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Warum du mich verlassen hast

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
496 Seiten
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am02.09.20191. Auflage
Marko ist fünfzehn und hat das Gefühl, nicht zur Welt dazuzugehören. Er wächst in einem katholischen Jungeninternat auf und versucht den streng geordneten Tagesabläufen zu entkommen. Mit seinen Leidensgenossen Motte, Tilo und Onni nähert er sich vorsichtig Mädchen an, macht erste Erfahrungen mit Alkohol und Zigaretten, und sucht Zuflucht in der Welt der Bücher. Als auch sein kleiner Bruder Robert ins Internat kommt, erhärtet sich Markos Verdacht, dass die Ehe seiner Eltern aus dem Ruder läuft. Paul Ingendaays Internatsroman ist einer der großartigsten dieser Gattung.

Paul Ingendaay, geboren 1961 in Köln, lebte als Schriftsteller und Journalist lange in Madrid. 1997 erhielt er den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik, 2006 wurde er für sein Debüt »Warum du mich verlassen hast« mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Nach dem Roman »Die romantischen Jahre« und dem Erzählungsband »Die Nacht von Madrid« erschienen von Paul Ingendaay zuletzt die »Gebrauchsanweisung für Andalusien« und der Roman »Königspark«.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR11,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextMarko ist fünfzehn und hat das Gefühl, nicht zur Welt dazuzugehören. Er wächst in einem katholischen Jungeninternat auf und versucht den streng geordneten Tagesabläufen zu entkommen. Mit seinen Leidensgenossen Motte, Tilo und Onni nähert er sich vorsichtig Mädchen an, macht erste Erfahrungen mit Alkohol und Zigaretten, und sucht Zuflucht in der Welt der Bücher. Als auch sein kleiner Bruder Robert ins Internat kommt, erhärtet sich Markos Verdacht, dass die Ehe seiner Eltern aus dem Ruder läuft. Paul Ingendaays Internatsroman ist einer der großartigsten dieser Gattung.

Paul Ingendaay, geboren 1961 in Köln, lebte als Schriftsteller und Journalist lange in Madrid. 1997 erhielt er den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik, 2006 wurde er für sein Debüt »Warum du mich verlassen hast« mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Nach dem Roman »Die romantischen Jahre« und dem Erzählungsband »Die Nacht von Madrid« erschienen von Paul Ingendaay zuletzt die »Gebrauchsanweisung für Andalusien« und der Roman »Königspark«.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492993418
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum02.09.2019
Auflage1. Auflage
Seiten496 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4231 Kbytes
Artikel-Nr.4170779
Rubriken
Genre9201
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Inhalt/Kritik

Leseprobe
1

Ich träume von einem Drachen mit Kaninchenlippen. Der katholische Suppenwürfel. Ich zeige euch die Schädelstätte. Die Tantenführung. Ich drehe mich wie ein Rad.

Dass etwas mit mir nicht stimmte, merkte ich daran, dass ich wieder diese Träume hatte. Ich werde sie euch nicht erzählen. Nur soviel, damit ihr ein Bild habt. Schwester Gemeinnutz kam darin vor, meine frühere Erzieherin, die mich zwei Jahre lang gequält hat, die ersten zwei Jahre auf dem Collegium Aureum. Schwester Gemeinnutz war ein grauer Drache mit Kaninchenlippen. In meinen Träumen trug sie ihr Nonnenhabit, aber es war länger und flatterte viel stärker, als ich es in Wirklichkeit je gesehen hatte. Ungefähr so wie ein Drache mit Kaninchenlippen, der Nonnensachen anhat und damit hoch in die Lüfte steigt und bei starkem Gegenwind seine Runden dreht.

Bitte!, rief ich in meinen Träumen, und meine Stimme war wie das Piepsen einer Maus. Bitte! Flieg davon! Verpiss dich! Lass mich in Ruhe!

Aber der graue Drache drehte nur seine Runden, und dann legte er sich in die Kurve, ließ die Flügel lässig ausschwingen und kehrte zurück. Seine Augen glühten, und ich konnte seine Kieferknochen arbeiten sehen. Er schoss so dicht über meinen Kopf hinweg, dass ich mich ducken musste. Ich glaube, er stank auch ein bisschen.

Jetzt kommt das Komische. Je stärker der Wind blies, desto böser guckte der Drache. Als gäbe der Wind ihm Nahrung. Ich wusste ja, wie Schwester Gemeinnutz gucken konnte, ich kannte diesen Blick, kalt und glühend zugleich. So guckte sie immer, wenn sie uns im Gruppenraum beim Abendgebet musterte und nachzählte, ob alle da waren. Oder wenn sie überlegte, wer bei der Gewissenserforschung vorsprechen durfte. Oder wenn sie sich fragte, wer bei der Wahrheitserforschung in die Mitte des Stuhlkreises treten musste, damit die anderen über ihn die Wahrheit sagten, auch gemeine und hässliche Wahrheiten, die niemand über sich selber hören will. Auch die Schande. Es muss im Gruppenraum alles heraus, sagte Schwester Gemeinnutz. Alles muss ans Licht des Herrn.

Aber ich dachte in den ersten zwei Jahren auf der Insel der Verzweiflung nur daran, wie ich alles, was mich betraf, einsperren und verbergen konnte. Ich wollte nicht, dass der Herr es sieht. Weil ich nicht wollte, dass Schwester Gemeinnutz es sieht. Ich dachte, wenn ich es dem Herrn zeige, zeige ich es auch Schwester Gemeinnutz, und das wollte ich nicht. Es gab einfach keinen Weg zum Herrn, ohne dass Schwester Gemeinnutz davon erfahren hätte. Schwester Gemeinnutz war immer schon da. Ich war zehn, als ich das dachte. Und ich dachte es mindestens zwei Jahre lang.

Marko!, rief die Stimme von Schwester Gemeinnutz aus den Höhen herunter, in denen sie mümmelnd herumsegelte. Denkst du an die Gruppe? Oder denkst du nur an dich? Gemeinnutz geht vor Eigennutz!

Das war auf der Insel der Verzweiflung immer die Frage. Dachte ich an die Gruppe? Oder dachte ich nur an mich? Wir waren vierundvierzig zehnjährige Jungen, als wir auf dem Collegium Aureum anfingen. Auch später fragte ich mich oft, wieviel ich an die anderen dreiundvierzig Jungen gedacht hatte. Ob es genug gewesen war oder ob ich an ihnen nicht etwas Wichtiges versäumt hatte.

Natürlich hätte ich Tilo und Motte fragen können, ob sie fanden, dass ich an ihnen etwas versäumt hatte. Aber ich fragte sie nicht. Wahrscheinlich hätte Tilo gesagt: Mann, bist du bescheuert? Und Motte hätte gesagt: Hast du sie noch alle? Brauchst du Hilfe?

Mann, damals hätte ich Hilfe gebrauchen können. Damals hatten wir gegen alle Zweifel das Abendgebet, aber es war zu wenig, fand ich.

Jeden Abend mussten wir in den Gruppenraum kommen, und wenn alles besprochen und geregelt, wenn das bisschen Lob und die große Menge Tadel ausgeteilt waren, die unser Tag so mit sich brachte, dann beteten wir alle zusammen immer dieselben Zeilen, ein verdammter kleiner Kinderchor mit fiepsigen Stimmen und weit aufgerissenen Augen: Hab ich unrecht heut getan, sieh es, lieber Gott, nicht an. Und am Ende: Deine Gnad und Jesu Blut macht ja allen Schaden gut.

Später lernte ich, dass es machen heißen müsste. Machen allen Schaden gut. Plural. Da seht ihr, was für einer ich war. Ich kümmerte mich um so einen blöden Grammatikfehler, während mein Leben in den Abgrund rauschte und das Leben meiner Eltern gleich dazu. So ein Idiot war ich. Ein Arsch, der sich immer um die falschen Sachen kümmerte.

Plötzlich hatte der Drache sein Aussehen verändert. Schwester Gemeinnutz trug jetzt eine Brille mit blaugetönten Gläsern, ein scheußliches Ding. Sie drehte in der Luft immer noch ihre Runden, als müsste sie nie landen oder sich ausruhen, und ihre Kaninchenlippen hörten gar nicht mehr auf zu mümmeln.

 

Bevor ich von der Schädelstätte rede, muss ich noch von einer alten Erinnerung erzählen, die in letzter Zeit öfter wieder hochkam. Ich weiß nicht, ob man Erinnerungen wiedersieht. Vielleicht sind es ja die Erinnerungen, die einen wiedersehen. Ich weiß nur, dass diese Erinnerung plötzlich wieder auftauchte und mir einen schweren Nihilismus-Anfall einbrachte. Eine dunkelgraue Wolke nahm mich der Welt weg, die Geräusche verstummten, und ich stand allein da wie auf dem Mond. Das ist das Nichts, dachte ich.

Ich war neun Jahre alt, und wir machten Ferien auf Mallorca. Sonja war zwölf, Robert war vier. Das Hotel hieß Playa Dorada und lag direkt am Strand. Vome sah man den blauen Swimmingpool, dahinter das blaue Meer. Der Oberkellner war ein blonder Deutscher, der auf seinen spitzen Schuhen einen Plastikball tanzen lassen konnte. Jeden Donnerstagabend gab es Tanz am Swimmingpool. Eine Musikband kam, Los Llamados, das heißt: Die Sogenannten. Sie bauten ihren Verstärker auf, stöpselten die elektrischen Gitarren ein und spielten Beatles-Lieder. Beim Singen rollten sie das r, obwohl man bei Beatles-Liedern das r gar nicht rollen darf. Am ersten Donnerstag musste ich vor einer kleinen Rothaarigen in Deckung gehen, die mit mir tanzen wollte.

Alle fanden, wir waren eine nette Familie. Na ja, mein Vater war nicht da. Wahrscheinlich war er wegen irgendwelcher Kanzleisachen in Köln geblieben. Ich glaube, es war in diesem Sommer, als jeden Donnerstag die Sogenannten spielten. Von meiner Mutter sagten die Leute immer: eure hübsche Mutter. Meine Mutter tanzte ja auch zur Musik, sie lachte, warf das Haar zurück und ließ ihre Armreife klingeln. Manche Männer dort am Swimmingpool nannten sie Irene und wollten von ihr Jürgen, Siegfried oder Detlef genannt werden. Detlef kam aus Oberhausen.

An dem Nachmittag, den ich meine, war meine Mutter plötzlich verschwunden. Wir durften nachmittags immer durchs Hotel fegen, wie wir wollten, wenn wir dabei gut auf Robert aufpassten, wir sollten nur nicht zu viel Sonne abbekommen. Aber als wir meine Mutter wegen irgendeiner Kleinigkeit suchten, war sie nicht da. Sie war nicht am Swimmingpool, nicht im Restaurant, nicht in der Bar, nicht im Zimmer, und wir fanden sie nirgendwo, solange wir auch suchten. Da fragten wir den blonden Deutschen, den Kellner, der draußen am Swimmingpool bediente, und wir hatten das Gefühl, er wollte uns etwas Wichtiges sagen. Aber dann guckte er aufs Meer hinaus und sagte, wir sollten uns keine Sorgen machen, es käme alles wieder ins Lot.

Irgendwann am späten Nachmittag war meine Mutter wieder da. Ihr Haar war feucht und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie wäre drüben im Hotel Playa Bianca gewesen, sagte sie, um etwas zu trinken. Das Hotel Playa Bianca lag am Ende unserer kleinen Bucht, wo Leute mit schlabberigen Hosen ihre Angelruten auswarfen und magere Katzen nach Fischresten suchten. Meine Mutter sagte, wir hätten uns keine Sorgen zu machen brauchen.

Und ich dachte: Komisch, dass alle denken, wir könnten uns Sorgen machen. Sehen wir so besorgt aus? Und ich fragte Sonja danach.

Aber Sonja guckte mich böse an und sagte: Halt die Klappe.

Wir vergaßen den Nachmittag, an dem meine Mutter nicht zu finden gewesen war und plötzlich wieder auftauchte. Beim nächsten Mal, als meine Mutter mit Detlef in der Bar des Hotels Playa Bianca etwas trinken wollte, sagte sie uns vorher Bescheid. Damit wir uns keine Sorgen zu machen brauchten. Am Donnerstag spielten dann die Sogenannten. So kam alles wieder ins Lot.

 

»Theunissen.«

Münzen rutschten durch den Schacht des alten Telefonapparats.

»Papa?«

»Marko! Da bist du ja. Ich hatte schon früher mit deinem Anruf gerechnet. Hast du Nachrichten von Robert?«

»Papa, es ist der zweite Tag. Ich meine, die haben im Juvenat ein bestimmtes Programm, da kommen hundert neue Kinder. Große Brüder sind da nicht vorgesehen â¦«

»Ich dachte, du hättest die Gelegenheit wahrgenommen, ihn zu besuchen.« Er klang, als läse er Notizen ab.

»Was heißt wahrgenommen? Da war nichts wahrzun-«

»Es heißt, sich kümmern, dachte ich. Sich die Mühe machen, einmal ins Juvenat hinüberzugehen, das Gespräch mit der Schwester zu suchen, wie war ihr Name noch, Sieglinde?«

»Das Gespräch mit der Schw-«

»â¦ Schwester Sieglinde, ja, und sich bei ihr zu erkundigen, wie er die ersten Tage überstanden hat. Um dieser Schwester Sieglinde zu zeigen, dass wir da sind. Wir hatten doch darüber geredet, Marko. Du sagtest, an dir sei damals etwas versäumt worden. Ich weiß zwar nicht, was das gewesen sein könnte. Aber ich bin bereit, daraus zu lernen.«

»Papa, bitte! Das Gespräch mit der Schwester zu suchen! Ich sage dir doch, das ist nicht vorgesehen. Die sind auf der anderen Seite des Grabens, da geht man nicht einfach rüber und sagt hallo! Ihr zu zeigen, dass wir da...
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Autor

Paul Ingendaay, geboren 1961 in Köln, lebte als Schriftsteller und Journalist lange in Madrid. 1997 erhielt er den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik, 2006 wurde er für sein Debüt "Warum du mich verlassen hast" mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Nach dem Roman "Die romantischen Jahre" und dem Erzählungsband "Die Nacht von Madrid" erschien von Paul Ingendaay zuletzt die "Gebrauchsanweisung für Andalusien".