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Ein Zimmer im Haus des Krieges

Roman
TaschenbuchKartoniert, Paperback
320 Seiten
Deutsch
btberschienen am01.07.2008
Verstehen, nicht verurteilen - eine Reise in das Herz des Fundamentalismus

Ägypten, Luxor, 1993: Gemeinsam mit einigen arabischen Mitkämpfern plant der junge Deutsche Jochen Sawatzky einen Anschlag auf einen Tempel. Doch als die Attentäter den Nil überqueren, geraten sie in einen Hinterhalt von Polizei und Militär. Nur wenige überleben, darunter Sawatzky. Mit dem Fall betraut wird Claus Cismar, der deutsche Botschafter in Ägypten. In langen Gesprächen mit Sawatzky versucht er, die Motive seiner Tat zu ergründen und seine Auslieferung nach Deutschland zu erreichen ...
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
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EUR8,99

Produkt

KlappentextVerstehen, nicht verurteilen - eine Reise in das Herz des Fundamentalismus

Ägypten, Luxor, 1993: Gemeinsam mit einigen arabischen Mitkämpfern plant der junge Deutsche Jochen Sawatzky einen Anschlag auf einen Tempel. Doch als die Attentäter den Nil überqueren, geraten sie in einen Hinterhalt von Polizei und Militär. Nur wenige überleben, darunter Sawatzky. Mit dem Fall betraut wird Claus Cismar, der deutsche Botschafter in Ägypten. In langen Gesprächen mit Sawatzky versucht er, die Motive seiner Tat zu ergründen und seine Auslieferung nach Deutschland zu erreichen ...
Details
ISBN/GTIN978-3-442-73768-0
ProduktartTaschenbuch
EinbandartKartoniert, Paperback
Verlag
Erscheinungsjahr2008
Erscheinungsdatum01.07.2008
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Gewicht298 g
Artikel-Nr.10863839
Rubriken

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Erster TeilZwischen Gebeten der Traum: Arua hat mich angeschaut. Ein langer Blick für den Bruchteil einer Sekunde. Weder Ermutigung noch Abscheu. Zwei schwarze Löcher, in denen alles verschwand. Dann schloß sie die Augen und drehte sich weg. Das Haar fiel offen über die Schultern. Sie hätte es verhüllen müssen. Trauer, von der ich wach geworden bin. Das falsche Gefühl. Zumindest nicht Angst. Um mich herum war es finster. Die Glut in der Feuerstelle gab kein Licht an den Raum. Ich richtete mich auf. El Choli stand scharf umrissen im Eingang der Höhle. Sein Maschinengewehr teilte Himmel und Landschaft. Draußen schien die Nacht ungewohnt hell. Mond beleuchtete die Bergrücken, harte Schatten von Vorsprüngen auf den Hängen. Unter der Decke hing kalter Rauch. Er steckte in Kleidern, Laken, füllte bitter den Mund. Achmed phantasierte. Jamal rang mit einem Alp. Die Luft war schwer von Ausdünstungen.Ich stand auf, tastete nach dem Teppich, schlich zum Eingang. El Choli fuhr erschrocken zusammen. Wortlos ging ich an ihm vorbei. Sein Mißtrauen folgte mir. Einen Moment lang dachte ich, er würde durchdrehen, schreien, schießen. Nichts geschah. Die Sterne leuchteten grell, ihre Anordnung ließ keine Gesetzmäßigkeit erkennen. Ich kniete nieder, legte die Hände auf den Sand, blies den Staub von den Flächen und reinigte mich. Dann breitete ich den Teppich aus und wandte mich nach Mekka.Sprich: Er ist Gott, der Eine. / Gott, der Undurchdringliche. / Er zeugt nicht und ward nicht gezeugt / und da ist keiner, der Ihm gleicht.Aruas Traumgesicht löste sich nicht auf. Ich wurde nicht still. Um mich herum arbeitete der Fels, Brocken stürzten ab, Kies rutschte nach.Ich saß, ich sitze hier, versuche Kraft zu sammeln, die Gedanken zu ordnen. Sie schweifen, jagen Bilder einer Vergangenheit, die kaum noch meine ist: Mutter, fett und allein, Nüsse kauend beim Fernsehen; frühmorgens im grauen Hosenanzug, rechts die Kaffeetasse, links das Käsebrot; froh über ihre Unkündbarkeit als Finanzbeamtin im mittleren Dienst; eine Art Liebe. Der Blick von der Anhöhe auf das Rheintal, Dunst über dem Wasser, Haschischrauch im Mund, die Flasche in der Hand, Grillen, laut wie ein Güterzug. Im Rock-Café: Warten auf den Mann, der einen Zopf tragen und sich »Falko« nennen wird. Noch ehe er sich vorstellt, weiß ich, welchen Geschmack Verrat hat. Aruas schlanke Gestalt vor der Pizzeria. Ich möchte sie nach ihrem Namen fragen und wage es nicht.Samirs Wecker klingelt. Fünf Uhr. Der Tag, auf den wir hingelebt haben, beginnt mit einem häßlichen, elektrisch erzeugten Ton, seiner siebenfachen Wiederholung, gefolgt von Echos, die sich überschneiden. Wenn alles nach Plan läuft, werden wir in acht Stunden beim Tempel sein. Gedämpfte Stimmen. Obwohl die nächsten Häuser weit entfernt liegen, wird nur das Nötigste gesprochen. El Choli beruhigt sich. Hinter ihm huschen Kegel von Taschenlampen über die Wände. Samir tritt neben ihn, prüft den Horizont.Noch herrscht Nacht. In wenigen Minuten wird das Dunkel aufbrechen. El Choli flüstert ihm etwas zu, deutet in meine Richtung. Er hält es für einen Fehler, mich mitzunehmen. Einer nach dem anderen kommen die Brüder heraus, gehen zu der Sandfläche, reiben sich den Schmutz des Schlafes vom Leib. Ich wechsle einige Sätze auf deutsch mit Karim. Er erzählt von seiner Schwester. Sie kellnert in einer Studentenkneipe. Seit dem Tod des Vaters trägt er die Verantwortung für sie und wird ihr nicht gerecht.Schon daß El Choli manchmal nicht versteht, worüber wir sprechen, erbost ihn. Samir winkt mich heran: »Vor dem Kampf ist es wichtig, Ruhe zu finden«, sagt er. »Alle Ruhe liegt in Gott«, antworte ich. Erst jetzt spüre ich die Kälte der Wüste vor Tagesanbruch. Auf meiner Haut ein Film aus trockenem Schweiß, pulverisiertem Stein.Es beginnt zu dämmern. Hinter den Bergen jenseits des Wadis verbreitert sich ein heller Streifen: die Zeit des Morgengebets. Vielleicht wird es unser letztes sein. Wir stellen uns in einer Reihe hinter Samir auf, der Heiligen Moschee zugewandt, Seite an Seite mit Abraham, Ismael, Jesus, Mohammed, mit allen, die gläubig waren und sind, vor und nach uns.Bei der Morgenröte! / Und bei den zehn Nächten! / Und beim Geraden und Ungeraden! / Und bei der Nacht, wenn sie vergeht! / Ist das kein Beweis für den, der Verstand hat? / Hast du nicht gesehen, wie dein Herr mit den 'Ad verfuhr, / mit Iram, ihrer säulenreichen Stadt, / der nichts im Land glich? / Und mit den Thamuud, die den Fels aushöhlten im Tal? / Und mit Pharao samt seinen Prachtzelten? / Die allerorten frevelten / und Verderben stifteten? / Dein Herr ließ die Geißel der Strafe auf sie niederfahren...Während meine Stirn den Boden berührt, erlischt die sichtbare Welt. Die unsichtbare wird von Bildern verhüllt: Unsere ? Mutters ? Wohnung vollgestopft mit Teddybären; geblümte Schleifen raffen die Gardinen zusammen. Hochwasser; der Pfarrer bringt die Kommunion per Boot; wo er vorbeifährt, bekreuzigen sich die Leute. Meinen Arm in den Rücken gedreht, stößt mich der Zivilfahnder in den Wagen.»Friede und Gottes Barmherzigkeit sei mit Euch.« Ich wende mich nach rechts, nach links, stehe auf, falte den Teppich zusammen. Ein Vogel gleitet über uns hinweg dem Nil zu. Der graue Streifen Licht hat sich in Gelb verwandelt, das weiter oben die Schwärze durchdringt. Die Kante der Sonne scheint orange über den Hügeln, bringt die Wüste zum Glühen. »Pack dein Zeug, Jochen«, brüllt El Choli. »Ich heiße Abdallah!« antworte ich. »Hört auf herumzuschreien«, zischt Mohammed. Ich gehe zu meinem Platz in der Höhle, rolle die Decke auf, räume Pullover, Konserven, Bücher, das Briefbündel aus dem Rucksack, lege alles auf einen Stapel, dazu die schriftliche Verfügung. Aruas winzigen, von Lippenstift beschmierten Qur'an stecke ich in die Hosentasche.Shukri hat den Gaskocher angezündet und Wasser aufgesetzt. Der Gestank von neun Männern, die am Vortag durch Gluthitze marschiert sind, ungewaschen eingeschlafen, stört ihn nicht. Er ist mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Seine Familie haust in einem einzigen Raum aus Lehmziegeln. Kein eigenes Zimmer, abschließbar, mit Stereoanlage, Gitarre, justierbarem Schreibtischstuhl für eine orthopädisch korrekte Haltung beim Lernen. Ich öffne eine Dose Foul, schütte sie in den zweiten Topf, halte Shukri meinen Becher hin. Er gießt süßen Tee ein.Die Sonne steht jetzt voll über den Bergen. Nach wie vor wird wenig gesprochen. Jeder hängt seinen Gedanken nach, bereitet sich vor, auf was man sich nicht vorbereiten kann.Die unsinnige Frage, was andernfalls gewesen wäre: Es ist nicht der Fall.Der Tee wärmt, schärft die Aufmerksamkeit. Klarheit und Konzentration als physische Reaktionen. Außerdem: Schlafmangel, Leere im Bauch.Es wird viele Tote geben. So Gott will. Deutsche, Amerikaner. Ich hasse sie nicht. Nicht mehr. Sie haben keine Bedeutung. Jedem Menschen ist sein Ende bestimmt. Wenn er ausgelöscht wird, verblaßt kein Stern. Am Tag des Gerichts legt seine Haut Zeugnis über ihn ab. Dann wird er in Gärten geführt oder zum Abgrund. Und was läßt dich wissen, was der Abgrund ist? / Loderndes Feuer. Ich bin ein Werkzeug. Die Schalen mit Gottes Zorn sind voll. Seine letzte Gemeinschaft hat sich abgekehrt, ist in die Zeit der Unwissenheit zurückgefallen, bis auf wenige. Der Rest befindet sich im Krieg. Wir haben ihn nicht gewählt, er wurde uns aufgezwungen. Wir verteidigen das Haus des Islam, das der Präsident und seine Clique verkaufen, für Dollarmillionen. Sie verkaufen, was ihnen nicht gehört, was sie gestohlen haben, mit Hilfe von Waffen aus Amerika und Europa, wie die Bande Al Saud, die den Ungläubigen die Heiligen Stätten überlassen hat als Aufmarschgebiet für den jüngsten Kreuzzug im Namen des Ölgötzen. Vielleicht werden wir sterben. Wen kümmern ein paar Tage mehr oder weniger? Lächerlich, sich daran zu klammern.Shukri kommt mit dem Topf. Die Bohnen schwimmen in Fett. Zunächst geht er zu Samir. Samir erwartet das nicht, im Gegenteil: Er wäre lieber der letzte. Mehr als Wissen und Erfahrung zeichnet ihn Bescheidenheit aus. Shukri besteht darauf, ihn als ersten zu bedienen. Er ist in der Furcht vorHöhergestellten aufgewachsen, gewohnt, daß Macht Privilegien bedeutet. Ich nehme eine halbe Kelle statt zwei. Mein Magen hat sich auch nach neun Monaten nicht auf das ägyptische Frühstück umgestellt. Jamal bringt eine Tüte dünnes Fladenbrot. Wir bilden einen offenen Kreis, essen schweigend. Ich hocke zwischen Karim und Achmed. El Choli hält größtmöglichen Abstand zu mir. Sein Maschinengewehr liegt griffbereit neben ihm und zeigt auf mich. Das kann Zufall sein. Er wird es zurücklassen. Wir haben gestritten, ob der Abstieg bewaffnet oder unbewaffnet erfolgen soll. Meine Argumente gegen Waffen haben die anderen überzeugt, bis auf El Choli. Die Niederlage ist Teil seiner Erbitterung, nicht ihre Ursache. Er hat mich von Anfang an verachtet, obwohl ich ihm gegenüber freundlich gewesen bin, seit wir uns kennengelernt haben, vor drei Monaten, nahe Assyüt. Alle außer ihm sind mir mit Respekt begegnet, gerade weil ich nicht im Islam geboren wurde, weil ich danach gesucht habe, allein. Durch Gottes Rechtleitung wurde meine Suche beendet. Das ist eine besondere Gnade, sagt Karim. Die ich nicht verdiene.Der Himmel hat jetzt die bleiche Farbe des Tages. Staub verwischt die Konturen der entfernteren Bergketten. Salah wirkt angespannt. Ihm fällt der Brei vom Brot in den Napf zurück. Er greift an sein stoppeliges Kinn, fährt sich übers Haar, als wollte er Fliegen verscheuchen, die es hier nicht gibt. Samir spürt seine Nervosität, legt ihm die Hand auf den Arm. In Salahs Augen leuchtet Dankbarkeit, dann hastet sein Blick über unsere Gesichter, besorgt, daß jemand seine Angst bemerkt. »Gott ist größer«, sagt er, »Er wird uns schützen. Ich bin sicher, wir werden siegen, wie der Prophet in der Schlacht von Badr gesiegt hat.«Er muß reden, um zu hören, was er denkt, sonst glaubt er es nicht. »So Gott will«, sagt Samir. »So Gott will«, murmeln Mohammed und El Choli. Salah verstummt. Er ist jung. Zwanzig. Die ersten neunzehn Jahre hat er als Liebling seiner Mutter im feinen Zamalek verbracht, während der Vater am Golf Spezialeinheiten ausbildete und viel Geld verdiente. Karim schaut mich an, hebt ratlos die Schultern. Salahs Schwäche stellt ein Risiko dar. Karim sagt das nicht. Er sucht einen harmlosen Witz, um ihn zum Lachen zu bringen, hält inne. Es ist nicht der Zeitpunkt für Witze. Statt dessen rezitiert er: »Und haltet die auf Gottes Weg Gefallenen nicht für tot. Nein! Sie leben bei ihrem Herrn und werden versorgt.«Salah nickt: »Gepriesen sei Gott.«Das Licht blendet. Ich setze die Sonnenbrille auf. Meine blaue Iris reagiert empfindlicher als die dunkelbraunen der Brüder. Samir ißt noch. Er kaut jeden Bissen mit Bedacht, kratzt den Teller aus, ohne aufzuschauen, während wir einer nach dem anderen unseren Blick auf ihn richten. Acht Paar Augen sammeln sich erwartungsvoll auf einem Gesicht, das keinerlei Regung zeigt. Nachdem er sich die Finger abgeleckt hat, bringt er sein Geschirr in die Höhle. Keine seiner Bewegungen ist fahrig oder unnütz. Ich habe nie ein überflüssiges Wort aus seinem Mund gehört. In allem folgt er dem Beispiel des Propheten. Als er den Bart abgenommen hat, um nicht Gefahr zu laufen, in letzter Minute von übermotivierten Polizisten eingesperrt zu werden, bat er Gott um Vergebung.Er kehrt aus dem Dunkel zurück, steht da, sehnig, mit scharfkantigem Profil, schaut über das Tal wie ein Feldherr, der weiß, daß die Truppen bedingungslos folgen. Er braucht keine Rede zu halten. Sein Anblick vertreibt jeden Zweifel. »Im Namen Gottes des Erbarmers, des Barmherzigen«, sagt er und schultert den Rucksack. Damit beginnt der Abstieg. Mohammed als erster, gefolgt von Samir.Es braucht nicht viele Dinge für den Weg. Hauptsächlich Wasser, etwas Brot. Mohammed hat Karten, einen Kompaß. Achmed trägt das Satellitentelephon, Samir und Jamal Ferngläser. Das meiste bleibt zurück. Es wäre Ballast, der die Bewegungsfreiheit einschränken würde. Für den Fall, daß uns die Flucht gelingt, wir eine weitere Nacht hier verbringen müssen, werden wir froh sein, wenn es noch da ist.Geübte Handgriffe, austauschbare Erinnerungen. Gleichgültigkeit. Ich habe mir abgewöhnt, auf große Gefühle zu warten. Glaube ist keine Sache des Gefühls. Gott antwortet, wann es Ihm gefällt. Nicht einmal die Hinwendung läßt sich erzwingen. Man kann sich bemühen. Wenn Er will, daß es vergeblich ist, wird es vergeblich sein. Die Worte bleiben eine Bewegung der Lippen, während das Herz sich selbst umkreist, nicht einmal Seinem Schweigen begegnet. Auch die Enttäuschung habe ich mir abgewöhnt. Manchmal sickert sie heimlich ein, ein Tropfen Gift. Jetzt, wo ich kurz davor bin, alles zu opfern. Ich habe mir etwas erhofft von diesem Moment. Es war in einem finsteren Winkel eingesperrt, so daß ich es während der Vorbereitungen fast vergessen hatte. Hoffnung auf etwas Unvergleichliches, das mich vollständig ausgefüllt hätte. Eine Ahnung davon. Es ist selbstsüchtig gewesen. Hochmut, der das Opfer entwertet. Ob ihr verbergt, was in euren Herzen ist, oder es kundtut, Gott weiß darum.Zunächst müssen wir durch eine Wand. Mohammed und El Choli haben Ringe verankert, durch die ein Seil führt. Ringe und Seil waren meine Idee. Mutter hat sie zusammen mit einem Paar Bergstiefeln aus Deutschland geschickt, in der Annahme, ich würde Wandertouren zu antiken Stätten unternehmen.Das Gehen ist mühsam, weniger anstrengend als der Gewaltmarsch gestern. Noch hält sich die Gefahr in Grenzen. Es sei denn, einer hätte sich verkauft. Das traue ich niemandem zu. Alle außer Salah, Karim und mir haben bewiesen, daß sie bereit sind, sich foltern zu lassen, zu sterben. Warum hätte einer abtrünnig werden sollen? Salah hat lediglich Angst. Für Karim würde ich meine Hand verwetten. Soweit ich weiß, kennen sonst nur drei Leute unseren Aufenthaltsort und einen vagen Zeitplan. Wenn wir verraten worden wären, hätte die Armee uns schon gestern angegriffen. Unsere Vernichtung im Vorfeld wäre propagandistisch besser auszuschlachten gewesen: Seht her, die Regierung kennt Pläne und Schlupfwinkel der Terroristen, keine Verschwörung bleibt verborgen, fürchtet euch nicht, herzukommen und das Erbe zu bestaunen, das Ägypten der Welt geschenkt hat. Seid Gäste im Land der Pharaonen! Laßt reichlich Devisen hier!Die Piste, die zur Straße nach Luxor führt, befindet sich fünfundzwanzig Kilometer entfernt in östlicher Richtung. Es gibt keine befestigten Wege hinunter, nicht einmal Hirtenpfade. Man muß auf jeden Schritt achten. El Choli, Samir und Mohammed tragen Armeestiefel, die anderen Turnschuhe. Salahs sind von Nike, ein Mitbringsel des Vaters aus Abu Dhabi, für das er sich ständig entschuldigt. Wenn einer ausrutschen, sich den Fuß verstauchen würde, dürften die anderen keine Rücksicht nehmen. Er bliebe liegen mit dem, was er bei sich hat. So wurde es vereinbart. Die Wahrscheinlichkeit, daß ihn jemand findet oder daß er es allein bis zur nächsten Siedlung schafft, ist gering. Selbst wenn er hinkend oder kriechend vorwärtskäme, würde er die Orientierung verlieren, den Mut. Die Berge sind kaum voneinander zu unterscheiden. Dies Tal scheint eine Kopie des vorigen. Lagen zwei oder vier Stunden zwischen dem weißen Skelett des Dromedars und dem der Ziege, das von Fellresten überzogen war? Dünen wandern, entpuppen sich als Luftspiegelungen, sobald man sich nähert. Das Licht ist so grell, daß man sich unmöglich bestimmte Formationen einprägen kann. In der Hitze schmilzt das Hirn und verliert die Merkfähigkeit, wenn man kein Beduine ist, seit Jahrhunderten der Wüste angepaßt, mit Skalen und Begriffen für tausend Spielarten von Braungrau, Beigegrau, Rotgrau. Das Zeitgefühl zerbricht. Wir folgen den Steinhaufen, die Mohammed und El Choli während der vergangenen Monate errichtet haben, als sie das Gebiet erkundeten, immer neue Routen probierten, um die Schwierigkeiten der einen gegen die Umwege einer anderen abzuwägen. Mohammed ist studierter Geograph. Das Zeichnen von Karten im offenen Gelände hat er nicht an der Universität gelernt, sondern in Afghanistan. Er gehörte zur selben Einheit wie El Choli und Samir. Auch dort ist Samir zum Schluß Kommandeur gewesen, obwohl er aus einem fremden Land stammte. Sie finden sich in jeder Gegend zurecht, sind an allen Waffen ausgebildet, bis in den letzten Muskel trainiert. Oft mußten sie sich wochenlang durch Wildnis schlagen, ihre Ausrüstung auf den Rücken gepackt. Sie haben sich von dem ernährt, was das Land hergab, was die Leute in entlegenen Dörfern ihnen schenkten. Doch ihre Angriffe waren so effektiv, daß die zweitstärkste Streitmacht der Welt nach zehn Jahren Verlusten gedemütigt abzog. Wir haben viel von ihnen gelernt. Ohne ihre Kenntnisse und Kontakte wäre dieser Plan nicht zustande gekommen. Gelingt er, wird die Welt erschüttert.Die Hubschrauberpatrouillen, die neuerdings von der Armee geflogen werden, sind in den nächsten Stunden die Hauptgefahr. Der Pilot würde uns bemerken, trotz der sandfarbenen Kleidung. Er würde uns einkreisen, Verstärkung rufen. Sollten wir versuchen zu fliehen, würde der Soldat an den Bordgeschützen uns niedermähen. Sonst nicht. Wir könnten ebensogut Touristen sein. Unser Tod würde diplomatische Verwicklungen nach sich ziehen, weitere Reiseveranstalter abschrecken. Ich habe ein gültiges Visum, Jamal einen englischen Paß. Er ist in London aufgewachsen. Karim lebt seit fünfzehn Jahren in Deutschland. Wir sind unbewaffnet, bis auf Messer. Die anderen hätten wir als Führer engagiert. Daß sie keine staatliche Lizenz haben, ist ein Bagatellverstoß.mehr
Kritik
"Was mich fasziniert, ist der Gedanke, dass etwas Geistiges eine derartige Kraft haben kann, dass man dafür sein Leben opfert - und gegebenenfalls auch dafür tötet." Christoph Petersmehr

Autor

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand die ersten beiden Teile einer an Wolfgang Koeppen angelehnten Trilogie: "Der Sandkasten" (2022) und "Krähen im Park" (2023).