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Das Meisterstück

Roman
TaschenbuchKartoniert, Paperback
316 Seiten
Deutsch
btberschienen am01.10.2007
Noch drei Tage, dann hat der Maler Johan Steenkamer seine große Ausstellung. In der Familie macht sich Aufregung breit: sogar Vater Charles Steenkamer, selbst erfolgloser Maler, der die Söhne nach dem Krieg verließ, wird nach 50 Jahren aus Amerika zurück erwartet. Nur Oskar, Johans unterlegener Bruder, nimmt sich fest vor, wegzubleiben. Doch dann findet er im Magazin des Museums zufällig ein altes Bild seines Vaters Charles, das einem Werk des Bruders auffällig gleicht. Er beschließt, es mit in die Ausstellung zu bringen ...mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR9,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR7,99

Produkt

KlappentextNoch drei Tage, dann hat der Maler Johan Steenkamer seine große Ausstellung. In der Familie macht sich Aufregung breit: sogar Vater Charles Steenkamer, selbst erfolgloser Maler, der die Söhne nach dem Krieg verließ, wird nach 50 Jahren aus Amerika zurück erwartet. Nur Oskar, Johans unterlegener Bruder, nimmt sich fest vor, wegzubleiben. Doch dann findet er im Magazin des Museums zufällig ein altes Bild seines Vaters Charles, das einem Werk des Bruders auffällig gleicht. Er beschließt, es mit in die Ausstellung zu bringen ...
ZusammenfassungEine große Ausstellung soll das Werk des Malers Johan Steenkamer krönen. Sein Vater Charles, der die Mutter und beide Söhne kurz nach dem Krieg verlassen hat und nach Amerika gegangen ist, kommt zurück, um bei der Eröffnung dabei zu sein. Ellen, Johans Frau, will den Kindern zuliebe kommen, obwohl Johans neue Lebensgefährtin auch da ist. Oscar, der Bruder, haßt dieses Familientreffen. Der Roman einer Familie und einer Gesellschaft, die zu einem Verband zuwendungsbedürftiger Individualisten geworden ist.
Details
ISBN/GTIN978-3-442-73695-9
ProduktartTaschenbuch
EinbandartKartoniert, Paperback
Verlag
Erscheinungsjahr2007
Erscheinungsdatum01.10.2007
Seiten316 Seiten
SpracheDeutsch
Gewicht298 g
Artikel-Nr.10796423
Rubriken

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Erster TeilLeporello:»Notte e giorno faticar«Dienstbarkeit Die Goldfische haben ihre Jungen aufgefressen. Im warmen, windstillen Sommer waren sie tagelang mit Laichen beschäftigt. Der kleine mit den schwarzen Flecken im Gesicht setzte der großen Behäbigen unermüdlich nach und stieß ihr wie besessen gegen den angeschwollenen Hinterleib, bis sie ihre Eier zwischen den Wasserpflanzen von sich gab. Er stob spritzend darüber hinweg ? eine Paarung auf Distanz, bei der zwar viele Elemente des Aktes vorhanden sind, jedoch voneinander losgelöst und in sinnlose Rituale verkehrt, in Arbeit, die im Zuge der Fortpflanzung verrichtet werden muß, sobald die Wassertemperatur steigt und der Wind sich legt. Denkt der Schwarze je: O du süßes, behäbiges Geschöpf mit deinen runden Flanken, du bist die Liebe meines Lebens, ich will dich, ich will dich? Er will Eier, er will besamen, damit die befruchteten Eizellen in dem kleinen Reich aus Eichenholzdauben als weiße Miniaturperlen an den Wasserpflanzen haftenbleiben. Lisa hockt neben der Tonne und schaut. Im Innern der kleinen Perlen vollzieht sich die Zellteilung in rasendem Tempo, bis die Fische stark genug sind, um sich aus dem zähen Häutchen zu befreien. Zu Dutzenden treiben sie durch das warme Wasser. Sie werden nicht vom Elternpaar versorgt, das kein Paar mehr ist, sondern schlürfen selbst unaufhörlich Wasser mit unsichtbarem Futter in sich hinein. Sie fressen das Element, in dem sie leben, wie schon im Ei. Wenn sie das Pech haben, ihren Eltern ins Gehege zu kommen, stülpen diese das Maul zu einem fingerdicken Trichter vor, in den tote Mücken, Birkensamen und kleine Fische gesogen werden. Die Birkensamen spuckt die Behäbige beiläufig wieder aus. Ich hätte sie beschützen müssen, sagt Lisa. Vorige Woche wimmelte es noch von Fischen, durchsichtigen, einen Zentimeter langen Tierchen mit einem Vorder- und einem Hinterteil, einer Fahrtrichtung und einem dunklen Kern im Leib. Und jetzt ist es still. Verdammt, hätte ich sie doch in die Salatschüssel getan, gefüttert, wohlbehütet großgezogen! In Wahrheit hat sie keine Lust dazu. In Wahrheit mag sie, die mühsam, zähneknirschend, wider Willen zu akzeptieren gelernt hat, daß das Leben ist, wie es ist, sich keine Gedanken wegen ihrer Goldfische machen. Morgens, bevor ihr Arbeitstag beginnt, und abends, wenn sie ihn hinter sich hat, sitzt sie eine Weile an der Tonne, um fasziniert in das grausame Universum zu schauen. Manchmal ist sie versucht, den Fischen eine faire Chance zu geben (aber wem hilft man damit, und wozu?), indem sie zum Beispiel bei strengem Frost mit dem Beil einen Spalt ins Eis hackt, aber ebensooft hat sie das Eis Eis sein lassen, und im Frühjahr trieben dann die verfärbten kleinen Kadaver reglos an der Wasseroberfläche. Einmal war ein leuchtend orangefarbener Fisch völlig im Eis eingeschlossen wie in einem kitschigen gläsernen Briefbeschwerer, taute aber im Frühjahr wieder auf, bewegte träge und ungelenk den Schwanz und pumpte mit den Kiemen. Siehst du, sagt Lisa, es geht, Überleben im Eis. Lisa wohnt rund zehn Kilometer außerhalb der Stadt in einem von Pendlern in Besitz genommenen Dorf. Vormittags praktiziert sie zu Hause, nachmittags arbeitet sie in der Psychiatrischen Universitätsklinik. Sie hält Seminare für angehende Fachärzte ab, unterrichtet Pflegepersonal und ist in bescheidenem Umfang an der Patientenversorgung beteiligt. Das Haus, in dem sie wohnt, ist ein altes Patrizierhaus, zu beiden Seiten der graublauen Eingangstür absolut symmetrisch. Hinter dem Haus erstreckt sich der Obstgarten (Apfel- und Pflaumenbäume) bis hinunter zum Fluß. Die Tonne mit den Fischen steht neben der Küchentür. Auf der Vorderseite links die Praxis: Lisas Arbeitszimmer mit großen Fenstern nach zwei Seiten. Unterhalb der Treppe, hinter einem Wandschirm, ist ein bescheidenes Wartezimmer eingerichtet. Selten, daß dort jemand sitzt, denn Lisa gestattet sich zwischen ihren Terminen eine Viertelstunde Pause, und die Patienten aus der Stadt warten meist in ihren am Straßenrand geparkten Autos. Eine Stunde frei wegen eines erkrankten Patienten ? Radfahren! Kein Wind, mildes Spätsommerwetter, keine Parkplatzsucherei vor der Klinik. Am Fluß entlang, wo versteckt unter ihren grünen Schirmen die Angler sitzen, durch den Stadtpark und die breite Geschäftsstraße zur Klinik. Lisa hat teure Jeans und einen noch teureren cremeweißen Pullover an. Im letzten Moment hat sie ihre Tennisschuhe noch gegen blaue Stiefeletten ausgetauscht. Sie ist eine schöne Frau, der die Jahre nichts haben anhaben können. Sie kleidet sich gut, aber unauffällig. Lisa ist fünfundvierzig und menstruiert noch etwa dreimal im Jahr. Als sie ihre Tasche für die Arbeit packt, läutet das Telefon. »Hannaston?« Lisa experimentiert damit, sich am Telefon immer wieder anders zu melden. Früher hat sie bedenkenlos ihren Vornamen genannt, gefolgt von verschiedenen Nachnamen (Blech, Bleeker, wieder Blech, Hannaston). Seit sie vierzig ist, findet sie, daß sie es anders machen müßte ? aber wie? Ein Mann kann sich und sogar seine Freunde beim Nachnamen nennen, ohne ungehobelt zu erscheinen. Eine Frau nicht. Aber sich selbst als »Frau Hannaston« zu melden, findet sie zickig, »Doktor Hannaston« klingt, als wolle sie sich aufspielen, und einfach nur »Hallo« ist unhöflich. Sie nennt ihren Nachnamen in fragendem, fast entschuldigendem Ton. »Lisa, hier ist Johan. Schön, daß ich dich erreiche. Mußt du heute nicht zu deinen Irren?« »Ich bin gerade im Begriff zu gehen.« An der Pinnwand über dem Telefon hängt eine Einladung zur Eröffnung von Johans Ausstellung: Johan Steenkamer, Ölgemälde, Radierungen, Aquarelle, Vernissage Sonntag von vier bis sechs im Städtischen Museum. Sie sind herzlich eingeladen. Dunkler Anzug. Dunkler Anzug? Ja, dunkler Anzug. Sponsoren: Staatsfonds für Bildende Kunst, die Post, Holzhandel Nicolaas Bijl. Ein Foto von Johan im Halbprofil: markante Nase, unnatürlich zusammengekniffener Mund, Augen von jemandem, der zum Zeitpunkt der Aufnahme intensiv an sich selbst denkt. Schulterpartie in dunklem Anzug, der ihm gut steht. »Hör zu, wir gehen hinterher mit der Familie essen. Alma möchte das so. Das ist zwar alles etwas neumodisch, aber es müßte machbar sein.« Die Familie, das ist zuallererst Johans Mutter Alma, die Anstifterin; dann Johans Bruder Oscar und die Söhne Peter und Paul. Ist Johans Freundin Zina das Neumodische? »Kommt Ellen auch?« »Alma hat sie angerufen. Sie hat zugesagt.« Ellen, die Mutter seiner Söhne, an einem Tisch mit der neuen Frau. »Ich komme gern, Johan«, sagt Lisa. Sie will ihre Freundin in dieser Situation nicht allein lassen, und die komplizierten Familienverhältnisse üben eine gewisse Faszination auf sie aus. »Und Lawrence, den will ich auch dabeihaben, ist er schon zurück?« »Er ist gerade erst nach England gefahren und kommt nicht vor Ende nächster Woche zurück. Wenn die Kinder wieder zur Schule müssen.« »Ich möchte aber gern alle dabeihaben. Was macht er in England, hat er einen Auftrag?« »Nein, noch nicht. Er macht vielleicht für seinen Vater einen Entwurf für den Ausbau des Hotels. Und besucht einfach die Familie. Ich muß weg, Johan, danke für die Einladung.« Johan klingt bei der Verabschiedung leicht verärgert. Beim Radfahren läßt sich gut nachdenken. Zu Fuß fängt man schnell an zu träumen, aber das Quentchen Aufmerksamkeit, das man beim Radfahren braucht, sorgt für die nötige Hinwendung zur Realität. Agieren. Lisa hat Lawrence? Fahrrad genommen, auch auf die Gefahr hin, binnen einer Stunde ein taubes Gefühl zwischen den Beinen zu haben; dafür hat das Rad eine Gangschaltung. Sie tritt in die Pedale, surrt zwischen den dicken Alleebäumen über den grauen Asphalt und schaltet in die größte Übersetzung. Die Straße nähert sich dem Fluß: verblühter Bärenklau, müde Haubentaucher auf dem Wasser. Eigenartig, daß sie Freunde sind, Johan und Lawrence. Worüber sie sich wohl unterhalten? Malerei? Die Zukunft der dörflichen Architektur? Bestimmt nicht über Eltern oder Besuche bei der Familie. Lawrence stammt aus York. Seine Eltern besitzen ein großes Hotel an der Ostküste Englands. Gigantische Fensterfronten gewähren Aussicht auf das Meer; die traditionellen Räumlichkeiten, die Engländer offenbar zu ihrem Wohlbefinden benötigen (Lounge, Dining Room, Tea Room, Morning Room), haben die Ausmaße von halben Fußballplätzen. Die wirtschaftliche Talfahrt hat die Zahl der Gäste dezimiert. Wer jetzt noch kommt, ist reich und alt und tut es aus Gewohnheit. Auf einer Tür in einem der langen, krankenhausähnlichen Gänge steht »Emergency Room«. Dahinter wird in einem schmalen Schrank eine Tragbahre versteckt. Lisa durfte während eines Aufenthalts bei ihren Schwiegereltern miterleben, wie ein betagter Gast nach dem Abendessen das Zeitliche segnete (blaurot, Schaum vor dem Mund, Yorkshire Pudding) und von Koch und Empfangsdame im Laufschritt zum Hinterausgang gefahren wurde, wo diskret der von Lawrence? Mutter eilends herbeigerufene Krankenwagen wartete. Im Dining Room dauerte es ein Weilchen, bis die Stimmung wiederhergestellt war. Eine Anzeigenkampagne in Amerika brachte noch mehr ältere Gäste, die obendrein im Morning Room Gin trinken wollten. Die Schließung drohte. Lawrence? Mutter erwog kurzzeitig, ein richtiges Altersheim daraus zu machen, schreckte aber vor Szenen wie der mit der Tragbahre zurück. Opa England, wie Lisas Kinder Kay und Ashley sagen, hatte schließlich einen rettenden Einfall und schloß eine ganze Reihe von Verträgen mit Firmen, die ihrem Personal einen Ferienaufenthalt oder ein erholsames Wochenende offerieren wollten. Zu stark ermäßigten Preisen reisen jetzt große Gruppen an und füllen die Säle, spielen Minigolf (auf dem Hotelgelände angelegt) und wandern den Küstenpfad hinauf und hinunter. Manchmal finden Konferenzen und Wochenendseminare statt, und der Morning Room fungiert als Tagungsraum. Der Anbau eines überdachten Schwimmbads mit Sauna und Gymnastikhalle ist im Gespräch. Lawrence soll seine Eltern baulich beraten. Die Tragbahre ist noch da. Ein Hotelkind. In einem kahlen Zimmer am Ende eines Ganges schlafen. Mutter am Ausschank, Vater in dem kleinen Büro mit der Buchhaltung oder am Empfangsschalter vor den an großen, mit »Sea Residence« beschrifteten Holzkugeln hängenden Schlüsseln. Miterleben, wie DER GAST, der den Lebensrhythmus des Hotels bestimmt und das Maß aller Dinge ist, während des hastigen und frühen Abendessens in der Küche von den Eltern als alter Nörgler oder Geizkragen beschimpft wird. Lawrence ging nach London und studierte Architektur (Linien, Gewichte, Baustoffe, alles, was man berechnen kann) an der Kunsthochschule. Dort lernte er Johan kennen, der an der Akademie mit einem spärlichen Stipendium ein Jahr lang Malerei studierte. Nach diesem Jahr begleitete der vernünftige und vorsichtige Lawrence seinen neuen Freund in die Niederlande und blieb dort. »Bist du vor ihnen geflohen«, fragte Lisa, »vor ihren Ansprüchen und Erwartungen, hattest du eine solche Wut, daß du ein ganzes Meer zwischen euch bringen mußtest?« »Nein, was mich vertrieben hat, war der Wind. Dieser ewige Sturm.« »Und hier? Die Hälfte des Jahres werden einem die Ohren vom Kopf geweht, die Bäume wachsen schief, und nicht einmal abends ist Ruhe! Und was ist mit den Sturmfluten?« »Hier ist sogar der Wind gemütlich. Alles ist flach und überschaubar. Aber dort stehst du auf den Klippen. Unaufhörlich donnert das Wasser gegen das Land und nagt daran, bis das Hotel ins Meer stürzt. Als Kind hatte ich eine Heidenangst davor. Es wird sicher irgendwann passieren.« Alles wahr und zugleich absoluter Unsinn. Er haßt seine Eltern nicht, sondern flieht vor dem Wind! Lisa hat keine Eltern mehr. Ihr Vater ist im Krieg umgekommen. Nicht als Held, sondern als ängstlicher Junge, der nach der Sperrstunde in der stockfinsteren Stadt in eine Gracht fiel und ertrank, weil er sich nicht traute, zu schreien. Ihre Mutter, die Lebenstüchtigkeit und Realitätssinn hinter dauerndem Beleidigt- und Gekränktsein verbarg, starb unter höllischen Schmerzen an einem zu spät entdeckten Krebs. Vor vier Jahren. Lisa, einziges Kind, besuchte sie in wohldosierten Abständen. So gut ich konnte, habe ich meiner Mutter beigestanden. Viel war nicht drin, und das wenige, was mir möglich war, hat viel Kraft gekostet. Lisa versucht sich nicht vorzumachen, daß die hohe Arbeitsbelastung und die Nöte ihrer Kinder ein größeres Mitgefühl für ihre sterbende Mutter verhindert hätten. Im Gegensatz zu Lawrence ist sie durchaus imstande, ihre Beweggründe zu erkennen. Sie kann in sich hineinschauen und dort ein zielstrebiges Kind sehen, das für seine Interessen kämpft, eine Egoistin mit schlechtem Charakter. Das Spiegelbild richtet sich nach dem Spiegel, das Kind entspricht den Erwartungen der Mutter. In dieser trüben Kindheitsbrühe wird Lisa nicht mehr ertrinken. Weil sie es sich zugestanden hat, den Kopf über Wasser zu halten, war es ihr auch möglich, den grauen Vogelkopf an ihre Brust zu drücken, als das Ende nahte, den gepeinigten Körper in die Arme zu schließen und aus Mitleid über das einsame und verpfuschte Leben dieser Frau zu weinen. Wenn die zur häuslichen Pflege eingestellte Krankenschwester ihr freies Wochenende hatte, wusch Lisa den Körper ihrer Mutter. Die Pobacken hingen herab wie schrumpelige Beutel. Behutsam betupfte sie die großen Narben an den Stellen, wo die Brüste gewesen waren. Woraus ich trank, das ist verschwunden, im Krankenhausofen verbrannt. In diesen spindeldürren Armen, an diesen kümmerlichen Brüsten muß ich es gut gehabt haben, sonst stünde ich nicht hier, aber der Beweis ist verschwunden, an diesen Brunnen kann ich nicht zurück. Graues Schamhaar über dem Geschlecht, aus dem ich kam. Ich sehe es an, ich sehe es. Lisas Unfähigkeit, von sich selbst zu erzählen, macht sie zu einer guten Zuhörerin. Altersgenossen schütten ihr ihr Herz aus und vertrauen ihr Geheimnisse an. Lisa hört zu, faßt zusammen, stellt eine wohlüberlegte Frage. Sie hilft und erhält dafür Dankbarkeit und Anerkennung. Sie baut ihre Helferrolle aus und arbeitet während der Ferien im örtlichen Krankenhaus. Auch dort sind die Rollen klar definiert, und sie braucht nichts von sich preiszugeben. Die väterlichen Ärzte werden zum Bestandteil ihrer nächtlichen Wunschträume und ahnen nicht, daß ihnen die Praktikantin nachts auf den Schoß kriecht und in ihren Armen Zuflucht sucht. Trotz all dieser Beschränkungen und Defizite hat Lisa sich ihre Neugier bewahrt, und die wird sie bald aus ihrer Abkapselung befreien. Zitternd vor Angst, was sie vorfinden wird, und schlecht gewappnet gegen das, was sie entdecken wird, will sie es dennoch mit aller Macht wissen. Im vierten Jahr ihres Medizinstudiums kreuzt ihr Blick an einem regnerischen Wintermorgen den ihres Pathologiedozenten. Sie schaut nicht weg. Einen zeitlosen Moment lang bleiben ihre Blicke ineinander verhakt. Das zuletzt gesprochene Wort hallt noch durch den Raum: »Mitralis-Stenose«. Die lange Pause verleiht dem Begriff Gewicht; die Studenten beugen sich über ihre Aufzeichnungen, notieren das Wort in Großbuchstaben, unterstreichen es. Lisa sitzt aufrecht da und schaut in die Augen des fünfundvierzigjährigen Mannes. In ihrem Blick liegt ihre ganze Sehnsucht, ihre ganze Leidenschaft. Zum erstenmal in ihrem Leben öffnet sie sich. Gerard Bleeker (verheiratet, Hypothek, Segelboot) ist heiser, als er weiterspricht. Nach dem Fakultätsumtrunk, schon leicht angesäuselt, zwischen den stinkenden Mänteln in der Garderobe mit der kumpelhaften Sekretärin herumknutschen, die so frech ihren Hintern zur Schau stellt, wenn sie seine Akten einsammelt; nach der letzten Vorlesung in der Kneipe an der Ecke ein Glas sauren Wein trinken mit der einzigen interessanten Studentin, die in diesem Semester dabei ist, ein gutes Gespräch, eine Hand auf ihrem Knie ? das kennt er, da weiß er, wann er auf die Bremse treten muß. Lisas Hingabe jedoch ruft alte Jugendträume in ihm wach und bringt ihn eine Zeitlang völlig um den Verstand. Er verliert den Bezug zur Realität, er vergißt, daß es in seinem Leben auch noch andere Menschen gibt, er will nicht wahrhaben, daß er sich in eine unmögliche Situation hineinmanövriert hat. Ein halbes Jahr lang geben sich beide einem glückseligen Wahn hin. Sobald es Frühling wird, bringt Gerard sein Boot auf Vordermann und richtet es zu ihrem Haus, zu ihrem Nest her. Um im Heimathafen keinen Verdacht aufkommen zu lassen, verabreden sie sich an entfernten Orten; Lisa nimmt umständliche Anreisen auf sich, nach Medemblik, nach Hindeloopen. Sie lieben sich auf dem Boden des Bootes, vom Wasser gewiegt. Sie liegen im Gras am Flußufer nackt in der prallen Sonne, vögeln, bis sie untergeht, und sind so sehr aufeinander konzentriert, daß sie die vorüberfahrenden Schiffe (»Gut so, weitermachen!«) und die neugierig näher gekommenen Kühe nicht bemerken. Abends essen sie fettigen Fisch in der Hafenkneipe, bevor sie, befriedigt und eng umschlungen, unter dem Großsegel einschlafen. Die Sommerferien sind eine Katastrophe. Gerard hockt drei Wochen mit seiner Frau auf einer Alm und unternimmt trübsinnige, einsame Wanderungen. Lisa hockt verzweifelt in ihrem Zimmer und holt den vernachlässigten Examensstoff nach, während sie zwischendurch lange Briefe an ihren Geliebten schreibt ? postlagernd. Er ist nicht der erste Mann für sie. Aber er ist der erste, mit dem sie es aus schier endlosem Verlangen und mit ganzem Einsatz tut. Sein Glied tief in ihrer Scheide zu fühlen, ist ihr ganzer Lebenszweck. Sie ist mit netten Kommilitonen ins Bett gegangen, aus Sympathie nach einem schönen Gespräch; sie hat mit einem in der Kneipe aufgegabelten Piloten geschlafen, aus Neugier. In der Nacht vor seiner definitiven Abreise auf die Antillen hat sie es mit einem frischgebackenen Juristen getrieben, um es ihm beizubringen. Sie haben Glück, der Herbst in den Dünen und Parks ist mild, aber als das Boot dann im November in den Schuppen kommt, wird die Ehefrau mißtrauisch. Gerard bezieht eine Wohnung in einem Neubauviertel, seiner Frau läßt er das Haus und zahlt eine großzügige Abfindung. Zwischen den kahlen Wänden empfindet er eine neue Freiheit. Er schläft mit Lisa auf einer Matratze auf dem Fußboden. Sie heiraten im Frühjahr, nach Lisas Staatsexamen.mehr
Kritik
"Ein hinreißendes Buch, das man in einem Atemzug durchliest." De Telegraafmehr

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Autor

Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren, ist ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete lange Jahre als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Romane und Erzählungen. Ihre Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in fünfzehn Sprachen übersetzt. Anna Enquist lebt in Amsterdam.Hanni Ehlers, geb. 1954 in Ostholstein, studierte Niederländisch, Englisch und Spanisch am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Heidelberg und ist die Übersetzerin von u.a. Joke van Leeuwen, Connie Palmen und Leon de Winter.