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Der neue Berg

Roman
TaschenbuchKartoniert, Paperback
433 Seiten
Deutsch
btberschienen am02.06.2008
Einer der berühmtesten Schweizer Romane der letzten zwanzig Jahre

Roland hat das Alleinleben satt. Heinz kämpft um die Liebe seiner Ehefrau. Den Gemeindepräsidenten plagt eine unangenehme Kälteallergie - und diese drei Männer sind nicht die einzigen, die sich auf die Entwicklungen in der Nähe des Keltengrabs oberhalb von Zürich keinen Reim machen können: Was bedeuten die Risse, die sich im Erdboden zeigen und langsam größer werden? Daran, dass ein Vulkan ausbrechen könnte und ein neuer Berg aus dem Boden schließen könnte, denkt niemand. Aber eigentlich sollten doch alle gewarnt sein. Die Natur lässt schließlich nicht mit sich spaßen ...

Schullektüre, Auswahlthema zum Abitur
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TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextEiner der berühmtesten Schweizer Romane der letzten zwanzig Jahre

Roland hat das Alleinleben satt. Heinz kämpft um die Liebe seiner Ehefrau. Den Gemeindepräsidenten plagt eine unangenehme Kälteallergie - und diese drei Männer sind nicht die einzigen, die sich auf die Entwicklungen in der Nähe des Keltengrabs oberhalb von Zürich keinen Reim machen können: Was bedeuten die Risse, die sich im Erdboden zeigen und langsam größer werden? Daran, dass ein Vulkan ausbrechen könnte und ein neuer Berg aus dem Boden schließen könnte, denkt niemand. Aber eigentlich sollten doch alle gewarnt sein. Die Natur lässt schließlich nicht mit sich spaßen ...

Schullektüre, Auswahlthema zum Abitur
Details
ISBN/GTIN978-3-442-73786-4
ProduktartTaschenbuch
EinbandartKartoniert, Paperback
Verlag
Erscheinungsjahr2008
Erscheinungsdatum02.06.2008
Seiten433 Seiten
SpracheDeutsch
Gewicht360 g
Artikel-Nr.10863989
Rubriken

Inhalt/Kritik

Leseprobe
An einem schönen Frühlingsnachmittag rannte ein Mann im blauen Trainingsanzug mit leichten Schritten durch den Wald. Die Sonne schien durch das frische Laub, die Vögel zwitscherten geradezu unglaublich, und der Autobahnlärm weit im Hintergrund klang friedlich und gleichmäßig wie das Rauschen eines Wasserfalls.Der Mann fühlte sich gut und locker. Es war Montag, er hatte einen freien Tag und genoß es, daß er nicht demselben Rhythmus unterworfen war wie die Mehrzahl der Leute. An Wochenenden beispielsweise war dieser Weg voll von Joggern, da lief er nicht so unbeschwert, sondern hatte immer das Gefühl, er müsse sich mit den andern messen, freute sich, wenn er jemanden überholen konnte, und ärgerte sich über alle, die ihn überholten, besonders über die Frauen.Jetzt aber waren nur vereinzelt alte Leute unterwegs, zwei graue Spaziergängerinnen drehten sich erschrocken um, als sie seine Schritte hörten, doch sein Kostüm wies ihn als harmlos aus. Der Mann sah in Gedanken den Tag kommen, an dem man in seinem Alter den Wald nur noch im Trainingsanzug betreten durfte, um niemanden zu ängstigen. Er war dreiunddreißig, hatte kurze, schwarze Haare und einen Schnurrbart, und als er nun an den beiden Spaziergängerinnen vorbeizog, ihnen einen Gruß zuwarf, den sie manierlich erwiderten, dachte er, wie sie wohl reagiert hätten, wenn er in einem Sträflingsanzug dahergekommen wäre. In seinem Gesicht jedenfalls gab es keinen Zug, der nicht auch einem Kriminellen oder Entwichenen hätte gehören können, und jedesmal, wenn er für ein Ausweisfoto in einen dieser Automaten ging und nachher seine eingezogenen Schultern und die weit aufgerissenen Augen sah, kam es ihm vor, als habe er das Fahndungsbild eines Terroristen in der Hand.Dabei hatte er einen Beruf, bei welchem Solidität und Zuverlässigkeit zu den ersten Anforderungen gehörten. Er war Techniker beim Fernsehen, Aufzeichnungstechniker, und wenn seine Maschine nicht lief, gab es kein Fernsehen. Der Beruf war zwar nicht schwierig, aber anspruchsvoll, so, daß er dringend einen Ausgleich brauchte, schwimmen etwa oder velofahren oder einfach durch den Wald rennen.Der Weg machte nun eine Kurve, und dahinter mußte der Mann einem kleinen Kind ausweichen, das ihm auf seiner Seite entgegenwatschelte, indem es die Hände um eine unsichtbare Lenkstange klammerte und dazu unablässig Motorengebrumm ausstieß. Halb belustigt und halb verärgert machte er einen Bogen um den winzigen Motorradfahrer, welcher so versunken in seine Fahrt war, daß er ihn überhaupt nicht wahrnahm. Ärgerlich war für den Mann die Störung seines Lauftakts, aber als die Mutter des Kindes, die gleich danach mit ihrem leeren Buggy folgte, ein Wort der Entschuldigung sagte, winkte der Mann ab - böse sein war sowieso etwas, das er nicht konnte. Die Frau hatte er übrigens auch schon gesehen samt ihrem Kind, sie war blond, klein und etwas füllig, sehr jung noch und hatte ein Strahlen auf dem Gesicht, als ob es nichts Schöneres auf der Welt gäbe als Mutter zu sein und ein Kind durch den Wald zu treiben.Der Mann war geschieden und hatte keine Kinder. Nach zwei Jahren Ehe, in denen nichts von dem eingetreten war, was er erhofft hatte, war er beim Gedanken, dies gehe nun bis zum Lebensende so weiter, von einem solchen Grauen befallen worden, daß er allen seinen Mut zusammengenommen hatte, um seiner Frau die Scheidung vorzuschlagen, was sie zu seiner Überraschung sogleich annahm. Sie trennten sich dann im Frieden, und seither - das war vor fünf Jahren - lebte er allein in einer Zweizimmerwohnung in einem der Vororte von Zürich, die zahlenmäßig schon längst Stadtgröße erreicht hatten, ohne jedoch den geringsten städtischen Geist zu atmen, und obgleich sie alle auf -kon oder -wil oder -dorf endeten, waren sie auch keine Dörfer mehr, sondern gehörten zu diesen Kunstklumpen aus Stadt und Land, für die nur noch ein Fremdwort übrigbleibt: Agglomeration.Von weitem war nun einer mit einem Schäferhund zu sehen. Der Hund war offensichtlich nicht an der Leine, trotz der Tollwuttafeln an sämtlichen Waldrändern. Der Mann haßte Schäferhunde. Gewöhnlich wurden sie von den Schäferhundehaltern an der Leine geführt und schauten einen an wie ein unterdrücktes Volk, deprimiert, feindselig, zu allem fähig. Der da vorn ließ seinen Untertanen also laufen, was den Hund aber auch nicht gemütlicher machte, so daß sich der Läufer der Begegnung entzog, indem er auf einen kleinen Pfad abschwenkte, der seitlich abbog. Er kannte den Pfad, ohne genau zu wissen, wo er hinführte. Das gefiel ihm an dem Wald hier, die vielen Pfade, deren Verbindung er sich nie wirklich merken konnte, so erlebte er in einem bekannten Gelände immer wieder Überraschungen.Er hatte nun auf Wurzeln aufzupassen, die über den Boden krochen, ab und zu mußte er sich auch bücken eines Astes wegen, einmal kratzte ihn ein spitzes Blatt an der Hand, und er drehte sich um, um zu schauen, ob es eine Stechpalme war, wie er im ersten Moment dachte, und so war es auch, dann wurde es steiler, der Pfad begann sich etwas zu verlieren im Jungholz, ein am Boden liegender Baumstamm, auf welchen er mit einem kleinen Sprung hüpfte, war alt, morsch und feucht und brach unter seinem Tritt ein, dann konnte er nicht mehr rennen und stieg keuchend zwischen den brusthohen Bäumchen hinan, in Erwartung des nächsten größeren Waldweges. Als er ein metallisches Klirren hörte, wußte der Mann wieder, wo er war. Da oben erwartete ihn die Station Nr. 10 des Vitaparcours, die mit den Ringen. Zwischen Holzpfählen hingen drei Paar Ringe in verschiedener Höhe, an die man sich, wie einem eine Turnerfigur auf einer hellblauen Tafel schematisch nahelegte, hängen sollte, um dann mit den Beinen zu kreisen oder mit den Hüften zu wackeln. Gerade war ein Fitneßsuchender abgesprungen, um weiterzulaufen, und die leeren Ringe, die vorher gegeneinandergeschlagen hatten, baumelten noch zwischen den Balken. Dem Mann waren diese organisierten Übungen zuwider. Der Ort mit den Ringen kam ihm vor wie ein Richtplatz, und er setzte sich wieder in Trab, aber nicht in der Richtung des Sportlers.Er lief bis zur neunten Vitastation, an welcher man aufgefordert wurde, über einem Baumstamm hin- und herzuhopsen, und wählte dann eine kaum sichtbare Spur, die sich linker Hand in ein Wäldchen mit jungen Tannen zog. Es war ein Wald im Wald, mit einer besonderen Stimmung, der Boden war federnd weich und schien die Geräusche aufzuschlucken, etwas dunkler war es auch, man sah die einfallenden Sonnenstrahlen einzeln und glaubte sie anfassen zu können. Zwei Rehe entfernten sich widerwillig, ohne besondere Eile, man merkte, daß sie sich hier zu Hause fühlten. Es ging nun noch einmal bergauf, der Mann strengte sich aber an, seinen Laufschritt beizubehalten. Dies gelang ihm nicht ganz, da er, als sich die Tännlein lichteten, über eine Wurzel stolperte und beinahe hinfiel. Damit war er aus dem Tritt und erstieg den kleinen Hügel, der vor ihm lag, im Gehen.Oben setzte er sich tief atmend auf den großen Stein, der auf der Hügelkuppe lag, oder auf der Hügelfläche vielmehr, denn der Hügel war oben platt. Dies war einer seiner Lieblingsorte im Wald, hier waren Keltengräber gewesen, wie eine kleine, in den Stein eingeschraubte Tafel mitteilte, Gräber, die im letzten Jahrhundert von einem Postbeamten entdeckt wurden, der in seiner Freizeit als Archäologe tätig war, der hatte diesem Hügel offenbar angesehen, daß etwas Besonderes mit ihm verbunden war, und manchmal dachte der Mann, es sei ungerecht, daß der Hobbyarchäologe ein Jahrhundert Vorsprung auf ihn gehabt hatte, er wäre auch draufgekommen, daß dies kein gewöhnlicher Erdbuckel war. Jedenfalls saß er gerne hier und dachte nach oder dachte nichts und begnügte sich einfach damit, da zu sein und auf diesem Stein zu sitzen, unter dem vor ein paar tausend Jahren Menschen beerdigt worden waren.Es wird nun Zeit, diesem Mann einen Namen zu geben, und ich möchte ihn Steinmann nennen, Roland Steinmann. Sie wissen genausogut wie ich, daß es eine Frechheit ist, eine erfundene Person mit einem Namen auszurüsten und damit so zu tun, als gäbe es sie wirklich, aber ich möchte Ihnen eine längere Geschichte erzählen, die sich zwischen Menschen abspielt, und da sehe ich einfach nicht, wie ich ohne Namen auskomme. Ich verspreche Ihnen dafür, daß, wer immer in dieser Geschichte auftaucht, seinen Namen mit einer Selbstverständlichkeit tragen wird, als sei er damit auf die Welt gekommen, und daß auch Sie sich allmählich in dieser erfundenen Welt bewegen werden, als gäbe es sie wirklich - vielleicht gibt es sie auch wirklich, ist denn nicht schon der Name einer bekannten Stadt gefallen? - und daß Sie am Schicksal unserer Hauptfigur, und das ist sie, vielmehr er, dem wir soeben durch den Wald gefolgt sind, daß Sie also am Schicksal dieser Figur Anteil nehmen werden und daß Sie sich, sollten wir diese einmal eine Weile aus den Augen verlieren, fragen werden, was macht wohl Roland Steinmann?Jetzt gerade sitzt er immer noch auf dem Findling, schaut vor sich hin und ahnt weder, daß wir ihm zuschauen, noch daß er die Hauptfigur einer längeren Geschichte sein wird, er sieht lediglich am Fuß des Hügels einen feinen Riß, der längs des Hügels verläuft, und denkt, daß die Regenfälle der letzten Woche, die mancherorts zu Überschwemmungen führten, sogar auf jahrtausendealte Grabhügel eine Wirkung gehabt haben, steht dann auf und geht, begleitet vom Gelächter eines Hähers aus den Baumwipfeln, langsam weiter, gegen den Waldausgang zu.Als er ihn erreicht, weicht er vor einem Reiter zurück, der elegant und bedrohlich auf dem Waldrandweg galoppiert, dann blickt er in die Weite; vor dem blauen Horizont heben sich die graue Kehrichtverbrennungsanlage und das schwarze Einkaufszentrum ab, und darüber erhebt sich grollend, mit einem roten Schweizer Wappen auf der Heckflosse, ein startendes Passagierflugzeug, ungewöhnlich tief, wie ihm scheint.In einem einfachen Zimmer eines Begegnungszentrums im Jura saß eine Frau und schrieb einen Brief. Sie kam schlecht vorwärts, schaute immer wieder zum Fenster hinaus auf die Weide, die unmittelbar vor dem Gebäude begann, auf das Bauernhaus weiter hinten, dessen Silo in der Abendsonne einen langen Schatten warf, und auf das kleine Stück Wald im Hintergrund. Manchmal stand sie auch auf und ging etwas hin und her, aber mehr als ein paar Schritte waren nicht möglich zwischen dem Tischchen am Fenster, dem Bett an der Wand und dem Kasten und dem Waschbecken an der anderen Wand. Der Raum hatte in seiner Kargheit etwas Klösterliches, und dabei handelte der Brief von etwas ganz und gar Unklösterlichem.Die Frau hatte zum erstenmal in ihrer bald zwanzigjährigen Ehe eine Liebesaffäre mit einem andern Mann, und das schrieb sie nun nach Hause, dem Mann, mit dem sie verheiratet war.Die Sache mit dem andern Mann hatte sich zwanglos ergeben. Er war einer der Leiter des zweiwöchigen Kurses, an dem sie teilnahm, eines Kurses, in welchem die Grundkenntnisse der Heilpädagogik aufgefrischt wurden und der sich vor allem an Menschen wandte, die bereits in der Heilpädagogik tätig gewesen waren und den Wiedereinstieg suchten, also fast ausschließlich Frauen. In diesem Kurs versuchte man das neueste Wissen über den Umgang mit behinderten Kindern zu vermitteln, wobei Doris, dies der Name der Frau, welche den Brief zu schreiben versuchte, gelegentlich erschrak über die Vielfalt möglicher Schädigungen, von Schwachsinn bis Autismus. Obwohl es die heilpädagogische Grundhaltung war, jeden behinderten Menschen so zu akzeptieren, wie er ist, war sie doch froh, zwei gesunde Kinder zu haben, eine sechzehnjährige Tochter und einen vierzehnjährigen Sohn. Es kam ihr auch oft der verspannte Gesichtsausdruck in den Sinn, den sie bei Eltern kannte, die ein debiles Kind in der Schule abholten oder es an einem Sonntag spazierenführen mußten, sei es auf einem Feldweg oder im Tram, und wie der Ausdruck um so härter wurde, je älter die Betreuten waren und je deutlicher die Eltern spürten, daß sie lebenslänglich mit einem Wesen verbunden waren, das sich nie von ihnen lösen würde außer durch den Tod.Sie aber, Doris, hatte nichts Verspanntes, sie schaute sich gern an am Morgen im Spiegel, wenn sie ihr schwarzes Haar in den Nacken warf, um es zu einem lockeren Roßschwanz zu binden, sie war zweiundvierzig und immer noch neugierig auf das Leben.Als der Kursleiter in einer Kaffeepause am Freitag der ersten Woche erwähnte, er werde übers Wochenende nicht nach Hause fahren, sondern mit dem Auto einen kleinen Ausflug nach Frankreich machen, ohne bestimmtes Ziel, hatte sie ihn spontan gefragt, ob sie mitkommen könne, und er hatte ebenso spontan gesagt, ja, das wäre schön. Dann meldete sich Doris zu Hause ab, sagte ihrer Tochter, welche das Telefon abnahm, sie verbringe das Wochenende mit Frauen, die sie kennengelernt habe, und fuhr dann mit Rolf, dem Kursleiter, durch den welschen Jura, und schon in Pontarlier, der ersten Stadt nach der französischen Grenze, bezogen sie ein ältliches Hotel, und sie waren sich beide einig, daß es ein Zweierzimmer sein sollte, Doris trank sich beim Nachtessen im Speiseraum mit den Kronleuchtern und den verblichenen Tapeten etwas Mut an, den sie aber eigentlich gar nicht brauchte, denn es wurde alles so selbstverständlich und fröhlich und unpeinlich, wie sie es nach den zwei, drei schlecht gelungenen Ansätzen zu Abenteuern in den letzten zwanzig Jahren kaum für möglich gehalten hätte, und sie freute sich von ganzem Herzen darüber.Nun war es Montag, gegen Abend, und sie freute sich immer noch, nur hatte sie gemerkt, daß sie das ihrem Mann gegenüber nicht ebenso leichthin erwähnen konnte, wie es passiert war. Am Telefon über Mittag hatte sie ihn belogen, hatte sogar, ohne es vorher zu planen, zwei Kursteilnehmerinnen erfunden, welche zusammen wohnten und mit welchen sie das Wochenende verbracht habe, hatte diese auch in den Kanton Fribourg verlegt, möglichst weit weg, hinter die Sprachgrenze, in einen Weiler in der Nähe von Orbe, an dessen Namen sie sich nicht zu erinnern brauchte, hatte somit allen zufälligen oder absichtlichen Nachfragen vorgebeugt, und zwar so rasch und geschmeidig, daß sie sich über sich selbst wunderte.Für sie war immer klar gewesen, daß, sollte sie einmal eine weitere Beziehung eingehen, daß dies dann ohne jede Heimlichtuerei zu geschehen hätte, so, wie es des Umgangs unter erwachsenen Menschen würdig war. Und nun war ihr das schon im ersten Anlauf mißglückt, mehr noch, sie hatte sich auf die allergewöhnlichste Art verhalten, so, wie sie sich vorstellte, daß sich reiche Frauen mit ruinierten Beziehungen auch verhalten würden. Das ärgerte sie, und es störte ihre Freude über die neue Begegnung, doch gleichzeitig merkte sie, daß es ihr schwerfiel, nochmals zu telefonieren und ihrem Mann zu gestehen, du, ich hab dir vorhin nicht die Wahrheit gesagt, und deshalb versuchte sie es nun mit einem Brief.Aber auch das war schwieriger, als sie gedacht hatte. Obwohl ihr Mann häufig abwesend war, hatte sie ihm in all den Jahren wenig geschrieben, sie hatten meistens miteinander telefoniert, und schon die geschriebene Anrede »Lieber Heinz!« kam ihr irgendwie unwahr vor. Sie hatte sie wieder verworfen und war mittlerweile beim dritten Versuch angelangt, der mit »Hallo Lieber,« begann, und in dem sie ihm schrieb, es tue ihr leid, daß sie nicht imstande gewesen sei, ihm zu sagen, was wirklich geschehen sei am Wochenende, aber sie hätte sich eine Freiheit genommen, von der sie gelegentlich gesprochen hätten und die er sich ja schon öfters genommen habe.Heinz, ihr Mann, war Filmkameramann beim Fernsehen, ein fähiger und heiterer Mensch, mit dem alle gern zusammenarbeiteten, er kam viel herum, und ein paarmal hatte er nach der Rückkehr von einer längeren Reise bekümmert den Kopf in Doris' Schoß gelegt und sie um Verzeihung gebeten, und das hatte sie immer so gerührt, daß sie ihm auch verzeihen konnte. Er hatte ihr sogar empfohlen, es eben auch einmal zu versuchen, die Begegnung mit einem fremden Menschen sei das einzige wirkliche Abenteuer, das er noch kenne, und wenn er Abenteuer sagte, dann war das für ihn, der schon in Wüsten, auf Vulkanen und in Bürgerkriegsgebieten gefilmt hatte, kein Papierwort. Zugleich liebte er sie, das wußte sie, und sie liebte ihn auch, aber es ging ihr nun auf, daß ohne weiteres noch jemand Platz hatte in dieser Liebe, er solle sich nicht beunruhigen, schrieb sie, »ich komme mir vor wie ein Haus mit einem Gästezimmer, und nun ist dieses Gästezimmer bewohnt«. Als sie diesen Satz nochmals durchlas, machte sie aus dem Punkt ein Komma und fügte bei, »vorübergehend«.Kaum sah sie jedoch das Wort »vorübergehend« auf dem Papier, stutzte sie. Woher wußte sie, daß es vorübergehend war? Wußte sie denn, wie es weiterging? Ob es überhaupt weiterging? Seit sie am Sonntagabend wieder am Kursort eingetroffen waren, hatten sie nicht mehr allein miteinander gesprochen, es machte Doris auch überraschend wenig aus, sich wieder unter den andern zu bewegen gemeinsam mit dem Mann, der für eine Nacht ihr Geliebter geworden war, dieses Geheimnis bereitete ihr sogar ein gewisses Vergnügen. Nur noch einmal in dieser Woche ungestört mit ihm ein paar Worte zu wechseln, das wünschte sie sich, aber mehr nicht. Rolf war verheiratet, eigentlich glücklich, hatte er gesagt, und sie war es auch, ebenso eigentlich, und sie waren übereingekommen, den Moment zu genießen, ohne weitere Ansprüche aneinander zu stellen, ein Geschenk, hatte Doris gesagt, ein Geschenk, das wir uns machen, und an dem wir uns noch lange freuen können.Wenn es aber ein einmaliges Geschenk war, wieso mußte sie sich dann überhaupt rechtfertigen? Wer klagte sie an?mehr
Kritik
"Da läuft ein atemberaubender erzählerischer Countdown." Basler Zeitungmehr

Autor

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über fünfzig Jahren im Luchterhand Literaturverlag.