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Die Markierung

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
Hoffmann und Campe Verlagerschienen am03.09.2022
Was passiert, wenn Ideen zu Ideologien gerinnen? Poetisch, scharfsichtig und eindringlich erzählt Frí?a Ísberg von einer Gesellschaft, die per Gesetz Klarheit über Gut und Böse schaffen will.  Island in naher Zukunft. Um die öffentliche Sicherheit zu erhöhen, sind bestimmte Wohngebiete nur noch für sogenannte markierte Menschen zugänglich, deren moralische Vertrauenswürdigkeit durch einen Empathie-Test nachgewiesen wurde. Bei den anstehenden Wahlen wird sich entscheiden, ob die allgemeine Markierungspflicht gesetzlich verankert wird. Ob die skeptische Lehrerin Vetur, der einflussreiche Psychologe Óli, die Geschäftsfrau Eyja oder der Schulabbrecher Tristan: Egal welchen Hintergrund sie mitbringen und egal, ob sie die gesellschaftlichen Veränderungen befürworten, hinnehmen oder aktiv gegen sie angehen - sie alle geraten in den Strudel der Verwerfungen einer Gesellschaft, deren neue Spielregeln explosive Folgen haben.  

Fríða Ísberg, geboren 1992, ist eine isländische Lyrikerin und Prosaautorin. Ihre Lyrikbände und die Kurzgeschichtensammlung 'Kláði' waren für alle wichtigen isländischen Literaturpreise nominiert, 'Kláði' u.a. für den Literaturpreis des Nordischen Rates 2020. Für ihren ersten Roman 'Die Markierung' erhielt Fríða Ísberg den Literaturpreis des isländischen Buchhandels sowie den Per-Olov-Enquist-Preis 2022.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR23,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR15,99

Produkt

KlappentextWas passiert, wenn Ideen zu Ideologien gerinnen? Poetisch, scharfsichtig und eindringlich erzählt Frí?a Ísberg von einer Gesellschaft, die per Gesetz Klarheit über Gut und Böse schaffen will.  Island in naher Zukunft. Um die öffentliche Sicherheit zu erhöhen, sind bestimmte Wohngebiete nur noch für sogenannte markierte Menschen zugänglich, deren moralische Vertrauenswürdigkeit durch einen Empathie-Test nachgewiesen wurde. Bei den anstehenden Wahlen wird sich entscheiden, ob die allgemeine Markierungspflicht gesetzlich verankert wird. Ob die skeptische Lehrerin Vetur, der einflussreiche Psychologe Óli, die Geschäftsfrau Eyja oder der Schulabbrecher Tristan: Egal welchen Hintergrund sie mitbringen und egal, ob sie die gesellschaftlichen Veränderungen befürworten, hinnehmen oder aktiv gegen sie angehen - sie alle geraten in den Strudel der Verwerfungen einer Gesellschaft, deren neue Spielregeln explosive Folgen haben.  

Fríða Ísberg, geboren 1992, ist eine isländische Lyrikerin und Prosaautorin. Ihre Lyrikbände und die Kurzgeschichtensammlung 'Kláði' waren für alle wichtigen isländischen Literaturpreise nominiert, 'Kláði' u.a. für den Literaturpreis des Nordischen Rates 2020. Für ihren ersten Roman 'Die Markierung' erhielt Fríða Ísberg den Literaturpreis des isländischen Buchhandels sowie den Per-Olov-Enquist-Preis 2022.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783455014655
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum03.09.2022
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.9113741
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1

Vetur ist auf dem Weg zur Arbeit, als sie in einem Café des Viertels plötzlich einen dunkelhaarigen Mann sieht, und seine verkrampften Schultern haben etwas an sich, was genügt, um alles wieder loszutreten. Sie schafft es gerade noch um die nächste Ecke, außer Sichtweite des Cafés, dann werden ihre Beine zu Weißbrot und ihre Arme kraftlos, alles erscheint ihr überdeutlich, die Farben grell, die Details riesengroß. Zoé piept: Herzschlag 181 pro Minute. Vetur hat dasselbe erdrückende Gefühl wie immer: Er beobachtet sie, er weiß, wo sie arbeitet, er ist wieder am Start, sie muss sich verstecken. Jemand kommt auf sie zu und fragt, ob alles in Ordnung sei, aber die Stimme dringt erst wesentlich später zu ihr durch, oder wahrscheinlich erfasst ihr Gehirn die Bedeutung der Worte erst wesentlich später, und sie sagt Ja, es ist alles in Ordnung, sie habe ihre Periode, sie fordert Zoé auf, nicht anzuspringen, auf gar keinen Fall möchte sie, dass die Sirenen losheulen wie beim letzten Mal, sie atmet aus, holt tief Luft, atmet aus: Er kommt hier nicht rein. Er kommt nicht in dieses Viertel. Das kann er nicht gewesen sein. Wenn sie genauer darüber nachdenkt, sah er gar nicht aus wie Daníel, dieser Mann hatte kurze Haare und trug eine schicke Jacke, so wie jemand, der in dieses Viertel gehört, der Zugang zu diesem Viertel hat.

Sie hat sich zusammengekrümmt, die Hände auf den Knien. Langsam richtet sie sich wieder auf und taumelt weiter Richtung Schule, so schnell sie kann. Sie geht direkt in ihren Klassenraum und versucht sich zu beruhigen. Als der erste Schüler den Raum betritt, zittert sie nicht mehr. Am Nachmittag hat sie den Vorfall fast vergessen.

Nach Unterrichtsende kommt ein Repräsentant des Isländischen Psychologenverbandes vorbei und erläutert dem Lehrerkollegium, wie die Kinder vorbereitet werden können. Erfahrungsgemäß sei es am besten, den Test ein wenig herunterzuspielen, sagt er, den Kindern zu vermitteln, dass das keine große Sache sei. Sonst neigten sie dazu, den Teufel an die Wand zu malen und sich viel zu viele Gedanken zu machen.

»Wie sollen wir ihnen das denn präsentieren? Als nette Überraschung?«, fragt Húnbogi und öffnet die Handflächen, was, denkt Vetur, einem verzweifelten Armeausbreiten so nahe wie möglich kommt, ohne ein verzweifeltes Armeausbreiten zu sein.

Der Repräsentant legt den Kopf schräg und überlegt.

»Nein«, antwortet er bedächtig. »Nicht als nette Überraschung. Aber je näher die Wahl kommt, desto mehr Fälle von Kindern mit Schlafproblemen aufgrund von Versagensängsten landen bei uns auf dem Tisch. Vielleicht bilden sich die Erwachsenen in der Familie gerade eine Meinung über die Markierungspflicht und registrieren nicht, dass ihre Kinder wie Schwämme neben ihnen sitzen und die Anspannung und Unsicherheit in sich aufsaugen, ohne über das notwendige Hintergrundwissen zu verfügen. Deshalb ist es uns wichtig, bei Personen unter achtzehn Jahren von einem Einfühlungsgutachten zu sprechen. Nicht von einem Empathietest. Die Wortwahl macht einen Unterschied. Die Kinder sollen nicht das Gefühl bekommen, das sei etwas, bei dem sie durchfallen können. Wir markieren ja niemanden.«

Der Repräsentant, Ólafur Tandri, ist vermutlich etwas älter als Vetur, zwischen dreißig und vierzig. Er ist oft für den Isländischen Psychologenverband SÁL, Sálfræðifélag Íslands, in den Nachrichten. Die Direktorin hatte ausdrücklich nach ihm verlangt. Vetur versteht, warum er auf seinem Gebiet so erfolgreich ist. Er hat etwas Bescheidenes, etwas Klares an sich. Wäre er ein Haus, wäre es auf einem soliden Fundament gebaut. Nicht auf Sand wie alle anderen.

»Wir hoffen, dass diese Maßnahmen Ängste, Unbehagen, Scham und sogar Mobbing verhindern. Natürlich wissen Sie am allerbesten, dass das ein sensibles Alter ist, ein Alter, in dem das Individuum einen Herdentrieb entwickelt und die meisten einer Peergroup angehören wollen. Die Kinder bekommen die Ergebnisse der Gutachten nicht zu sehen. Wenn nötig, nehmen wir direkten Kontakt zum Klassenlehrer auf. Wobei in markierten Schulen nur sehr wenige Fälle diagnostiziert werden. In der Regel sind das dann Kinder mit offensichtlichen Schwierigkeiten, die unter Traumata oder Vernachlässigung leiden.«

»Entschuldigung, eine Frage«, sagt jemand hinten im Saal. Vetur sieht, dass es eine der Mütter aus dem Elternbeirat ist. »Wir Eltern erfahren also nicht, welche Kinder durchgefallen sind und welche bestanden haben?«

»Das entscheidet die Schulleitung«, antwortet Ólafur Tandri. »Aber das ist diffizil. Wenn ein Kind unter dem Richtwert liegt, muss es besonders intensiv unterstützt werden. Deshalb wäre es nicht unvernünftig, die anderen Eltern zu informieren. Man braucht ja bekanntlich ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Allerdings besteht dann die Gefahr, dass Eltern ihr eigenes Kind unbewusst von dem kranken Individuum fernhalten, und das stünde in absolutem Widerspruch zum Ziel des Empathietests. Antisozialem Verhalten müssen wir mit sozialer Integration begegnen. Wenn ein Kind als Folge des Tests isoliert wird, kommt es vom Regen in die Traufe.«

»So etwas würde hier bei uns im Viertel aber nie passieren«, erwidert die Mutter.

»Wir wollen es nicht hoffen«, sagt Ólafur Tandri.

»Was geschieht, wenn ein Kind unter dem Richtwert liegt?«

»Sollten die Sachverständigen es für sinnvoll halten einzugreifen, kontaktieren sie die Direktorin und den Klassenlehrer, die den Eltern daraufhin gemeinsam eine passende Lösung unterbreiten.«

Vetur eilt vor ihren Kollegen nach draußen. Vor dem Eingang stehen einige Jugendliche, zwei von ihnen lehnen an der Wand und essen Äpfel, was aus Gründen, die sich ihr nicht erschließen, in dieser Generation hip ist. Sie geht quer über den Schulhof, an dem mit durchsichtigem Plexiglas eingefassten Bolzplatz vorbei. Sie geht zügig, hat vorgegeben, sie wolle ins Theater, als jemand das 104,5 erwähnte - das Café, in dem sie heute Morgen meinte Daníel gesehen zu haben. Warum? Warum tut sie sich das an? Als jemand fragte, in welches Stück, antwortete sie, sie wisse es nicht, es sei eine Überraschungseinladung von ihrer Mutter. Lügen sind Futter für die Angst. Jetzt darf sie nicht vergessen nachzuschauen, welche Vorstellungen heute Abend laufen, damit sie am Montag die Fragen der Kolleginnen beantworten kann.

Sie hat einfach keine Lust auf die Diskussionen nach solchen Meetings. Keine Lust sich anzuhören, wie ihre Kollegen sich im Prinzip einig, in den Details aber uneinig sind, keine Lust, sich schweigend die Argumente anzuhören, die sie schon hunderttausendmal gehört hat, und dann die Gegenargumente, die sie auch schon hunderttausendmal gehört hat, keine Lust auf das Hin- und Hergerissensein, ob sie Húnbogi ansprechen oder nicht ansprechen soll, und dann doch etwas zu Húnbogi zu sagen, in den sie nicht verliebt sein will, obwohl sie es ist, denn er ist süß, aber auch eine Art tödlicher Cocktail, weil er sich einerseits dessen bewusst ist und andererseits nicht, und wenn sie theoretisch über ihn nachdenkt, hat sie keine Lust auf eine solche Schichttorte aus Sicherheit und Unsicherheit, aber theoretisch über jemanden nachzudenken ist natürlich nichts im Vergleich zu diesem körperlichen Beben, das ungefragt einsetzt, und diesem körperlichen Ziehen, das auch ungefragt einsetzt, und der Selbstwahrnehmung und der Tollpatschigkeit und den Witzen mit den schlechten Pointen.

Kinderweinen hallt durch die Straße. In den Wohnungen über sich hört Vetur Wasser aus Küchenhähnen fließen, Tellergeklapper, sie riecht den Duft von Essen. Der Gehweg ist nackt - hier gibt es kein Unkraut und keine Risse, die Bäume sind noch dürre Gerippe. Der östliche Teil des Viertels, der an den alten Frachthafen Sundahöfn grenzt, befindet sich noch im Aufbau, tagsüber dringt Maschinenlärm durch das Fenster des Klassenraums. Aber der westliche Teil ist mehr oder weniger fertig; hochgezogene weiße Straßen im klassisch europäischen Stil, die Gebäude wie kerzengerade Zähne. Dies ist das einzige markierte Viertel im Innenstadtbereich. Die anderen markierten Stadtteile befinden sich in einem ähnlichen Baustadium, eins liegt nördlich des Sees Hafravatn und das andere in Straumsvík.

Wenn Veturs Vertrag am Ende des Schuljahres verlängert wird, muss sie die Wohnung im Kleppsvegur verkaufen und sich hier eine suchen. Das ist die einzige Lösung.

Kurz darauf taucht die zehn Meter hohe Glaswand vor ihr auf, halb silbrig, halb transparent, die sich um das Viertel ringelt wie der Drache um den Goldschatz. Am Ende der Straße, an der Sæbraut, ist die Wand noch höher und geht in ein geschwungenes Tor über, das auf den Laugarnesvegur führt. Es ist eins von zwei Toren, das andere liegt weiter oben, gegenüber der Dalbraut. In Veturs Jugend standen hier große Lagerhäuser, doch als die verfielen, beschloss man das Land zu erhöhen und die ganze Stadt zum Meer hin mit Plexiglas abzuriegeln, vom Berg Esja bis nach Straumsvík. Das Glaswerk nannten das die Medien, aber alle anderen reden nur vom Schutzdamm.

Vetur geht zum Ausgang, die erste Tür gleitet automatisch zur Seite, als sie sich nähert, und wieder zurück, nachdem sie hindurchgetreten ist. Sie steht eine Sekunde in dem hohen Tunnel, während der Scanner ihr Gesicht in der Datenbank sucht, dann gleitet die zweite Tür zur Seite, und sie tritt hinaus.

Angst bewegt sich immer abwärts, so wie Sand in einer Sanduhr. Vetur checkt, ob die Begleitung tatsächlich eingeschaltet ist, was sie natürlich ist, ihre Absätze klacken auf der Straße und entlarven die Veränderung im Takt, die Beschleunigung. Das passt nicht zu ihrem Selbstbild. Eigentlich ist sie lässiger,...

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Autor

Fríða Ísberg, geboren 1992, ist eine isländische Lyrikerin und Prosaautorin. Ihre Lyrikbände und die Kurzgeschichtensammlung "Kláði" waren für alle wichtigen isländischen Literaturpreise nominiert, "Kláði" u.a. für den Literaturpreis des Nordischen Rates 2020. Für ihren ersten Roman "Die Markierung" erhielt Fríða Ísberg den Literaturpreis des isländischen Buchhandels sowie den Per-Olov-Enquist-Preis 2022.