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Der Mann, der sein Gedächtnis verlor

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Hoffmann und Campe Verlagerschienen am16.07.2010
Er saß eines Tages auf einer Bank in Hamburg und wusste nicht, wo er war. Und auch nicht, wer er war. Jonathan Overfeld ist sein Leben entfallen wie anderen eine Telefonnummer. Fugue, so nennen Psychiater diese durch Furcht ausgelöste Form der Amnesie. Gemeinsam mit dem Journalisten Kuno Kruse begibt er sich auf die Suche nach seiner Vergangenheit und findet eine von Schlägen und Vergewaltigung geprägte Kindheit in katholischen Heimen. Jonathan Overfeld kann rechnen, schreiben, liest die Wirtschaftsseiten der Zeitung. Am Klavier spielt er Mahlers 3. Sinfonie aus dem Kopf. Aber er betritt seine eigene Wohnung wie die eines Fremden und sagt: So kann man doch nicht leben. Er ist allein, weil er kein Gesicht mehr erkennt, nicht einmal das seiner Freundin. Menschen mit Fugue reisen wie Schlafwandler von einer Stadt in die andere und wissen nicht, warum, woher sie kommen und wohin sie wollen. Um so einer Wirklichkeit zu entfliehen, die zur Bedrohung wurde. Die Spur der Angst führt Jonathan Overfeld und Kuno Kruse über Zockerbuden des Berliner Rotlichts zurück zu einer geschändeten Jugend in christlicher Obhut.

Kuno Kruse ist Redakteur beim Stern. Er studierte Romanistik und Germanistik an der Freien Universität Berlin und der Université de Nantes. Der Journalist gehörte zum Gründerkreis der Tageszeitung taz, war viele Jahre Redakteur der Wochenzeitung Die Zeit, arbeitete beim Spiegel und schrieb die Biographie des jüdischen Tänzers und Widerstandskämpfers Sylvin Rubinstein. Kuno Kruse wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Klagenfurter Joseph-Roth-Preis und dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet.
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Produkt

KlappentextEr saß eines Tages auf einer Bank in Hamburg und wusste nicht, wo er war. Und auch nicht, wer er war. Jonathan Overfeld ist sein Leben entfallen wie anderen eine Telefonnummer. Fugue, so nennen Psychiater diese durch Furcht ausgelöste Form der Amnesie. Gemeinsam mit dem Journalisten Kuno Kruse begibt er sich auf die Suche nach seiner Vergangenheit und findet eine von Schlägen und Vergewaltigung geprägte Kindheit in katholischen Heimen. Jonathan Overfeld kann rechnen, schreiben, liest die Wirtschaftsseiten der Zeitung. Am Klavier spielt er Mahlers 3. Sinfonie aus dem Kopf. Aber er betritt seine eigene Wohnung wie die eines Fremden und sagt: So kann man doch nicht leben. Er ist allein, weil er kein Gesicht mehr erkennt, nicht einmal das seiner Freundin. Menschen mit Fugue reisen wie Schlafwandler von einer Stadt in die andere und wissen nicht, warum, woher sie kommen und wohin sie wollen. Um so einer Wirklichkeit zu entfliehen, die zur Bedrohung wurde. Die Spur der Angst führt Jonathan Overfeld und Kuno Kruse über Zockerbuden des Berliner Rotlichts zurück zu einer geschändeten Jugend in christlicher Obhut.

Kuno Kruse ist Redakteur beim Stern. Er studierte Romanistik und Germanistik an der Freien Universität Berlin und der Université de Nantes. Der Journalist gehörte zum Gründerkreis der Tageszeitung taz, war viele Jahre Redakteur der Wochenzeitung Die Zeit, arbeitete beim Spiegel und schrieb die Biographie des jüdischen Tänzers und Widerstandskämpfers Sylvin Rubinstein. Kuno Kruse wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Klagenfurter Joseph-Roth-Preis und dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783455307078
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2010
Erscheinungsdatum16.07.2010
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.10361403
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Das Erwachen

Der Duft ist ihm zuwider. Er streicht sich über das Kinn. Die Haut ist glatt. Er schnüffelt. Es ist sein eigenes Rasierwasser. Sein Blick gleitet die Knopfleiste hinunter. Weißes Oberhemd, blaue Krawatte, Blazer in gedecktem Blau, dazu Jeans. Das Aftershave irritiert. Warum sitzt er auf dieser Bank? Was macht er in diesem Park? Er steht auf, geht ein paar Schritte, ist unsicher, irgendetwas ist komisch. Aber was? Was ist das für eine Gartenanlage? Wie ist er hierher gekommen? War er eingenickt? Aber, wo war er denn vorhin? Und, wo will er hin?

Weiße Plastikstühle, Plastiktische, Sonnenschirme, da ist ein Cafe. Er geht darauf zu, setzt sich. Es ist frisch, aber die Sonne wärmt. Die Knospen gehen auf, das junge Paar an einem der kleinen Tische trägt die Jacken offen. Es ist Frühling. Er versucht ein Lächeln. Die beiden sehen ihn nicht. Sie reden, lachen, der Junge berührt sie am Unterarm. Er ist erleichtert. Sie beachten ihn nicht. Er setzt sich an den Nebentisch. Warum hätten sie ihn auch beachten sollen?

»Was kann ich Ihnen bringen?«

Die Stimme kam von hinten. Er ist zusammengezuckt. Was soll er der Kellnerin jetzt antworten? Er macht eine Kopfbewegung zum Nachbartisch, blickt auf die beiden großen Tassen, nickt hinüber, sagt: »Das da.«

Zigarettenrauch zieht vorbei. Er versucht einen Zipfel vom Rauchschleier einzuziehen, doch die Wolke ist schon verweht. Sie ist von den beiden jungen Leuten herübergezogen, wohl Studenten. Raucht er selbst auch? Er muss doch wohl wissen, ob er Raucher ist. Ist er? Oder nicht? Wie kann man sich so etwas fragen. Er greift in seine Jackentasche. Keine Zigarettenpackung. Also nicht. Hat er jetzt gerade nur einmal Lust auf so eine Zigarette? Ob er früher einmal geraucht hat?

Die Kellnerin stellt heiße Milch vor ihn auf den Tisch.

»Hatte ich Milch bestellt?«

»Einen Cappuccino!«

Der Milchschaum riecht nach Kaffee. »Cappuccino«. Klingt italienisch. Er probiert. Nicht sehr heiß, tut aber gut. Er kennt den Geschmack, das ist Kaffee. Die Kellnerin wirkt nett, trägt das dunkle Haar zum Zopf gebunden. Könnte ihm gefallen. Warum sieht sie ihn so musternd an?

»Kann ich sonst noch etwas bringen?«

Er zögert, sieht jetzt etwas unsicher wieder zum anderen Tisch hinüber, zeigt auf den Kuchen: »Das da, bitte!« Während die Kellnerin zurück ins Cafe geht, nimmt er wieder diese Witterung auf. Der dünne Qualm zieht seine Aufmerksamkeit weiter hinüber zu dem Paar, macht ein Verlangen. Die Kellnerin kommt mit einem Stück Apfelkuchen zurück. Sie hat sich schon umgedreht.

»Bitte, haben Sie ... ?«

Sie wendet sich ihm wieder zu, er zeigt auf die Schachtel Marlboro, die auf dem Nachbartisch liegt.

»Haben Sie auch .?«

Die Kellnerin bringt ihm eine Schachtel Zigaretten. Er reißt hastig die Packung auf, greift in die Tasche, ertastet ein Feuerzeug. Also doch, er wird Raucher sein. Er zündet die Filterzigarette an, nimmt einen tiefen Zug. Langsam atmet er den Rauch wieder aus. Die Zigarette schmeckt ihm nicht. Aber für einen Moment ist ihm wohlig.

Er will zahlen, legt einen Geldschein auf den Tisch. Aber die Bedienung akzeptiert keine Schweizer Franken.

»Haben Sie es nicht anders?«

Er greift wieder ins Jackett, zieht einen anderen Schein heraus, bräunlich orange, darauf ein klassisches Tor. Was für eine Währung ist das jetzt? D-Mark ist es nicht. Er hält den Schein in der Hand, zeigt ihn zögerlich, will ihn gleich zurückziehen. Aber sie nickt, lächelt.

»Fünfzig Euro? Kein Problem, kann ich rausgeben.«

»Wirklich?«

»Überhaupt kein Problem.«

Sie gibt ihm andere Scheine, rotbraune, auf der Rückseite eine Karte von Europa, und fremde Münzen. Er ist unsicher. Das ist doch Deutschland, hier, oder? Er will nachfragen, beginnt: »Wo bin .?« Er bremst sich, das kann er doch jetzt nicht fragen. Was ist denn nur los mit ihm?

Er fühlt einen Wagenschlüssel in seiner Hosentasche, es sind nur ein paar Schritte zum Parkplatz. Aber welches ist jetzt sein Auto? Er zögert. Sicher der BMW dort. Er zieht den Schlüssel aus der Tasche, steckt ihn ins Schloss. Passt nicht. Er wird nervös, betrachtet den Schlüssel in seiner Handfläche. »BMW«, steht doch drauf. Blau-weiß, das ist doch das Emblem. Bayerische Motorenwerke. Es muss ein anderer Wagen sein. Er läuft den Parkplatz ab. Er wird doch noch sein Auto wiederfinden! Er muss es irgendwo anders abgestellt haben. Die Farbe? Wieso, welche Farbe? Na ja, er wird es ja gleich sehen, das Auto wird ja hier irgendwo stehen. Seine Stirn ist nass. Was ist los mit ihm? Nur nicht nervös werden, das wird sich gleich geben.

Er sollte vielleicht besser mal jemanden anrufen. Eine Telefonzelle, wo ist eine Telefonzelle? Warum gibt es hier keine einzige Telefonzelle? Er ist nervös. Wen ruft er am besten an? Also, zuerst . Warum fällt ihm keiner ein? Was ist denn das jetzt, kennt er niemanden? Irgendwo ist ihm gerade der Faden gerissen. Jeder kennt doch Leute. Freunde. Hat er keine Frau? Und Kinder? Das gibt es doch nicht, dass er das gerade nicht weiß. Das wird ihm gleich wieder einfallen. Es muss doch gleich wiederkommen. Das gibt es doch nicht. Es ist wie so eine Zahlenkombination. Sie ist gerade nicht da. Keine Panik! Einen kleinen Moment nur, dann kommt alles wieder. Er schwitzt. Reiß dich doch zusammen! Also, was jetzt? Ärgerlich, er hat die Schachtel mit den Zigaretten auf dem Tisch liegen gelassen. Sie hatten nach nichts geschmeckt. Aber jetzt muss er eine rauchen.

Da ist ein Kiosk. Es ist doch alles ganz normal um ihn herum? Der Lärm, die vielen Autos, Stadtverkehr eben. Lauter neue Modelle. Was hat er heute nur? Alles ist normal. Der Boden schwankt nicht. Er ist nüchtern. Er geht geradeaus.

Ein Kiosk, er steht vor den vielen Zigaretten, Tabak, eine Riesenauswahl. »Das da, bitte!« Er zeigt auf eine blaue Tabakpackung mit einem Leuchtturm darauf. Er hat sich nach der Farbe entschieden. Das Blau gefällt ihm.

»Brauchen Sie Blättchen?«

»Wozu?«

»Zum Drehen.«

»Ach ja.«

Er zahlt. Komisch, dass er das Geld hier nicht kennt. Oder doch? Auf dem Tresen liegt die Hamburger Morgenpost. Ist es jetzt eigentlich noch vormittags? Oder schon Nachmittag? Nein, es ist Nachmittag. Man spürt es. Was hat er denn den ganzen Vormittag gemacht? Das muss hier Hamburg sein.

Vor dem Kiosk rollt er, die Packung »Schwarzer Krauser« unter den Arm geklemmt, routiniert eine Dosis Tabak ins Papier, leckt es an. Soviel ist jetzt schon mal klar: Er raucht. Er dreht selbst.

Zuerst vergewissert er sich der Worte. Das ist »ein Jahrmarkt«, über den er jetzt irrt, »ein Riesenrad«. Es sind nur wenige Leute auf dem Rummelplatz. Er läuft eine mehrspurige Straße entlang. Die vielen Autokennzeichen, alle beginnen mit »HH«. Gelbe Hinweisschilder: Wandsbek. Barmbek. Kein Zweifel, das bedeutet Hamburg. Aber Hamburg? Lebt er in Hamburg? Seit wann lebt er in Hamburg? Und wo?

Weg von dieser lauten Straße! Unter der Hochbahnbrücke links wird die Straße schmaler, Geschäfte. Nichts, er kennt hier nichts. Er steht vor einem riesigen Rathaus, mit einem Turm und Figuren an der Fassade. An so ein Gebäude muss man sich doch erinnern! Er hat es noch nie gesehen. Er rennt durch eine Fußgängerzone, sieht eine Kirche. Sie ist offen.

Er sitzt in der Kirchenbank. Endlich Ruhe. Also, noch einmal. Er ist . Ja, wer ist er? Also, er . Ihm fällt sein eigener Name nicht ein. Das gibt es doch nicht! Dann plötzlich, ein Karussell von Fragen setzt sich in Bewegung: Wie alt, welcher Beruf, eine Frau, Kinder, Eltern, Freunde - oder vielleicht Feinde? Hat er Feinde? Irgendjemand hat ihm eine Droge verabreicht. Vielleicht in einem Getränk. Aber wer? Wo? Angst kriecht in ihm hoch. Wer macht so etwas? Warum?

Er greift in seine Taschen. Er hat Geld. Und einen Autoschlüssel. Was sind das für Zettel? Herausgerissene Seiten, aus irgendeinem Kalender, englisch. Und, was ist das für eine Schrift? Vielleicht arabisch. Und Briefmarken, italienisch. Kalenderblätter? Nein, es sind Seiten aus einem Planer. Weekly Planner, steht doch drauf. Die Wochentage, rötlich gedruckt. Unter Tuesday, mit dem Kugelschreiber, dünn, eilig notiert: V.a.S. 19.00, Parkallee.

Ist das seine Schrift? Und die Abkürzungen - was bedeuten die? Unter Wednesday: Zwei für Esse. 10 000,- in Höhe 5000,-. Was soll das heißen? Unter Thursday: A.P.S., Wirso 21 000,-. Was ist das? Geldsummen? Was sind das für Termine? Kein Jahr, kein Monat, nur die Wochentage. J.K.M. v. R.S., was, verflixt noch einmal, ist das? Die Summen werden immer höher: Dr. R.: 125 000,-. Was bedeutet das? Und wer ist Dr. R.? Und wer ist er selber? Ist er das, der das aufgeschrieben hat? Was läuft denn hier eigentlich ab?

Unter Friday: 18.30 Flughafen. Welcher Flughafen? Ist das seine Schrift? Will er dort jemanden treffen? Will er wegfliegen? Noch mehr Blätter. Nur Abkürzungen, wie Codes.

Also, ruhig, der...

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Autor

Kuno Kruse ist Redakteur beim Stern. Er studierte Romanistik und Germanistik an der Freien Universität Berlin und der Université de Nantes. Der Journalist gehörte zum Gründerkreis der Tageszeitung taz, war viele Jahre Redakteur der Wochenzeitung Die Zeit, arbeitete beim Spiegel und schrieb die Biographie des jüdischen Tänzers und Widerstandskämpfers Sylvin Rubinstein. Kuno Kruse wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Klagenfurter Joseph-Roth-Preis und dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet.
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