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Das letzte Land

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am10.03.20142. Auflage
Anfang des 20. Jahrhunderts in Norddeutschland. Ruven Preuk, jüngster Sohn des Stellmachers, verfügt schon als Kind über eine außerordentliche musikalische Begabung: Er sieht Töne, und auf seiner Geige spielt er sonderbare Melodien. Das bringt ihm auf dem Dorf nicht nur Bewunderung ein. Schließlich erkennt auch der alte Preuk, dass mit seinem Sohn nichts anzufangen ist. Verzweifelt versucht er, ihm die Töne aus dem Leib zu prügeln. Dann lässt er ihn ziehen. In der Stadt lernt Ruven beim Juden Goldbaum, in dessen Enkelin Rahel er sich ebenso verliebt wie in den Glauben an eine strahlende Karriere. Kunst bedeutet Freiheit und Anerkennung, aber die Nazis legen schon die Gewehre an. Als sein Durchbruch unmittelbar bevorsteht, reißt der Zweite Weltkrieg Deutschland in den Abgrund. Und Ruven muss erneut seinen Weg finden, am Ende aller Melodien. Mit Das letzte Land legt Svenja Leiber einen kapitalen Bildungsroman vor: Während um ihn herum ein ganzes Land in sich zusammenfällt, folgt ein außergewöhnlicher Musiker gegen alle Widerstände seiner Begabung.

Svenja Leiber, 1975 in Hamburg geboren, wuchs in Norddeutschland auf und verbrachte als Kind einige Zeit in Saudi-Arabien. Sie studierte Philosophie, Literaturwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte, debütierte 2005 mit dem Erzählungsband Büchsenlicht, 2010 folgte der Roman Schipino. Im Suhrkamp Verlag erschien 2014 Das letzte Land, 2018 Staub und 2021 Kazimira. Svenja Leiber lebt und arbeitet in Berlin und Schleswig-Holstein.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR10,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextAnfang des 20. Jahrhunderts in Norddeutschland. Ruven Preuk, jüngster Sohn des Stellmachers, verfügt schon als Kind über eine außerordentliche musikalische Begabung: Er sieht Töne, und auf seiner Geige spielt er sonderbare Melodien. Das bringt ihm auf dem Dorf nicht nur Bewunderung ein. Schließlich erkennt auch der alte Preuk, dass mit seinem Sohn nichts anzufangen ist. Verzweifelt versucht er, ihm die Töne aus dem Leib zu prügeln. Dann lässt er ihn ziehen. In der Stadt lernt Ruven beim Juden Goldbaum, in dessen Enkelin Rahel er sich ebenso verliebt wie in den Glauben an eine strahlende Karriere. Kunst bedeutet Freiheit und Anerkennung, aber die Nazis legen schon die Gewehre an. Als sein Durchbruch unmittelbar bevorsteht, reißt der Zweite Weltkrieg Deutschland in den Abgrund. Und Ruven muss erneut seinen Weg finden, am Ende aller Melodien. Mit Das letzte Land legt Svenja Leiber einen kapitalen Bildungsroman vor: Während um ihn herum ein ganzes Land in sich zusammenfällt, folgt ein außergewöhnlicher Musiker gegen alle Widerstände seiner Begabung.

Svenja Leiber, 1975 in Hamburg geboren, wuchs in Norddeutschland auf und verbrachte als Kind einige Zeit in Saudi-Arabien. Sie studierte Philosophie, Literaturwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte, debütierte 2005 mit dem Erzählungsband Büchsenlicht, 2010 folgte der Roman Schipino. Im Suhrkamp Verlag erschien 2014 Das letzte Land, 2018 Staub und 2021 Kazimira. Svenja Leiber lebt und arbeitet in Berlin und Schleswig-Holstein.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518736692
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum10.03.2014
Auflage2. Auflage
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1383952
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe




I
1911-1917




DIE FRAUEN ERNTEN PFLAUMEN. Schon wieder ein Sommer, Sonne wie Öl auf Leinwand, Wäsche auf der Bleiche. Die Frauen pflücken und sammeln. Sie reden über Ruven, den jüngeren Sohn des Stellmachers Preuk. Der Junge steht seit dem Morgen zwischen Feld und Allee und rührt sich nicht. »Weiß Gott«, sagen sie, »was soll man mit so einem?«

Ruven Preuk steht an einem Augusttag 1911 abseits vom Dorf und horcht. Er zählt den Takt, den das Licht und die Pappeln ihm schlagen, hell, dunkel, hell. Rundherum brüten die Äcker, deutsch, protestantisch und stumm vor Hitze. Die Pause im reifen Hafer ? und mitten in diese Stille hinein ein Lala und Lalei, das da nicht hingehört, erst fern, dann immer näher. Ruven legt den Kopf zur Seite und schließt die Augen. Dann zuckt er mit den Fingern, die Rechte folgt dem Takt, dem Spiel von Licht und Schatten, die Linke dem Gesang, Lala, Lalei. Jetzt hebt er sogar die Arme, er dirigiert. Die Frauen wenden sich ab und wischen sich Schweiß vom Gesicht. Nur mit Rumstehen und Gefuchtel wird man nichts, denken sie, so wird der Korb nicht voll.

Da kommen zwei hölzerne Wohnwagen mit müden Zugtieren die Allee herauf. Den ersten kutscht, mit einer Hand, ein Mann. Wie schlafend lehnt er gegen den Wagenkasten. Den zweiten lenkt eine Frau in Rock und roter Jacke, sie ist es, die singt. Dahinter marschiert, eins, zwei, eins, zwei, eine Meute Halbstarker aus dem Dorf, die auch schon seit dem Morgen gelauert hatte, angeführt von Fritz Dordel, mit seinem Fischottergesicht und in zu kurzen Hosen. Das zieht laut an Ruven vorbei, wie Parade, der Weg wird ganz dunkel vor Gestalten; dazu die spöttischen Lieder der Frau, Wut und Triumph, sie bleckt die Zähne und haut mit der Peitsche zur Seite und nach dem Fritz, der schon halb auf ihrem Wagen ist. Kaum Bart im Gesicht, fingert der einfach an ihrem Rocksaum herum. Sie tritt ihm mit dem nackten Fuß vor den Bug, dass er rückwärts im Hafer landet. Wütend rafft er sich auf und folgt den Wagen ins Dorf.

Ruven sieht ihnen nach. Da sind sie endlich. Er hat gehofft, dass sie kommen. Fritz hat ihn wie immer bei der Lauer dabeihaben wollen, aber er selbst hat diesmal nicht gewollt. Es ist ein besonderer Tag, so einen gibt's nur einmal im Jahr, und er will grad hinterher, da kommt an der Furt, gleich seitlich zwischen den Büschen, sein Vater herauf, der erwischt ihn besser nicht in der Nähe des Otters. Ruven tut einen Schritt hinter den Stamm der nächsten Pappel. Der alte Preuk sieht ihn also nicht und treibt seinen Braunen weiter durch den weichen Sand. Die Leinen reiben dem Pferd den Schaum aus dem Fell. Die Wagenladung klappert, weil der Wagen die Böschung hinauf muss. Nils Preuk steigt ab und schiebt von hinten, oben fährt er wieder mit und merkt nicht, dass ihm sein Junge aufspringt. Er dreht sich nur um, weil das Geklapper nicht mehr so laut ist, und denkt noch, das Zeug hat sich abgeladen, aber da sitzt ja sein Sohn, so blond auf dem Kopf wie Blumenkohl, und sagt: »Sie sind wieder da«, und schon ist er neben Nils auf dem Bock.

»Wer?«

»Der Spieler mit der Sofie.«

»Voriges Jahr waren die früher«, sagt Nils und schweigt ein Stück. »Diese Sofie, immer von Hof zu Hof. Hat allen mit ihrem Singsang den Kopf verdreht. Sogar dem Röver. Und diese Augen! Zweimal Gift«, sagt er und sieht so vor sich hin.

Dem Bauer Röver war bei den Liedern der Sofie die Hand in die Brunnenkurbel geraten. Vier seiner Finger hat man nachher zum Pastor gebracht. Aber der wusste auch nicht, wohin damit, und hat sie eingesteckt und dann vergessen. Am Nachmittag fiel er beim Taufgespräch beinah in Ohnmacht, als er, die Linke im eingenähten Taschensack, plötzlich die kalten Finger in der Hand hielt und erst Augenblicke später klarkriegte, was er da knetete, während er der Täuflingsmutter mit himmelndem Blick und atemloser Stimme vom lutherischen Jenseits erzählte. Hat die vier Finger dann im Röver'schen Familiengrab verscharrt. »Dem Weib geht's nie zu weit«, hat er leise dazu gesungen, weil der Schnaps, den man ihm zu Hilfe gereicht hatte, noch wild in seinen Adern patrouillierte.

 

Die Stellmacherei liegt hinter dem Dorf. Das Haus ist nicht stattlich, aber man hätte weniger erben können als einen Klinkerbau mit Acker und einem Brunnen, den von morgens bis abends Wilder der Bock umkreist. Wilder hält sich wegen seiner großen Eier für den Größten. Er stößt zu Boden, was aufrecht geht: kurzer Anlauf, ein paar Sprünge, das ist es schon. Dann steht er still und schaut dumm auf sein Opfer.

»Der wird kastriert«, knirscht Nils, wenn es ihn selbst erwischt hat, aber er lässt ihn immer gehen. Er lässt den Bock mit seinem zweifach gedrehten Gehörn auf die Koppel und kastriert ihn nicht, als wäre das eine geheime Verabredung.

Jetzt spannt er den Braunen aus und lädt den Wagen ab. In der Werkstatt riecht es nach Teer. Nils kratzt sich den Bart. »Ja, hau ab«, sagt er zu Ruven, der mit Bettelaugen vor ihm steht. »Aber vergiss nicht, die Tauben bei der Klunkenhöker abzuliefern.« Die Klunkenhöker ist die reichste Frau der Gegend, und sie hat immer Taubenhunger. Jeder im Dorf will ihr was verkaufen, aber sie zieht die Tauben des kleinen Preuk aus gewissen Gründen vor. Der Junge ist schön, sagt man.

Ruven rennt zum Dorfplatz. Er hat die Klunkenhöker gleich vergessen oder zumindest verschoben, denn er sieht nur die beiden Holzwagen und weiß noch vom Vorjahr, wie es in einem der beiden riecht. Süß und nach Frau, denkt Ruven, dabei versteht er davon nichts. Ein einziges Mal war er bei Sofie durch die Tür, weil sie ihn so gelockt hatte. Und dann hat sie nur dagesessen und gelacht und ihm ein Marmeladenbrot geschenkt und ihn einmal das Schienbein sehen lassen, während sich draußen die Dorfjugend am Fenster auftürmte, Fritz Dordel zuoberst. Aber Ruven hat nur gedacht, was mach ich nun mit dem Schienbein, und ist fast so rot geworden wie Sofies Jacke, die aus der Nähe ganz schäbig aussah.

Die Wagen stehen im Schatten, bisschen über Eck, und Joseph, der alte Spieler, hat den Fischotter verjagt und die Ponys gefüttert und lehnt jetzt an der Eiche, wo er gar nicht hingehört, raucht und sieht sich den Platz an. Sein graues Haar ist zum Zopf gebunden, und seine entzündeten Augen blinzeln. Man glaubt, er kommt vom Schwarzmeer, vielleicht auch aus Italien, jedenfalls von weit weg. Neben ihm steht Bauer Jacobs, der die Gemeinde hier vertritt und alles genau kontrolliert.

»Wenn ihr die Straße nicht bald pflastert, geh ich nach Amerika«, sagt Joseph und spuckt Tabak aus.

»Wenn du meinst«, sagt Jacobs und steckt das Geld für das Heu ein, »wir können hier auch ohne dich.« Und dabei grinst er aber, und Joseph grinst auch und zeigt einen goldenen Zahn, als wolle er den Jacobs damit blenden. Der sieht aber schon verächtlich zu den Ponys und brummt, die bräuchten mal was Vernünftiges, Hafer zum Beispiel. Da hofft der Jacobs wohl auf ein weiteres Geschäft, also so was wie das Gold auf Josephs Zahn vielleicht, aber der winkt ab und sagt: »Geht schon so, und wenn nicht, dann zieht der Satan die Wagen, ihr müsst nur pflastern, dann kann ich auch eine Ziege vorspannen«, und er macht mit den Zeigefingern zwei Hörner. Dann kriegt er plötzlich seinen warmen Blick. Er hat den Jungen entdeckt, der in der Nähe herumsteht, und winkt ihn heran. Ruven lächelt verhalten. Er kommt die Ponys streicheln, um noch etwas ranzurücken, und klopft ihnen vorsichtig Staub aus dem Fell.

»Willst du sie sehen?«, fragt Joseph, »komm ruhig näher!«, kleine Verbeugung, und da ist Ruven schon wieder rot, denn er denkt, er soll noch einmal der Sofie ihre Schienbeine ansehen. Aber Joseph ist nicht so einer, seinen Goldzahn hat er anders verdient. Mit seinem eigenen Können hat er die Leute weich und gefügig gemacht, sie hätten ihn am liebsten mit Geld übergossen, jedenfalls erzählt er das so. Er lässt einen Schlüssel am Band herumdrehen, dass es surrt, und lockt Ruven hinter sich her.

Im Wagen ist es dämmrig.

»Augen zu«, sagt Joseph. Er nimmt einen Zylinder vom Wandbrett. Eigentlich ist es kein Zylinder, aber er nennt ihn so, wenn Sofie ihn ausbürsten soll.

»Was hast du da?«, fragt Ruven und schließt die Lider, oder versucht es wenigstens.

»Was wohl«, flüstert Joseph, und dann: »Augen auf!« Ruven kann nicht gleich etwas erkennen, dabei glänzt das Ding rotgolden, und Joseph zieht es mit einem kleinen Schlenker ganz aus dem Hut: »Eine Geige!« Er legt sie an den Hals und fiedelt los. Dann hält er die Geige Ruven hin: »Da, spiel!« Aber Ruven weiß nicht wie, zwei Schritte rückwärts und zwei wieder vor, eigentlich gern, denkt er und nimmt die Geige, den Bogen in die Rechte, und kratzt einmal kurz.

»Spielst, wie die Kuh scheißt«, sagt Bauer Jacobs, der am Fenster lehnt. Ruven fährt herum und blitzt ihn an.

»Na!« Joseph droht mit dem Zylinder, und zu Ruven sagt er wieder: »Spiel!« Und da kommt schon was heraus wie Geschrei, immerhin, besser als nur Kuhscheiße, und dann beruhigt die Melodie sich endlich und wird fast hübsch.

»Sag ich doch.« Joseph schaut ihn sanft an. »Ich sehe so was von Weitem.« Dann flüstert er: »Ich sehe auch diese Töne!« Er zieht Ruven dicht zu sich heran, »Höllenbruder, denk ich, was tust du mir an. Ich sehe es blau und grün und gelb, wenn ich spiel! Es steigt mir hier von der Geige auf, hier, wie Dampf! Und ich denke, du fieberst, Joseph, das glaubt dir keiner! Du fantasierst!« Nachdenklich streicht er sich übers Haar bis zum Zopf und sieht Ruven dabei an.

»Ich glaub es dir schon«, sagt Ruven...

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Autor

Svenja Leiber, 1975 in Hamburg geboren, wuchs in Norddeutschland auf und verbrachte als Kind einige Zeit in Saudi-Arabien. Sie studierte Philosophie, Literaturwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte, debütierte 2005 mit dem Erzählungsband Büchsenlicht, 2010 folgte der Roman Schipino. Im Suhrkamp Verlag erschien 2014 Das letzte Land, 2018 Staub und 2021 Kazimira. Svenja Leiber lebt und arbeitet in Berlin und Schleswig-Holstein.