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Claire Waldoff

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
275 Seiten
Deutsch
Herder Verlag GmbHerschienen am08.11.20161. Auflage
'Die singt wie der Berliner Spatz, unbekümmert, frech', sagte Kurt Tucholsky über die Kabarettkönigin Claire Waldoff. Aus einer kinderreichen Familie stammend, wollte die gebürtige Gelsenkirchenerin eigentlich Ärztin werden. Doch dafür reichte das Geld nicht, so entdeckte sie die Bühne für sich. Bis heute gilt 'die Waldoff' als Ikone der Zwanzigerjahre, mit ihrer Lebensliebe Olly von Roeder wurde sie zum Mittelpunkt der lesbischen Szene in Berlin. Sie war eng befreundet mit Zille und Ringelnatz, stand mit der noch unbekannten Marlene Dietrich auf der Bühne, Generationen sangen ihre Lieder. Atmosphärisch dicht schreibt Sylvia Roth über das Leben dieser außergewöhnlichen Frau: Claire Waldoff war emanzipierte Draufgängerin, verwegene Bohème-Natur und ein Original mit unerschrocken starker Stimme.

Die Musikwissenschaftlerin Sylvia Roth arbeitet als Operndramaturgin an diversen deutschen Theatern und ist darüber hinaus regelmäßig als Musikjournalistin für den Rundfunk tätig.
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Produkt

Klappentext'Die singt wie der Berliner Spatz, unbekümmert, frech', sagte Kurt Tucholsky über die Kabarettkönigin Claire Waldoff. Aus einer kinderreichen Familie stammend, wollte die gebürtige Gelsenkirchenerin eigentlich Ärztin werden. Doch dafür reichte das Geld nicht, so entdeckte sie die Bühne für sich. Bis heute gilt 'die Waldoff' als Ikone der Zwanzigerjahre, mit ihrer Lebensliebe Olly von Roeder wurde sie zum Mittelpunkt der lesbischen Szene in Berlin. Sie war eng befreundet mit Zille und Ringelnatz, stand mit der noch unbekannten Marlene Dietrich auf der Bühne, Generationen sangen ihre Lieder. Atmosphärisch dicht schreibt Sylvia Roth über das Leben dieser außergewöhnlichen Frau: Claire Waldoff war emanzipierte Draufgängerin, verwegene Bohème-Natur und ein Original mit unerschrocken starker Stimme.

Die Musikwissenschaftlerin Sylvia Roth arbeitet als Operndramaturgin an diversen deutschen Theatern und ist darüber hinaus regelmäßig als Musikjournalistin für den Rundfunk tätig.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783451807763
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum08.11.2016
Auflage1. Auflage
Seiten275 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1797 Kbytes
Artikel-Nr.2135880
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Ende und Anfang

1992

Nach Haus - Ein letztes Mal für immer

»Marlene go home«, so stand es 1960 auf sorgfältig gemalten Schildern, als sie für einige Auftritte wieder nach Deutschland kam. Berlin war nicht damit gemeint. Die Wut auf sie, die Vaterlandsverräterin, die der Heimat in den Dreißigerjahren den Rücken gekehrt hatte, ließ damals Speichel und Eier regnen. Vielleicht aber war es in Wahrheit gar keine Wut, die zu solchen Taten trieb, sondern nur die heimliche Scham darüber, sich nicht wie sie den Nazis widersetzt zu haben.

Heute, am sechzehnten Mai, kehrt Deutschlands verlorene Tochter Marlene Dietrich für immer heim, und der Empfang ist ein wesentlich anderer. »Adieu Marlene, Dankeschön!«, hängt es in weißer Schrift auf schwarzem Tuch von einem Balkon, und die Straßen sind von Hunderten von Verehrern und Schaulustigen gesäumt. Die Blumen, die sie werfen, landen auf keiner Bühne mehr, sie landen dumpf auf der Ladefläche des offenen schwarzen Cadillacs oder auf der Berlinflagge, die den Sarg, den er transportiert, bedeckt. Alle Wege führen heute zum Friedhof Stubenrauchstraße in Schöneberg. Denn Heimkehr, das bedeutet nicht die Rückkehr in ein Land, zu einer Nation; es bedeutet die Suche nach dem Frieden des Schoßes, aus dem man hervorgegangen ist. Die letzte Ruhe wird Marlene nur wenige Schritte entfernt vom Grab ihrer Mutter finden.

Die Stadt Berlin hat sich der alten Ressentiments wegen in letzter Sekunde doch noch um eine Gedenkveranstaltung gedrückt, sie wird noch eine Dekade bis zur offiziellen Entschuldigung dafür benötigen; die Menschen auf der Straße wissen es schon jetzt besser. Während der Bürgermeister am Eingang des Friedhofs ausgebuht wird, spricht ein Passant das Offensichtliche in das Mikrofon eines Reporters: »Marlene Dietrich war der Inbegriff des Films, und sie hat nicht gegen das deutsche Volk gesprochen, sie hat das Regime kritisiert. Eine große Gala hätte sie verdient.«

Für Marlene spielt all das jetzt keine Rolle mehr, und tatsächlich hat es das nie. Um zu wissen, was sie wollte und für sie richtig war, hat sie nie eine andere Meinung als die eigene benötigt.

1922

Wer nicht wagt ...

Der Enge der Elektrischen entkommen, hat Marlene in der Schumannstraße nichts als den warmen Maiwind im Rücken, mit sanftem Nachdruck schiebt er sie vorwärts, ihrem Ziel entgegen. Wenn das kein weiteres gutes Zeichen ist! Das erste kam schon mit der Einladung zum zweiten Vorsprechen. Gretchens Gebet aus dem Faust hat sie für heute vorbereiten sollen. Ihr Lieblingswerk - abgesehen von Die Leiden des jungen Werthers, aber das ist doch zu rührselig und steht darum nur heimlich an erster Stelle - von Goethe, den sie heiß verehrt. Ein gutes Zeichen, ja, und ganz sicher kein Zufall. In den letzten Tagen hat sie nichts als geübt.

Beim ersten Termin an Max Reinhardts Schauspielschule des Deutschen Theaters in Berlin hat sie eine Passage aus Hugo von Hofmannsthals Der Tor und der Tod interpretiert. Nachdem sie die Musikhochschule in Weimar verlassen musste, verliebte sie sich in diesen Autor. Zu der Zeit las sie viel, schließlich mussten Wege gefunden werden, die geplante Laufbahn als Konzertgeigerin zu vergessen - das Handgelenk wollte nicht mehr mitspielen. In die Lektüre vertieft ließ es sich außerdem auch der Frau Mutter und dem Echo ihres Nichtwahrhabenwollens von Marlenes Sehnenverletzung am besten entkommen. Gerade dieses Stück erkor sie aus, weil Reinhardt es bereits am Deutschen Theater inszeniert hatte. Sie rezitierte den Part des jungen Mädchens, der einstigen Geliebten, die dem Toren als Geist erscheint:

»Aus Untreu macht kein guter Wille Treu,
Und Tränen machen kein Erstorbnes wach.
Man stirbt auch nicht daran. Viel später erst,
Nach langem, ödem Elend durft ich mich
Hinlegen, um zu sterben. Und ich bat,
In deiner Todesstund bei dir zu sein.
Nicht grauenvoll, um dich zu quälen nicht,
Nur wie wenn einer einen Becher Wein
Austrinkt und flüchtig ihn der Duft gemahnt
An irgendwo vergeßne leise Lust ⦫

Atemlose Trauer hat sie in ihren Vortrag gelegt, doch weder das noch ihr schlichtes, großgeblümtes Kleid, das genau der Regieanweisung im Stück entsprach, hat die sie begutachtenden Schauspiellehrer davon abgehalten, sie nach ihrem Vortrag reichlich mit Kritik zu übergießen. Zu pompös war es dem einen, noch zu wenig ausdifferenziert dem anderen. Doch nicht unterkriegen lassen sollte sie sich davon, sondern es für das weitere Üben nutzen, denn vielleicht gäbe es ja die Gelegenheit, noch einmal wiederzukommen.

Das immerhin ist wahr geworden. Und heute ist es so weit. Marlene beschleunigt ihren Schritt, greift im Vorbeigehen nach den tief hängenden Zweigen einer Zierkirsche und pflückt ein paar Blüten ab. Ihr Duft verheißt den nahen Sommer. Sie ist bereit, nur um die letzte Biegung noch!

Der große Theatervorplatz ist wie leergefegt, nur zwei junge Frauen, den Blick fest auf ihren Text gerichtet, hat der imaginäre Besen übersehen. Beim letzten Mal herrschte furchtbares Getümmel, viele Anwärter hatten zur Unterstützung ihre Mütter, Väter, manche sogar ihre Geschwister oder Freunde mitgebracht. Welch komische Vorstellung, Marlene hätte ihre Mutter, ihren resoluten guten General, darum gebeten, sie zu begleiten! Schließlich ist diese gar nicht begeistert von ihrem Vorhaben, Schauspielerin zu werden. Damit wenigstens hat Lena, wie ihre Mutter sie nennt - natürlich akzeptiert sie den neuen Namen nicht, den ihr Kind sich vor ein paar Jahren selbst aus seinen Vornamen Marie und Magdalene gebastelt hat - sich durchgesetzt. Kein einfaches Unterfangen, denn die Mutter führt, seit sie früh ihren ersten und bald darauf auch ihren zweiten Ehemann verloren hat, ein strenges Regiment über sie und ihre ältere Schwester Elisabeth.

Vor ihr, vielleicht noch zwanzig Schritte entfernt, thronen aneinandergeschmiegt das Deutsche Theater und die Kammerspiele, in deren zweiter Etage die Schauspielschule untergebracht ist. Marlene ist früh dran, genug Zeit, den Text noch einmal durchzugehen. Sie hat ihn nicht auf Papier, sie hat ihn im Kopf. Mit zwanzig hat man schließlich ein gutes Gedächtnis. Die gusseiserne Kälte der Zwillingslaterne, an die sie sich lehnt, dringt durch ihren dünnen Mantel, das schlichte beige Kleid darunter und macht den Geist ganz wach. Der Text sitzt.

Als die beiden jungen Frauen bemerken, dass sie sich in Bewegung setzt, fällt auch ihnen plötzlich wieder ein, wo sie erwartet werden. Eilig laufen sie die Stufen hinauf und verschwinden noch vor ihr im Gebäude. Marlene lächelt. Den Schritt zu beschleunigen ist doch gar nicht nötig.

Drinnen im Foyer warten bereits ein weiteres Dutzend Anwärterinnen darauf, in ein schmuckloses Bürozimmer gerufen zu werden und ihre Rolle zu spielen. Erstaunt ist sie gewesen und ist es noch, dass die Vorsprechen nicht wenigstens auf einer Nebenbühne stattfinden. Wie soll denn so die rechte Atmosphäre aufkommen?

Aber die Herren in den tiefen Sesseln, die sie auch heute wieder mit strengen Blicken empfangen, als die Reihe an ihr ist, werden es schon wissen. Marlene tritt nach vorn und als Gretchen in die Mauerhöhle des Zwingers und vor das Andachtsbild der Mater Dolorosa. Sie denkt an die vorangegangene Begegnung mit Lieschen am Brunnen, die sich das Maul über ein von ihrem Liebhaber geschwängertes Mädchen zerrissen hat, lässt in der Stille die Sorge, nun selbst eine Sünderin zu sein, einen Moment lang wachsen und öffnet dann den Mund, um die ersten Verse zu sprechen:

»Ach neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not!«

»Woll n Sie sich nicht hinknien, junge Frau?«, fragt Maria, nein, fragt es aus einem der tiefen Sessel im Raum.

Die Mauerhöhle ist fort. In einem Zimmer wie diesem knien? Darauf ist sie nicht gekommen, es erscheint so unsinnig wie die Unterbrechung unhöflich. Dann kommt auch noch ein Kissen geflogen. Nun versteht Marlene die Welt erst recht nicht mehr. »Warum tun Sie das?«, entgleitet es ihr.

»Na, damit Sie darauf knien können«, tönt es aus Sesseluntiefen.

Es ist absurd, denn Gretchen hat doch ganz gewiss kein Kissen bei ihrem Gebet zur Verfügung gehabt, aber Marlene kniet nieder. Das Bild der Grotte mag sich nicht mehr einstellen, doch es hilft jetzt nichts. Noch einmal von vorn.

»Ach neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not!

Das Schwert im Herzen,
Mit tausend Schmerzen
Blickst auf zu deines Sohnes Tod.

Zum Vater blickst du,
Und Seufzer schickst du
Hinauf um sein und deine Not.

Wer fühlet,
Wie wühlet
Der Schmerz mir im Gebein?«

Marlene fühlt davon momentan rein gar nichts, die Weichheit des Kissens unter ihren Knien verhindert es geradezu, irgendetwas von Gretchens Verzweiflung zu spüren. Dafür wächst die eigene und geht mit jedem Wort mehr in ihren Vortrag ein, eine Träne rollt ihr gar über die Wange, und alle Ratschläge sind vergessen. Marlenes Gretchen hat nichts mit dem gemein, das kürzlich erst von Helene Thimig, der angehenden zweiten Ehefrau Max Reinhardts, schlicht und zurückgenommen am Deutschen Theater gegeben worden ist. Heute wird stattdessen mehr weniger sein.

Marlene ahnt es, als sie endet und...


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