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Der Tangospieler

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
192 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am07.03.20161. Auflage
Leipzig 1968: Der Historiker Dallow wird nach 21 Monaten Haft aus dem Gefängnis entlassen. Sein Vergehen: Er war als Klavierspieler in einem Studentenkabarett eingesprungen, und der Text, den er mit einem Tango begleiten sollte, hatte Anstoß erregt. »Vergiß die dumme Geschichte«, wird ihm nun geraten. Dallow vergißt nicht, aber er ist gefühllos geworden und wie gelähmt. Selbst das Eingeständnis seiner Umwelt, daß ihm Unrecht geschehen ist, läßt ihn gleichgültig, zumal seine immer dringlicher werdende Suche nach Arbeit erfolglos zu bleiben scheint.



Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle Der fremde Freund / Drachenblut.
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind Spiegel-Bestseller.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR9,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR8,99

Produkt

KlappentextLeipzig 1968: Der Historiker Dallow wird nach 21 Monaten Haft aus dem Gefängnis entlassen. Sein Vergehen: Er war als Klavierspieler in einem Studentenkabarett eingesprungen, und der Text, den er mit einem Tango begleiten sollte, hatte Anstoß erregt. »Vergiß die dumme Geschichte«, wird ihm nun geraten. Dallow vergißt nicht, aber er ist gefühllos geworden und wie gelähmt. Selbst das Eingeständnis seiner Umwelt, daß ihm Unrecht geschehen ist, läßt ihn gleichgültig, zumal seine immer dringlicher werdende Suche nach Arbeit erfolglos zu bleiben scheint.



Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle Der fremde Freund / Drachenblut.
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind Spiegel-Bestseller.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518745526
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum07.03.2016
Auflage1. Auflage
Seiten192 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1375 Kbytes
Artikel-Nr.1901943
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
»Ich weiß nicht, ob Sie es verstehen können, aber eigentlich bin ich nur deswegen für zwei Jahre ins Gefängnis gekommen, weil es der Richter so angeordnet hatte.«

Der Beamte griff nach einem der Schnitzmesser. Dann lächelte er, sah Dallow an und sagte: »An dem Satz ist mehr dran, als man denkt.«

Er nahm sich eine der Holzfiguren und schabte unschlüssig daran herum. »Und in meinem Beruf«, fuhr er fort, »steht man mit einem Bein auch immer im Zuchthaus. Ein vergessenes Signal, und du wanderst ab.«

Dallow nickte ohne rechte Überzeugung, teils weil er ähnliche Sätze zu oft gehört hatte, teils weil er bereits wieder den Streckenplan betrachtete.

Das Telefon klingelte. Der Eisenbahner nahm den Hörer ab und lauschte wortlos. »Neunzig Pfennige«, sagte er zu Dallow, als er den Hörer auflegte.

Dallow bezahlte und verabschiedete sich.

Am nächsten Morgen stand er früh auf, um mit der Mutter das Vieh zu versorgen und die beiden Kühe zu melken. Dann saßen sie lange am Frühstückstisch in der Veranda. Seine Eltern sprachen über die Arbeit in der Genossenschaft, und er hörte ihnen zu und beneidete sie um ihre beständige Zufriedenheit.

»Und wie stehts mit deiner Arbeit, Peter?« fragte die Mutter.

Dallow hatte diese Frage das ganze Wochenende über befürchtet, dennoch traf sie ihn jetzt völlig unvorbereitet. Er lächelte sie an und überlegte, was er ihr sagen konnte. Er wußte, es war ausgeschlossen, seinen Eltern zu erzählen, daß er seit dem Tag seiner Entlassung nicht arbeitete und überdies vorhatte, solange sein Geld ausreichte, jeder Arbeit aus dem Weg zu gehen. Er könnte ihnen nicht erklären, was es für ihn bedeutete, eine feste Anstellung zu vermeiden, nur um jeder, selbst der geringsten Nötigung zu entgehen. Er konnte ihnen nicht sagen, daß er nicht mehr arbeiten wolle. Es wäre für sie noch unbegreiflicher und bitterer als damals die Nachricht von seiner Verhaftung.

»Es gibt noch ein paar Schwierigkeiten«, sagte er sehr langsam. »Ich wurde damals entlassen, und das ist immer noch rechtsgültig.«

Die Eltern sagten nichts, und Dallow wurde augenblicklich wieder zu dem kleinen Schuljungen, der sich vor ihrem strafenden Schweigen für irgendeine Dummheit zu verantworten hatte.

»Ich habe ständig Gespräche«, log er, um sie zu beruhigen, »mit dem Institut, mit allen möglichen Leuten. Ich denke, in den nächsten Tagen …«

Der Vater unterbrach ihn. »Und seit drei Wochen arbeitest du nicht?«

»Es ist schwierig, Vater, es gibt arbeitsrechtliche Probleme. So etwas dauert seine Zeit, aber im Grunde ist es nur ein bürokratisches Problem. Und außerdem helfen mir da ein paar gute Freunde, die die nötigen Verbindungen besitzen.«

Er begann zu schwitzen. Gute Freunde, dachte er, die einzigen, die mir helfen wollen, sind die Herren Schulze und Müller. Wie kam er nur dazu, sie seinen Eltern gegenüber als seine Freunde zu bezeichnen, seine guten Freunde.

Der Vater räusperte sich und sagte dann sehr ruhig und bestimmt: »Komm zurück. Übernimm den Hof. Du kannst in der Genossenschaft arbeiten oder in der Stadt, das wird sich alles finden. Aber übernimm den Hof. Ich kann es nicht mehr. Alles verkommt.«

»Ich bin kein Bauer«, erwiderte Dallow gequält.

Der Alte schüttelte den Kopf. »Das wird sich finden. Hier hast du Arbeit. Hier gehört dir ein Hof. Und das halbe Haus auch. Und wenn du nicht hier wohnen willst, bauen wir an. Oder wir kaufen dir den leerstehenden Ausbau.«

Dallow schüttelte unentwegt den Kopf. Er schloß die Augen, bevor er sagte: »Es ist zu spät, Vater. Jetzt gehöre ich nicht mehr hierher.«

Der alte Bauer sah zu seiner Frau. »Es ist gut«, sagte sie, »laß ihn. Hier wird er auch nicht glücklich.«

»Aber der Hof«, begann der Bauer erneut, unter dem Blick seiner Frau jedoch verstummte er.

Sie sprachen nicht mehr darüber. Dallow bemerkte aber, daß ihn sein Vater immer wieder nachdenklich betrachtete, wenn er sich unbeobachtet fühlte.

Am späten Nachmittag verabschiedete er sich und fuhr zu der Schwester. Seine Mutter gab ihm in einem Einkaufsbeutel selbstgemachte Wurst in Gläsern und ein paar Eier mit. Als er zum Abschied die Eltern umarmte, sah ihn sein Vater nur schweigend an. Sein Blick war ratlos, eine stumme Bitte. Der Sohn konnte ihm nichts antworten.

Es dunkelte bereits, als Dallow die kleine Kreisstadt erreichte, in der seine Schwester lebte. Da er sie selten besucht hatte, mußte er einen Passanten nach dem Weg fragen.

Sebastian, sein Schwager, öffnete ihm die Tür und ließ ihn ein. Sie betrachteten sich, ohne ein Wort zu sagen.

»Schön, daß du hier bist«, sagte sein Schwager endlich und umarmte ihn. »Gerda wird sich freuen, dich zu sehen.«

Sebastian half ihm aus dem Mantel und führte ihn ins Wohnzimmer.

»Setz dich«, sagte er und goß, ohne zu fragen, zwei Gläser voll mit Cognac.

Dallow erkundigte sieh nach seiner Schwester, und als er hörte, daß sie die beiden Töchter ins Bett bringe, gestand er seinem Schwager, ein Geschenk für die Kinder vergessen zu haben.

»Ich habe von dir nichts anderes erwartet«, sagte der Schwager verständnisvoll. »So kleine Mädchen haben dich nie interessiert.« Und er gab ihm, als Dallow darauf bestand, seine Nichten zu sehen, eine Tafel Schokolade, die er beiden Mädchen schenken konnte.

Als er ins Kinderzimmer trat, schrie die Schwester auf, stürzte zu ihm und umarmte ihn. Er redete beruhigend auf sie ein und versuchte, sie sanft zurückzuschieben, doch sie umklammerte ihn fest mit beiden Armen, schluchzte laut und küßte ihn immer wieder. Die beiden kleinen Mädchen saßen in ihren Betten und beobachteten verwundert und verängstigt ihre Mutter und den ihnen unbekannten Mann.

Dallow streichelte das Haar der Schwester und lächelte beruhigend zu den Kindern hinüber.

»Ich schlage vor«, sagte er, »du läßt mich einmal Luft holen, Gerda, und dann sage ich deinen Kindern guten Tag.«

Seine Schwester aber ließ ihn nur aus ihren Armen, um nach seinen Händen zu greifen und ihren Kopf auf seine Brust zu legen. Dallow löste sich behutsam aus den Händen der Schwester, wobei er ihr Haar küßte. Er ging zu den Mädchen, setzte sich auf eins der Betten und sprach mit ihnen. Sie erinnerten sich nicht an ihn, blieben ernst und schwiegen und reagierten auf keins seiner Angebote, was immer er zu ihnen sagte. Als er ihnen die Schokolade vorhielt, zeigten sie kein Lächeln und nahmen sie ihm nicht ab. Er mußte sie auf den Bettrand legen.

»Sie sind müde«, sagte seine Schwester, »wir waren den ganzen Tag mit ihnen in Berlin unterwegs.«

Dallow küßte die Mädchen und verließ das Zimmer. Er setzte sich ins Wohnzimmer, und seine Schwester machte ihm Abendbrot. Dann saßen sie noch lange zusammen und tranken viel. Sie sprachen über die Eltern, über ihre Kindheit und Dallows Nichten, und erst als Dallow aufstand und ins Bett gehen wollte, sagte seine Schwester: »Ich habe das Gefühl, Peter, du solltest uns noch etwas von dir erzählen.«

Dallow seufzte. »Vergiß bitte nicht«, sagte er kopfschüttelnd, »ich habe diese Geschichte schon ein paarmal erzählen müssen. Und bevor ich sie das erstemal jemandem erzählte, habe ich sie erlebt. Und auch da hat sie mich schon gelangweilt.«

»Setz dich«, sagte seine Schwester, »mir jedenfalls wirst du etwas erzählen müssen.«

»Das ist, als ob man es wieder und immer wieder erleben müßte«, sagte Dallow gequält und begann zu erzählen. Er bemühte sich, rasch und teilnahmslos zu berichten, aber die Fragen seiner Schwester nötigten ihn mehrmals, innezuhalten und ergänzende Details zu schildern.

»Und welches Lied hat dich hinter Gitter gebracht?« fragte sein Schwager schließlich.

»Es war ein alter Tango, Adios Muchachos.«

»Kenne ich. Zwei rote Lippen und ein roter Tarragona«, sagte der Schwager erfreut und summte die Melodie.

Dallow verzog schmerzlich das Gesicht und nickte.

»Ein Tango«, sagte der Schwager zufrieden, »ich hatte es vermutet. Übrigens spielt man Tangos nicht auf dem Klavier. Für einen Tango braucht man ein Bandoneon. Vielleicht war es das, was deinen Richter so verärgert hat.«

Dallow stimmte ihm zu. »Wenigstens wüßte ich dann, warum ich zwei Jahre gesessen habe. Aber auch wenn das der tiefere Grund meiner Verurteilung war, so war dies jedenfalls der am teuersten bezahlte Tango.«

»Du irrst dich«, sagte der Schwager. Er stand auf und goß nochmals die Gläser voll. Und mit der Schnapsflasche in der Hand erklärte er: »In der Statistik kannst du nachlesen, daß jeder einzelne dieser alten, traurigen Tangos mehr Selbstmörder auf seinem Gewissen hat als alle verhurten Jungfrauen dieses Landes.«

»Ihr solltet endlich ins Bett gehen«, sagte Dallows Schwester und versuchte, ihrem Mann die Flasche zu entwinden.

»Als ich noch den Rettungswagen fuhr …«

Dallow lachte auf. »Erzählt er noch immer davon?« erkundigte er sich bei seiner Schwester, »erzählt er noch immer von der Zeit mit seinem glorreichen Rettungswagen?«

»Natürlich«, sagte sie, »es waren vermutlich seine glücklichsten Jahre.«

Ihr Mann protestierte. »Es war schwere Arbeit. Fuhren wir zu schnell, wurden wir bestraft, waren wir zu langsam und der Patient starb, waren wir auch dran. Wir standen immer mit einem Bein im Zuchthaus.«

Dallow...
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Autor

Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle Der fremde Freund / Drachenblut.Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind Spiegel-Bestseller.