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Schottland und andere Erzählungen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
190 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am13.08.20181. Auflage
Mit jeder Geschichte, die endet, beginnt eine andere. Im schottischen Dundee beobachtet eine Tänzerin die Spaltung der Nation. In Hamburg geht ein radikalisierter Tierschützer verloren. Ein Berliner Punk findet nach einer Verletzung die Stille in der Musik, und ein junger Kameramann, seines Berufs schon müde, entdeckt das Lesen als Abenteuer. Dahinter steckt der Wunsch nach Erkenntnis, aber die Erkenntnis weckt wiederum Wünsche.

Hier findet man alles wieder, was man aus Ulf Erdmann Zieglers Romanen kennt: den fotografischen Blick, die schnelle Taktung, das Interesse für das Abgründige, die Empathie für seine Figuren. Die Erzählungen sind das, was bei einem Maler der Zeichenblock wäre. Das Unwahrscheinliche findet darin Platz, die Übertreibung, der Witz und die Empfindung. Sie skizzieren das Bild einer unruhigen Lebenswelt und fügen sich zu einem Gesellschaftspuzzle unserer Zeit.



Ulf Erdmann Ziegler, geboren 1959 in Neumünster/ Holstein. Sein Roman Hamburger Hochbahn stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste, 2008 erhielt er den Friedrich-Hebbel-Preis. 2012 erschien Nichts Weißes, später nominiert für den Deutschen Buchpreis und den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, »eine neue Art realistischen Erzählens«. Ulf Erdmann Ziegler lebt in Frankfurt am Main.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextMit jeder Geschichte, die endet, beginnt eine andere. Im schottischen Dundee beobachtet eine Tänzerin die Spaltung der Nation. In Hamburg geht ein radikalisierter Tierschützer verloren. Ein Berliner Punk findet nach einer Verletzung die Stille in der Musik, und ein junger Kameramann, seines Berufs schon müde, entdeckt das Lesen als Abenteuer. Dahinter steckt der Wunsch nach Erkenntnis, aber die Erkenntnis weckt wiederum Wünsche.

Hier findet man alles wieder, was man aus Ulf Erdmann Zieglers Romanen kennt: den fotografischen Blick, die schnelle Taktung, das Interesse für das Abgründige, die Empathie für seine Figuren. Die Erzählungen sind das, was bei einem Maler der Zeichenblock wäre. Das Unwahrscheinliche findet darin Platz, die Übertreibung, der Witz und die Empfindung. Sie skizzieren das Bild einer unruhigen Lebenswelt und fügen sich zu einem Gesellschaftspuzzle unserer Zeit.



Ulf Erdmann Ziegler, geboren 1959 in Neumünster/ Holstein. Sein Roman Hamburger Hochbahn stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste, 2008 erhielt er den Friedrich-Hebbel-Preis. 2012 erschien Nichts Weißes, später nominiert für den Deutschen Buchpreis und den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, »eine neue Art realistischen Erzählens«. Ulf Erdmann Ziegler lebt in Frankfurt am Main.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518758977
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum13.08.2018
Auflage1. Auflage
Seiten190 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.3410808
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


So nah sie sein mag


Ungefähr so: mit festen Schuhen, einer weit ausgestellten Filzhose, einem indischen Hemd und einem algengrünen Strickpullover - ein rundes Gesicht und sehr kurze Haare, die nach oben standen. Die Augen nicht zu hell und nicht zu dunkel, mit einem perlmuttartigen Glanz, einem rätselhaften Punkt, der in ihnen wanderte, je nachdem, woher das Licht kam.

Im Moment kommt das Licht durch die hohen Fenster eines Raums, der auf einen lieblos begrünten Innenhof hinausschaut, was ich aber nicht sehen kann, denn ich sitze, wie sieben oder acht weitere Studenten, mit dem Rücken zum Fenster, während sie in der Reihe gegenüber eine Art Büro eröffnet hat, mit drei Büchern, einer schweren Kladde, die aufgeschlagen daliegt, und wenn ich es richtig erkennen kann, ist das, was schwarz in der Mittelfalz ruht, ein echter Füllfederhalter; obwohl mir dieses Wort in dem Moment unwahrscheinlich vorkommt. Ich beschreibe, still und für mich, wie sie aussieht. Und wie sie spricht. Und was für Bewegungen sie macht. Ich suche nach Worten, um herauszufinden, was an ihr Besonderes ist. Und ob es wahr ist.

Ich bin neu an dieser Universität, von der die jungen Studenten sagen, sie sei viel zu groß und unübersichtlich. Ich aber habe einige Jahre im Beruf hinter mir und fast ein Jahr auf Kreta. Ein Aussteiger wäre ich geworden, wenn ich nicht im September 1983 drei Wochen ein Haus betreut hätte, wo es nur darum ging, in der Pause zwischen den Sommermietern und der Rückkehr der Eigentümerin den Garten zu erhalten in seiner vollen Pracht, was leicht sein sollte, aber in Wirklichkeit schwierig war. Dies war kein Bungalow in Strandnähe mit Fernseher und Schmökerliteratur, sondern ein Haus in den Bergen, vierundfünfzig Bücher auf einem einzigen Bord; Bücher, die vielleicht zufällig abgestellt worden waren, für mich aber das Weltwissen zu enthalten schienen. Im Zeichen des Saturn hieß ein Buch, in dem geschildert wurde, wie bestimmte Denker denken. Sogar, wie sie auf Fotos aussehen. Deswegen war ich nach West-Berlin zurückgekehrt.

Sie macht keine übertriebenen Gesten, wenn sie spricht, und ihre Stimme hat gar nichts Borstiges, so wie wahrscheinlich dieser Mecki, über den ich gern mal mit der Hand fahren würde, mit der linken vielleicht, weil die rezeptiver ist. Ich schaue ihr zu, wie sie spricht, aber verpasse, was sie sagt. Als ich wieder dabei bin, scheint es um die Definition eines Begriffs zu gehen, und ihr Beitrag endet mit den Worten: »... was er eben meinte, als er schrieb: die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«, und ich denke, ist es nicht andersherum, dass sie nah erscheint, obwohl sie weit weg ist? Fünf Meter fünfzig bis fünf Meter siebzig, von meinen Augen bis zu ihren, wenn sie gerade sitzt, so wie jetzt. Schätze ich. Ich bin Kameramann gewesen.

Es gibt Seminare mit hundert Teilnehmern, mit achtzig, fünfzig, zehn. Wie viele sind wir, fünfhundert insgesamt oder fünfhundert in einem Semester? Ich sortiere die Mädchen im Schnelldurchgang, mein inneres Auge stellt eine jede vor einen weißen Hintergrund. Ich speichere zwei oder drei Takes und gebe ihnen Archivnamen: die Drollige, die Strickerin, die Diva. Solche mit kurzen Haaren sehe ich mir aus der Nähe an, wenn die Gelegenheit kommt. Da ist die blonde Schwäbin mit der Stirnfalte, die mit funkelnder Stimme makellose Sätze spricht; da ist die wendige Bleiche mit der schwarzen Bürste, die sich an der Universität in Bamberg gelangweilt hat; eine selbstsichere Drahtige mit schmalen, schnellen Augen, die Claudia heißt. Plus die mit den Filzhosen und dem grünen Pullover. Übrigens, der grüne Pullover hat vorn ein rotes Karo. Claudia kennenzulernen stellt sich als leicht heraus. Sie ist klug und elegant und lesbisch.

Wer sich in West-Berlin verbessert, behält die alte Wohnung und gibt sie weiter an Freunde, Geliebte oder Kollegen; die Mieten sind gering. So bin ich an diese Höhle gekommen. Ich bin zwischen sechs und sieben am Abend zu Haus, hole Kohlen aus dem Keller, schließe die Tür zum Treppenhaus hinter mir und mache sie vierzehn Stunden lang nicht wieder auf. Ich lese alles, was ich muss, und die kretischen Bücher. Diese habe ich komplett gelistet. Ich kaufe mir jede Woche eins, das reicht für ein Jahr. Jedes lese ich von vorn bis hinten und mache Anmerkungen, übertrage Sätze auf Karteikarten, und wenn ich durch bin, blättere ich noch einmal hinein und suche nach meinen großen Fragezeichen am Rand. Wo Fragezeichen stehen, beginne ich mit dem Absatz zuvor, mache nicht Halt und nehme zwei oder drei weitere Absätze mit. Ich glaube diese Methode erfunden zu haben. Wenn man das zweimal wiederholt, kann man die unverständliche Stelle nahezu auswendig, und sie ist dann nicht mehr ganz so unverständlich. Die Abende sind ungeheuer dunkel und schwer. Manchmal grüble ich, warum ich so lange gebraucht habe, um herauszufinden, dass ich das wollte: richtig lesen.

Ich kenne dieses West-Berlin wie keiner meiner Kommilitonen, die Rathäuser der Bezirke, die Garderoben der Theater, die Kühe von Frohnau. Das kommt durch meine Lehre beim SFB, das volle Programm von Nachrichtenschnipseln bis zu einstündigen Features, Politik, Kultur, Sport. Unterwegs in VW-Bussen mit der kompletten Technik; parken, schleppen, aufbauen, auf die Redakteurin warten; filmen, abbauen, schleppen.

Aber was heißt schon kennen. Diese Stadt ist voller schwarzer Spuren, wie eine blasse Farbfotografie, die mit dem Kohlestift überarbeitet wurde. Die Schwärze sinkt von den Dächern über die Brüstungen der Balkone in die Sockel der Mietshäuser und versickert im Boden. Nein, sie versickert nicht wirklich. Man geht auf ihr, auf diesem ungewissen, unscharfen Schwarz, das alles grundiert, die Lichter dimmt und die Reflexe stumpf macht. Es gibt zwei Methoden, sich zu wehren: Die jungen Männer spucken ihren Halsschleim anderen Leuten vor die Füße. Die Hunde scheißen auf diese Stadt, falls es eine ist, im 24-Stunden-Turnus. Aber das macht mir nichts aus.

Claudia geht aufrecht, trägt keine Mütze und hat den roten Schal nur locker um den Kragen ihres Mantels geworfen. Es ist fürchterlich kalt, und ich bin zu früh aufgestanden. Die Vorlesung im Klinikum Westend beginnt morgens um sieben. Jetzt ist es acht Uhr, und wir sind auf dem Weg zum Bus. Claudia sagt, ich solle mich nicht krümmen, davon werde es nicht wärmer. Ich versuche zu gehen wie sie, was auch besser aussieht, denn sie ist etwas größer als ich. Wir suchen heute nach Worten. Der Professor hat über Depression gesprochen und das letzte Stadium mit einem Videofilm illustriert. Die Patientin sitzt in der Ecke eines Raums und bewegt sich überhaupt nicht mehr. Das ist die letzte Phase, die man Stupor nennt. Wenn man sie lässt, wird sie verhungern.

Psychologie habe ich belegt, weil ich dachte, es sei falsch, ein reiner Geistesmensch zu werden. Denn das war ja umgekehrt der Fehler gewesen, acht Jahre zuvor, als ich unbedingt etwas Praktisches hatte lernen wollen. Nicht, dass es schadet, die Dynamik einer Kamera zu verinnerlichen, Schärfe, Helligkeit, Bewegung, Schnitt, aber es reicht nicht für ein Leben oder jedenfalls nicht für meins. Claudia studiert Psychologie im Hauptfach. Das ist nur sinnvoll, wenn man anderen Menschen helfen will. Das aber will ich nicht.

Alles, was ich will, ist zu verstehen. Ich besuche auch das neue Institut der Philosophen in Dahlem. Es sieht aus wie eine zu groß geratene Gartenlaube, der stählerne Rahmen grün oder türkis. Ich tue mich schwer mit den Begriffen, die hier geläufig sind, wie »intersubjektiv« oder »ein-eindeutig«. Aber ich bin nicht gekommen, um mich zu verschließen, sondern um mich zu öffnen. Ich bin fast fünfundzwanzig Jahre alt, habe sechstausend Mark auf dem Konto und keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll.

Es gibt Autoren, finde ich bald heraus, die es einem einfach machen wollen, auch wenn ihre Materie kompliziert ist. Andere bevorzugen das Geheimnis; die Aufklärer sagen: das Dunkle. Beim Dunkel aber denke ich an die Schwärze der Stadt. Insofern bin ich Kameramann geblieben. Man braucht immer ein Schwarz, für die Dynamik eines Bildes. Etwas zwischen Hellgrau und Weiß lässt sich kaum darstellen. Helligkeit ist völlig wertlos, wenn sie keine Zeichnung hat. Ich bin offen für alles, was ich begreife, und genauso offen für das, was ich nicht begreife. Ich sage mir dann, ich muss die Helligkeit...

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Autor

Ulf Erdmann Ziegler, geboren 1959 in Neumünster/ Holstein. Sein Roman Hamburger Hochbahn stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste, 2008 erhielt er den Friedrich-Hebbel-Preis. 2012 erschien Nichts Weißes, später nominiert für den Deutschen Buchpreis und den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, »eine neue Art realistischen Erzählens«. Ulf Erdmann Ziegler lebt in Frankfurt am Main.