre nicht mehr die kalte Erde unter mir, ich richte mich auf und versuche zu erkennen, wer da gerade erzählt, aber er ist verborgen in dem dichten Ring aus aneinandergedrückten Rücken und Gliedmaßen. Das Feuer knistert und das Rudel hält die Luft an.

Ich lege mir die Hand auf die Brust. Mein Herz schlägt so schnell, ich habe Angst, dass es mir gleich aus der Brust springt und davonhüpft.

Früher weckte mich der Juckreiz auf meinen Schulterblättern. Jetzt wache ich auf, weil meine Füße frieren. Das unterscheidet mich von den anderen in unserem Rudel: Alle scheinen sich an die nächtliche Kälte längst gewöhnt zu haben. Sie tragen nicht mehr am Leib als ich, übergroße Jacken aus den Müllcontainern über zerschlissenen Pullovern, abgerissene Ärmel unbrauchbar gewordener Hemden um die Beine gewickelt. Die Haut ihrer Sohlen ist bereits braun und hart, während meine unter der Schmutzschicht noch rosa und leider immer noch sehr empfindlich ist. Als hätte ich gerade erst meine Lederschuhe ausgezogen, von denen ich früher mehrere identische Paare im Schrank stehen hatte, natürlich blank poliert.

Nicht zufällig werden die Neulinge hier auch so genannt - Babyfüße. Ich bin ein Babyfuß, das heißt, ich bekomme als Letzte zu essen und kriege öfter als andere einen Ellbogen in die Magengrube, manchmal gönnerhaft, öfter rüpelhaft-gehässig. Sie erklären mir die Welt und ich höre zu. Ich brauche dieses Rudel, denn allein wäre ich längst verloren. Also nicke ich, stelle dumme Fragen, ziehe meine blau angelaufenen Zehen ein, kratze mit den schmutzigen, langen Nägeln an den Narben auf meinem Rücken herum.

Wegen meiner Ticks gelte ich als durchgeknallt, aber das wundert hier niemanden. Aus der Normalität herauszufallen, verursacht einen mittleren Dachschaden; manchmal ist es auch genau umgekehrt, der Dachschaden führt den Absturz herbei. Mein Schweigen über meine Vorgeschichte, meine Weigerung, mein Gesicht zu waschen, meine Unbeholfenheit in praktischen Dingen - das ist, so komisch es auch klingt, in meiner Situation das Normalste der Welt. Der Schmutz in meinem Gesicht ist mein wichtigster Schutz: Niemand aus meinem früheren Leben würde mich jetzt wiedererkennen. Ich bin ein Babyfuß ohne Namen. Mir ist es recht, als Babyfuß angesprochen zu werden, denn mein richtiger Name würde mich umbringen.

Es kommt selten vor, dass wir alle zusammen durch die Straßen ziehen. Immerhin sind wir, wenn das Rudel komplett ist, fast zwei Dutzend unterschiedlich gestörte, aber gleichermaßen zerlumpte Wesen. Weit würden wir zusammen nicht kommen. Mehr als drei Jugendliche, die gemeinsam unterwegs sind, gelten der Normalität als verdächtig, insbesondere dann, wenn es sich um Jugendliche mit fleckigen Gesichtern und vor Schmutz steifen Haaren in allen Regenbogenfarben handelt. Ich weiß nicht einmal genau, wer in unserem Rudel Mädchen und wer Junge ist. Ich verberge mein Gesicht, aber genauso wenig versuche ich, anderen in die Augen zu schauen und mir ihre Gesichtszüge zu merken.

Was sich dagegen nicht vermeiden lässt, sind die Stimmen, die sich einbrennen. Heiser sind fast alle, vor Kälte und Spot, aber trotzdem kann ich das Krächzen der Krähe vom hysterischen Geschrei der Hyäne unterscheiden, den Husten des Kojoten vom Kläffen des Feneks. Mir gefallen die Tiernamen in meinem Rudel, aber ich habe mir noch keinen eigenen verdient. Ich bleibe ein Babyfuß ohne Namen und ich muss dankbar sein, dass man mich durchfüttert, obwohl ich bis jetzt nicht wirklich von Nutzen war.

Meine Aufgabe ist denkbar einfach: rumzulaufen und möglichst unauffällig nach Essen zu suchen. Das Rudel nennt es Futter. Ich nenne es Abfall, aber ich habe gelernt, mein Gesicht dabei nicht mehr so angewidert zu verziehen. Früher, kichert die Hyäne abends am Feuer, war es einfacher. Überhaupt war alles einfacher. Man konnte in den Mülltonnen vor den Restaurants wühlen....


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Autor

Alina Bronsky, Jahrgang 1978, war Medizinstudentin, Werbetexterin und Redakteurin bei einer Tageszeitung, bis sie eines Tages ein Manuskript an drei Verlage schickte und auf Anhieb die Zusage bekam. Ihr Debüt "Scherbenpark" gehörte zu den meist beachteten Debüts des Jahres 2008, wurde für diverse Preise nominiert, darunter den Deutschen Jugendliteraturpreis, und für das Kino verfilmt. Ihr zweiter Roman "Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche" stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Die Rechte an Bronskys Romanen wurden in mehr als 15 Länder verkauft, sie erscheinen unter anderem in den USA und Italien. "Spiegelkind" und "Spiegelriss" bezeichnet Alina Bronsky als ihre bisher persönlichsten Bücher.Foto © Bettina Fürst-Fastré