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Der Moment zwischen den Zeiten

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
dtv Verlagsgesellschafterschienen am12.10.20202. Auflage
Der Weg zurück ins Leben Ein Paar trifft sich zum Mittagessen. Er erzählt dies und das, bis er die Bombe platzen lässt: Er hat sich in eine jüngere Frau verliebt. Eine der ältesten Geschichten der Welt. Doch dann, nur wenige Stunden später, wird Mauro bei einem Verkehrsunfall getötet. Schockstarre. Fassungslosigkeit. Paula steht vor den Trümmern ihrer Liebe. Über zehn Jahre war sie mit Mauro zusammen: Mit einem Schlag ist das vorbei. Wie trauern um den Mann, der einen kurz vor seinem Tod verlassen hat? »Wie man weiterlebt, wenn das Leben von einem Tag auf den anderen in viele kleine Teile zerspringt und widersprüchliche Gefühle einen zerreißen, erzählt Marta Orriols sehr einfühlsam, aber nie pathetisch.« Daniela Stohn in >BrigitteDer Moment zwischen den ZeitenSanfte Einführung ins Chaos< ihr zweiter Roman.mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextDer Weg zurück ins Leben Ein Paar trifft sich zum Mittagessen. Er erzählt dies und das, bis er die Bombe platzen lässt: Er hat sich in eine jüngere Frau verliebt. Eine der ältesten Geschichten der Welt. Doch dann, nur wenige Stunden später, wird Mauro bei einem Verkehrsunfall getötet. Schockstarre. Fassungslosigkeit. Paula steht vor den Trümmern ihrer Liebe. Über zehn Jahre war sie mit Mauro zusammen: Mit einem Schlag ist das vorbei. Wie trauern um den Mann, der einen kurz vor seinem Tod verlassen hat? »Wie man weiterlebt, wenn das Leben von einem Tag auf den anderen in viele kleine Teile zerspringt und widersprüchliche Gefühle einen zerreißen, erzählt Marta Orriols sehr einfühlsam, aber nie pathetisch.« Daniela Stohn in >BrigitteDer Moment zwischen den ZeitenSanfte Einführung ins Chaos< ihr zweiter Roman.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783423436809
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum12.10.2020
Auflage2. Auflage
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
IllustrationenFormat: EPUB
Artikel-Nr.4938726
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

2

Lídia ist sicher gleich da, ihre Sprechstunde endet um eins. Sie zu treffen, löst in mir eine Welle der Erleichterung aus. Nur wenige Minuten noch, dann lässt mich ihr ungezwungenes Geplauder in die Normalität eintauchen, genau das, was ich jetzt so dringend brauche. Denn Normalität ist nach diesem Urlaub das A und O, sie ist mein Rettungsanker.

Während ich in der lauten, hektischen Cafeteria des Krankenhauses auf sie warte, schiebe ich den Salat auf dem Teller hin und her. Der Geruch nach Fleischbrühe versetzt mich zurück in die Kantine der Schule, wo ich mir alles, was ich nicht mochte, in die Taschen stopfte und die Hähnchenschenkel an meine hungrigeren Mitschüler verhökerte. Der Kinderarzt riet meinem Vater damals, er solle mir Toast mit Honig zu essen geben und so den Kampf gegen den niedrigen Perzentilwert aufnehmen, den er auf den von mir so gefürchteten karierten Kurvenblättern mit dem Bleistift antippte. Honig wurde von da an zum festen Bestandteil meines täglichen Speiseplans. Nicht um mir die grauen Tage ohne meine Mutter zu versüßen, sondern einfach nur, damit ich zunahm.

Irgendwo habe ich mal von einem dreiundachtzigjährigen Hindu-Asketen gelesen, der über siebzig Jahre weder etwas gegessen noch getrunken haben soll. Wissenschaftler eines Forschungsinstituts des indischen Verteidigungsministeriums beobachteten ihn mehrere Wochen lang rund um die Uhr. Hinterher berichtete der Arzt, der die Studie leitete, dass der Mann mit Wasser nur in Berührung gekommen war, um sich zu waschen oder zu gurgeln, und schlussfolgerte, dass er seine Energie wohl aus anderen Quellen in seinem Umfeld schöpfte als aus Nahrung und Wasser, unter anderem aus der Sonne. Nach Ende der Untersuchungen kehrte der Yogi in sein Heimatdorf zurück, wo er weitermeditierte wie zuvor. Offenbar hatte eine Göttin ihn im Alter von acht Jahren gesegnet, damit er fortan ohne Nahrung leben konnte.

Nach Mauros Tod nahm ich geschlagene vier Tage lang nichts als Lindenblütentee zu mir, in den mein Vater höchstens ein wenig Honig vom Imker aus seinem Dorf geben durfte. Mir fehlte die Kraft, zu protestieren, und so ließ ich ihn gewähren. Ich weiß nicht, auf welche Wachstumskurve er es diesmal abgesehen hatte. Abermals bekam meine Trauer dadurch jedoch die Farbe von Bernstein.

Es waren apathische, unwirkliche Tage, der Schock füllte alles aus, für Hunger war da kein Platz. Ich erinnere mich, wie die Hand meines Vaters energisch den Holzstab drehte, damit seine Rillen den Honig aufnahmen, ohne dass es tropfte. Mein Vater ist ein Perfektionist. Dass ich keinen hölzernen Honigstab besaß, war ihm unbegreiflich. Er kaufte mir einen. Außerdem räumte er meine Besteckschublade auf und reparierte die Tür am Topfschrank.

Eine Woche lang blieben mein Vater und Lídia abwechselnd bei mir, und ich verlor jede Kontrolle. Sie füllten den Kühlschrank mit guten Dingen, die nach und nach schlecht wurden. Lídia kam immer mittags, um zu kontrollieren, ob ich auch ja etwas aß, und mir dabei ein wenig Gesellschaft zu leisten.

Alle in meinem Umfeld nahmen als gegeben hin, dass mein verstörter Blick, das vernachlässigte Äußere und die heruntergelassenen Jalousien in jenen Wochen von der Trauer herrührten, in die mich der Verlust des Menschen gestürzt hatte, der so viele Jahre mein Lebensgefährte gewesen war. Niemand kam auf die Idee, dass es außer dem Schmerz über Mauros Tod noch etwas anderes, schwer Fassbares gab, das allem, selbst dem Schmerz über den Tod, wie Schneckenschleim anhaftete, etwas so Widerwärtiges, dass es niemand sehen sollte. Auch ich fühlte mich dadurch wie tot, erstickt an dieser mir bislang fremden Scham, gemessen an der der Tod fast schon ein alter Bekannter war. Und bis heute frage ich mich, ob es einen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen gibt, ob mein Wissen um diese Frau irgendwie bewirkt hat, dass Mauro aus meinem Leben verschwand.

»Komm schon, Paula. Wenigstens die Banane. Du hast nichts gegessen.«

Ich blickte zu Lídia hoch und musste unwillkürlich lächeln, denn die Geschichte des Yogis fiel mir wieder ein. Mir lag schon der Scherz auf der Zunge, ich käme ohne Nahrung aus, weil mich eine Göttin gesegnet habe, verkniff ihn mir aber, als ich ihre besorgte Miene sah.

»Na los, wenigstens einen Bissen oder zwei.«

Ich saß auf dem Küchenstuhl, und sie stand neben mir. Wir hätten zwei Freundinnen sein können, bei irgendeinem Mittagessen in einer x-beliebigen Wohnung, in der es weder Liebesgeschichten noch tote Partner gab. Aber das Bild war verstümmelt. Und ich, könnte man meinen Schmerz umwickeln mit Gaze, wirkte darin wie eine Kriegsversehrte.

Lídia schälte akribisch die Banane. Gedankenverloren schaute ich ihr zu, und als sie mir die nackte Frucht mit spitzen Fingern reichte, sahen wir uns an und fingen an zu kichern.

»Nun iss schon.«

»Ich habe keinen Hunger, Lídia, ehrlich. Mir wird davon schlecht.«

»Wenigstens die Spitze ...«

Wir mussten lachen, und ich spürte, wie meine Wangen vor Scham glühten. Mein Lachen wiegte sie in Sicherheit, nur deshalb lachte ich. Ich musste zuerst sie beruhigen, damit sie anschließend mich beruhigen konnte. Wer von einem Toten betrogen worden ist, weiß um Dinge, über die man besser schweigt. Etwa, dass man angesichts dessen seine innere Balance nur sehr schwer wiederfindet. Darum lachte ich, der Magen wie zugeschnürt, übernächtigt, schweißgebadet. Würde ich aufhören zu lachen und mit der ungeschminkten Wahrheit herausplatzen, würde Lídia augenblicklich zur Salzsäule erstarren, und die Neuigkeit würde sich unaufhaltsam ihren Weg bahnen. Auf einmal würde sein Tod, der die Welt zum Stillstand gebracht hatte, zur Nebensache werden, und für einen Moment würde sich alles nur noch um die schnöde, klischeehafte Untreue drehen. Aber wir lachten. Lídia lachte, und ich lachte mit, und dabei suchten meine Augen ihren Blick, um ihr so endlich all das sagen zu können, wofür ich keine Worte fand. Sie verstand es nicht. Dass der Kerl, der gestorben ist, einen unmittelbar vorher verlassen hat, lässt sich nicht einfach so von den Augen ablesen.

»Iss, Paula.«

Ich biss ein Stück von der Banane ab, damit sie endlich Ruhe gab.

»Wusstest du, dass der Mensch rund 20â000 Gene besitzt und Bananen 36â000?«

»Wie ...? Was meinst du damit, Paula?«

»Dass Bananen 16â000 Gene mehr haben als Menschen.«

»Toll.« Mit einem mitfühlenden Blick strich Lídia mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Alles wird gut, Süße. Irgendwann kommst du darüber hinweg.«

Nein, dachte ich, tief in meinem Innern.

Und im nächsten Moment schmeckte der süße Bananenbrei, den ich kaum herunterbrachte, salzig.

»Wer bin ich?«

Von hinten hält sie mir die Augen zu. Ich drehe mich um, und wir umarmen uns. Lídia ist ein Wirbelwind mit blonden, von Silberfäden durchzogenen Locken und tausend Sommersprossen im Gesicht.

Zunächst schildert jede haarklein ihren ersten Arbeitstag, dabei fallen wir uns immer wieder übersprudelnd ins Wort. Dann rege ich mich darüber auf, wie weit der Umbau auf der Station ist, in der sie als Kinderärztin arbeitet, während ich nach wie vor in winzigen, schlecht beleuchteten Räumen arbeiten muss, die von viel zu schmalen Fluren abgehen. Überall da, wo es Besuchern und Patienten nicht gleich ins Auge fällt, werden die längst fälligen Sanierungsarbeiten ständig verschoben.

Mit schadenfrohem Grinsen streckt Lídia mir die Zunge heraus und setzt mich damit matt. In unserer Freundschaft sind wir einander noch nie ebenbürtig gewesen. Egal, um was es geht, immer gewinnt sie die Oberhand, und das habe ich von Anfang an akzeptiert. So wie ich akzeptiert habe, dass ich, vielleicht durch die Umstände, ein eher verschlossener Mensch geworden bin.

Lídia erzählt mir nun, wie enttäuscht sie von den Hotels waren, in denen sie auf ihrer Schottlandreise übernachteten - die Teppichböden schmutzig, das Essen ungenießbar, und wegen eines Reservierungsfehlers seien sie einmal in einem solchen Drecksloch gelandet, dass sie schließlich alle vier im Auto geschlafen hätten -, und als würden wir noch immer auf der Dachterrasse ihres Elternhauses für die Abschlussprüfungen lernen, halten wir danach die Arme aneinander und vergleichen, wer von uns beiden brauner geworden ist.

»Gut siehst du aus«, meint sie lächelnd. »Die Ferien sind dir bekommen.«

Ich lasse sie in dem Glauben, weil mir nicht danach ist, über mich oder die zwei Wochen bei meinem Vater in Selva de Mar zu reden. Die vermeintliche Harmonie des Lebens in dem abgeschiedenen Dorf nahe der Costa Brava, die Freude an den einfachen Dingen, die Ruhe, von der alle behaupteten, sie würde mir guttun, all das hat überhaupt nichts gebracht.

Seit dem Unfall war ich nicht mehr dort gewesen, und durch die Brille der Zeit betrachtet, kam mir der kleine Ort fremd vor: Die Kirche war größer, und die Gassen waren enger, die Glocken waren mir noch nie so laut und das Gelächter der Sommergäste auf dem Dorfplatz noch nie so ungeniert vorgekommen. Am Ende hatte ich die Nase gestrichen voll von dem ländlichen Frieden, von den melancholischen Klavierklängen meines Vaters, den Vögeln, die mich frühmorgens weckten, wenn ich gerade eingeschlafen war. Es nervte mich, dass es keine zuverlässige Internetverbindung gab und ich mich über einen Felsen beugen musste, um wenigstens ab und zu Empfang zu haben, und die Schachpartien mit meinem Vater nach den Mahlzeiten hingen mir ebenfalls zum Hals raus. Die hochgelobte Stille auf dem Land hatte nur dazu geführt, dass bei mir sämtliche Alarmglocken schrillten und die Fragen, vor denen ich in meinem ersten Urlaub ohne Mauro fliehen wollte, so laut wie noch nie in mir...

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Autor

Marta Orriols, geboren 1975 in Sabadell, arbeitet als freie Kulturjournalistin für diverse Tageszeitungen, Zeitschriften und Kulturportale und lebt mit ihren beiden Söhnen in Barcelona. Nach einem hochgerühmten Erzählungsband und ihrem 2018 als bester Roman des Jahres ausgezeichneten, in fünfzehn Sprachen übersetzten Romandebüt >Der Moment zwischen den ZeitenSanfte Einführung ins Chaos