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Das Nachtfräuleinspiel

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
dtv Verlagsgesellschafterschienen am22.06.20181. Auflage
Die dunklen Seiten einer nur scheinbar perfekten Familie Ihr Unbehagen hatte einzig und allein mit dem Anruf zu tun, den sie gestern Abend erhalten hatte. Und mit den Geistern, die dadurch ins Haus gewitscht waren. Warum hatte sie überhaupt den Hörer abgenommen?   Liane van der Berg kann auf ein erfolgreiches Leben blicken: Sie gilt als eine der führenden Erziehungsexpertinnen des Landes, ist seit Jahrzehnten glücklich verheiratet und hat wunderbare Kinder. Doch ist Lianes Leben wirklich so perfekt? Ein verstörender Anruf und ein Brief voll gut verborgen geglaubter Geheimnisse bringt alles in Wanken. Und auf einmal ist er wieder da, jener Ostermontag 1968, an dem alles begann ...   Kennen Sie bereits die weiteren Romane von Anja Jonuleit bei dtv? »Der Apfelsammler« »Novemberasche« »Rabenfrauen« »Herbstvergessene« »Die fremde Tochter« »Das letzte Bild«  

Anja Jonuleit wurde in Bonn geboren. Sie arbeitete als Übersetzerin und Dolmetscherin, bis sie anfing, Romane und Geschichten zu schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie nahe Friedrichshafen.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextDie dunklen Seiten einer nur scheinbar perfekten Familie Ihr Unbehagen hatte einzig und allein mit dem Anruf zu tun, den sie gestern Abend erhalten hatte. Und mit den Geistern, die dadurch ins Haus gewitscht waren. Warum hatte sie überhaupt den Hörer abgenommen?   Liane van der Berg kann auf ein erfolgreiches Leben blicken: Sie gilt als eine der führenden Erziehungsexpertinnen des Landes, ist seit Jahrzehnten glücklich verheiratet und hat wunderbare Kinder. Doch ist Lianes Leben wirklich so perfekt? Ein verstörender Anruf und ein Brief voll gut verborgen geglaubter Geheimnisse bringt alles in Wanken. Und auf einmal ist er wieder da, jener Ostermontag 1968, an dem alles begann ...   Kennen Sie bereits die weiteren Romane von Anja Jonuleit bei dtv? »Der Apfelsammler« »Novemberasche« »Rabenfrauen« »Herbstvergessene« »Die fremde Tochter« »Das letzte Bild«  

Anja Jonuleit wurde in Bonn geboren. Sie arbeitete als Übersetzerin und Dolmetscherin, bis sie anfing, Romane und Geschichten zu schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie nahe Friedrichshafen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783423433884
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum22.06.2018
Auflage1. Auflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1567 Kbytes
IllustrationenFormat: EPUB
Artikel-Nr.2530822
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Teil I




Eine Mutter hat viele Kinder, die schlafen.



Liane van der Berg, Donnerstag, 6. April 2017


Liane van der Berg verbrachte die halbe Nacht lesend. Das war nichts, was sie sich selbst ausgesucht hatte, sondern ein Phänomen, mit dem man es in ihrem Alter eben zu tun bekam. Mit bald 69 war der Schlaf wie ein verzärteltes Gör, das sich schon beim ersten scharfen Ton in sein Schneckenhaus zurückzog und dort für den Rest der Nacht blieb. Verfluchter Lauf des Lebens. Sie hatte sich vor dem Schnarchkonzert ihres Mannes in Gesines altes Zimmer zurückgezogen, das nun als Gästezimmer diente, aber auch das hatte nichts genützt. Zwar war es hier im Zimmer still, aber dafür hörte sie das Geräusch des Windes nun umso lauter. Er ließ das Gerüst rings ums Haus ächzen und knacken, was für Liane fast so klang, als schliche draußen jemand herum und lauere nur darauf, dass sie das Licht löschte, um ins Haus einzudringen. Es war ihr durchaus bewusst, wie unsinnig diese Vorstellung war. Ihr Unbehagen hatte einzig und allein mit dem Anruf zu tun, den sie gestern Abend erhalten hatte. Und mit den Geistern, die dadurch ins Haus gewitscht waren. Warum hatte sie überhaupt den Hörer abgenommen? Sie wusste doch, dass Telefonate so spät am Abend sie nur aufwühlten! Und auch wenn dieses hier nur ein paar Minuten gedauert hatte, so hatte es doch ein schwindelerregendes Gedankenkarussell in Gang gesetzt, das Liane die ganze Nacht über nicht stoppen konnte.

Er habe da einen eigenartigen Brief bekommen, hatte ihr Sohn Matthias in irgendwie misstrauischem Ton gesagt. »Ein ziemlich kryptisches Geschreibsel, in dem du als seit 1968 tätige Familienzerstörerin bezeichnet wirst. Ach, was weiß ich, ich werf den Brief bei dir ein, dann kannst du ihn dir selbst ansehen.«

Nachdem Matthias aufgelegt hatte, war Liane mit dem Telefon in der Hand sitzen geblieben. Erst als ihre Füße eiskalt geworden waren, hatte sie sich daran erinnert, dass sie, als der Anruf kam, eigentlich auf dem Weg in die Badewanne gewesen war. Seit 1968? Was für eine seltsame Anspielung. So viel Zeit war inzwischen vergangen, so viele Jahre, in denen sie nie mehr an damals gedacht hatte. Doch jetzt hatte ihr ein einziges Telefonat klargemacht, dass nichts vergangen war, dass alles noch irgendwo existierte. Konserviert wie die Büchsenpfirsiche, dieses tote Zeug, das Carl sich während des Studiums immer einverleibt hatte. Aber vielleicht hatte dieser ominöse Brief ja auch gar nichts damit zu tun. Sie durfte nicht immer gleich das Schlimmste annehmen. Vielleicht stammte dieser Unfug nur von einem harmlosen Spinner, der den Artikel im Stern gelesen hatte. Darin war nämlich auch von ihrer Zeit in der Kommune die Rede gewesen. Solche Anwürfe von Unbekannten hatte sie schon öfter erlebt. Immerhin war sie eine Person des öffentlichen Lebens. Wer kannte sie nicht, die Familienretterin, die Super-Granny mit dem großen Herzen, die seit zehn Jahren die Erziehungsprobleme anderer Leute löste. Selbst diejenigen, die ihre Sendung nicht anschauten, wussten zumindest, wer sie war.

Nach dem Telefonat war sie aufgestanden und ins Bad gegangen, um die Temperatur des Badewassers zu prüfen, aber das Wasser war immer noch zu heiß gewesen. Seitdem Matthias ihnen diesen Kollektor aufs Dach hatte montieren lassen, kam das Wasser siedend heiß aus der Leitung, zumindest an sonnigen Tagen. Sie hatte etwas kaltes Wasser dazulaufen lassen und war in die Wanne gestiegen, doch die Gedanken an den Brief hatte sie nicht abschütteln können.

Jetzt, als sie sich Stunden später im Bett herumwarf, ärgerte sie sich noch immer darüber, nicht genauer nachgefragt zu haben. Sie hätte Matthias bitten sollen, ihr den Brief vorzulesen. So musste sie bis morgen warten, bis er ihr das Ding in den Briefkasten warf. Was auch mal wieder typisch war. Warum kam er nicht kurz herein, auf eine Tasse Tee oder meinetwegen auch Kaffee? Was hatte sie bitteschön an sich, dass er sie so mied? Andererseits war es ihr in diesem Fall ganz recht, dass er den Brief nur in den Kasten werfen wollte. So konnte sie vermeiden, dass Carl Wind von der Sache bekam. Zuerst einmal musste sie genau wissen, worum es überhaupt ging.

Sie richtete sich auf, knipste die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Erst drei, dachte sie und arrangierte ihre Kissen um - eins links, eins rechts, eins, auf dem der Kopf zu liegen kam - und löschte wieder das Licht. Mit offenen Augen lag sie da und lauschte dem Rauschen des Windes. Was, wenn dieser Brief nicht nur das Gestammel eines Irren war? Wenn das, was da geschrieben stand, Hand und Fuß hatte? Seit der Titelgeschichte im Stern hatte sie so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie schon lange nicht mehr. Nicht nur auf sich, sondern auf die ganze Familie. Und damit natürlich auch auf Carl, der ebenfalls auf dem Titelbild zu sehen gewesen war. Sie schloss die Augen und atmete ein und wieder aus, tief in den Bauch. Im Geiste versuchte sie zu rekapitulieren, was genau sie in dem Interview gesagt hatte. Über ihre Ehe als Partnerschaft auf Augenhöhe hatte sie gesprochen und über die drei berühmten Ks - darüber, wie sie es geschafft hatte, Kinder, Küche und Karriere unter einen Hut zu kriegen. Aber nichts in dem Artikel hätte jemanden dazu veranlassen können, in ihrer Vergangenheit herumzuwühlen. Nein, das Interview war fantastisch, ganz und gar gelungen. Es zeichnete ein sehr persönliches Bild von ihr, ohne allzu privat zu werden. Sie hatte die Interviewerin genau in die von ihr gewünschte Richtung lenken können und es sogar geschafft, bestimmte Ereignisse elegant zu umschiffen. So war am Ende ein stimmiger Gesamteindruck entstanden, der perfekt zur öffentlichen Komposition ihres Lebens passte.

Liane seufzte. Und musste auf einmal an den Tag denken, als alles angefangen hatte, an jenen Ostermontag 1968. Wobei es für sie ja schon früher begonnen hatte, schon im Winter davor. In dem Moment, als sie ihn das erste Mal sah.



Liane, Januar 1968


Kennengelernt hatte sie Carl Ende der Sechzigerjahre in München, nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin. Sie war damals noch ganz neu in der Stadt gewesen, ein Landei. Erst im Sommer war sie endgültig aus Lühe fortgezogen, einem Kaff im Alten Land, und damit dem Dunstkreis ihrer Familie entkommen. An jenem Wintertag machte sie, wie oft in der Mittagspause, einen Spaziergang im Englischen Garten, zusammen mit Mathilde, ihrer einfältigen Kollegin aus dem Kindergarten, mit der sie außer dem Bedürfnis nach frischer Luft und Bewegung kaum etwas gemeinsam hatte.

Der Wind wehte so eisig über die Wiesen, dass auch ihre Kapuzen gegen die Kälte wenig ausrichten konnten, daher beschlossen sie, schon früher als sonst umzukehren und zum Kindergarten zurückzugehen. Sie kamen gerade am Chinesischen Turm vorbei, als Liane ein Pärchen auffiel, offenbar Studenten. Der junge Mann war blond und kräftig und ging, eine Zigarette in der linken Hand, neben einer blonden jungen Frau her, die ein Buch in der Hand hielt und ihn abfragte. Er trug einen braunen Dufflecoat und sie einen wadenlangen Lammfellmantel, und auch wenn die beiden nicht besonders auffällig waren, konnte Liane auf einmal die Augen nicht mehr abwenden. Nicht von ihm jedenfalls, wie er so vor sich hin qualmte und mit gerunzelter Stirn die Lippen bewegte. Und vielleicht war das schon der Moment, in dem Liane beschloss, dass sie diesen Mann haben musste. Ihr jedenfalls kam es später so vor, auch wenn sie das ihm gegenüber niemals zugegeben hätte. Jedenfalls lag da eine Lässigkeit in seiner Haltung, die Lianes Blick festhielt, ein Ausdruck von Entspanntheit und großer Sicherheit, aber dazu kam auch noch etwas anderes, das Liane nicht hätte benennen können. Jedenfalls verspürte sie den albernen Wunsch, dem Mädchen das Buch aus der Hand zu reißen und selbst den Platz an seiner Seite einzunehmen. Und während die stämmige Mathilde neben ihr weiter vor sich hin plapperte, verrenkte sich Liane den Hals und konnte die Augen nicht von ihm lassen.

Von da an ging sie in jeder Mittagspause in den Park, mit oder ohne Mathilde, und drehte ihre Runden so, dass sie etliche Male am Chinesischen Turm vorbeikam. Und tatsächlich sah sie ihn dann und wann wieder, manchmal alleine, manchmal in Begleitung seiner Freundin, und nachdem sie ihn ein paarmal beobachtet hatte, wusste sie auch, woran er sie erinnerte, mit seinem windzerzausten, etwas zu langen Haar: an einen Seemann.

Wenn das Mädchen dabei war, nahm Liane auch sie genauestens unter die Lupe, blieb ein Stück weit entfernt stehen, lehnte sich an einen Baum und betrachtete sie mit tiefer Abneigung. Sie begutachtete ihre Figur, wie sie sich bewegte und wie sie sprach, und träumte sich an ihre Stelle. Manchmal, besonders wenn noch andere junge Leute dabei waren, ging sie so dicht an ihnen vorbei, dass sie Gesprächsfetzen aufschnappte, fremde Worte wie Propädeutikum und Famulatur. Zu Hause schlug sie diese Begriffe in Frau Niethammers vierundzwanzigbändigem Brockhaus nach und fand auf die Art heraus, dass er Medizin studierte.

Als er von einem Tag auf den anderen nicht mehr im Park auftauchte, verfiel sie in einen tiefen Groll. Sie verfluchte ihre Feigheit und ihre Unfähigkeit, etwas zu unternehmen, als noch Zeit dazu gewesen war. Wieso hatte sie nicht die Initiative ergriffen und ihn oder jemand anderen aus seiner Clique angesprochen! Warum hatte sie nicht dafür gesorgt, dass er auf sie aufmerksam wurde! Der Gedanke an das blonde Mädchen störte sie dabei nur am Rande. Fast am meisten...


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