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Der Luftgitarrist

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
197 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am13.02.20231. Auflage
Bei der ersten Stadtmeisterschaft im Luftgitarrespielen ist Südens Kollege Martin Heuer nach der Vorrunde zweitbester Teilnehmer - da ist plötzlich sein härtester Konkurrent unauffindbar. Gemeinsam mit Süden und dem Team vom Dezernat 11 macht sich Heuer auf die Suche: Sie finden einen Abschiedsbrief und eine Frau, die taub ist und alles versteht, aber nichts sagen will ...


Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem Crime Cologne Award, dem Stuttgarter Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Friedrich Ani ist Mitglied des PEN-Berlin.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextBei der ersten Stadtmeisterschaft im Luftgitarrespielen ist Südens Kollege Martin Heuer nach der Vorrunde zweitbester Teilnehmer - da ist plötzlich sein härtester Konkurrent unauffindbar. Gemeinsam mit Süden und dem Team vom Dezernat 11 macht sich Heuer auf die Suche: Sie finden einen Abschiedsbrief und eine Frau, die taub ist und alles versteht, aber nichts sagen will ...


Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem Crime Cologne Award, dem Stuttgarter Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Friedrich Ani ist Mitglied des PEN-Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518774267
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum13.02.2023
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.10
Seiten197 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.9096043
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1


Tauwetter setzte ein, und in der Stille unserer Umarmung hörten wir den fliehenden Atem des Schnees. Es war unser eigener, aber wir waren Kinder im Übermut unserer Liebe, die wir so wenig für möglich gehalten hatten wie das Verschwinden des Eises von den Straßen, den Seen und Flüssen. So lange dauerten dieser Winter und unser Alleinsein an, dass wir uns schon beinah damit abgefunden hatten und nur noch gelegentlich, wie aus Notwehr und in einem Anfall zorniger Gier, in warmen Zimmern über einen fremden Körper herfielen, um uns einzubilden, hinterher, wieder draußen, von unserer Erstarrung erlöst zu sein. Dann hörten wir auf, Ausschau zu halten, entwickelten uns, wenn eine Begegnung am Ende der Nacht noch nicht vorüber war, zu Perfektionisten der Simulation, und niemand durchschaute unser Spiel, und manchmal redeten wir uns ein, es ernst zu meinen. Als Sonja und ich uns trafen, hatten wir auf niemanden gewartet, beim Tanzen folgten wir noch einem Ritual, doch als wir im Bett lagen und anfingen, das Übliche zu tun, verweigerten unsere Hände den Gedanken die Gefolgschaft, ihre wie meine, und wir verloren uns selbst aus den Augen und sahen nur noch einander, inmitten der Dunkelheit.

Sieben Wochen verbrachten wir jede Nacht zusammen, fuhren aus dem Dezernat direkt zu mir, nachdem einer von uns je nach Dienstplan eingekauft und die Zeit totgeschlagen hatte, während der andere Protokolle zu Ende tippen oder an Sitzungen teilnehmen musste. Zu Hause vergaßen wir meist zu essen und hörten lieber, zwei oder drei Stunden später, den Geräuschen unserer Mägen zu und hielten unseren Hunger für Trotz. Wir waren kindisch und wahrhaftig und hausten in einer Höhle unter der Gegenwart, deren Minusgrade in den vergangenen Monaten vier Menschen das Leben gekostet hatten, zwei von ihnen waren Obdachlose, die in ihrem Schlafsack erfroren waren, eine Frau starb beim Radfahren in der beißenden Kälte an einem Herzinfarkt. Am Tag, als es zu tauen begann, entdeckte ein Autobesitzer, der nach einem schweren Skiunfall mehrere Wochen im Krankenhaus gelegen hatte, in seinem Wagen die Leiche eines Mannes, der offenbar das Türschloss geknackt und sich zum Schlafen auf die Rückbank gelegt hatte, wo er erfror. Wegen der vereisten und verschneiten Fensterscheiben hatte niemand den leblosen Körper bemerkt.

»Ich hab Durst«, sagte Sonja, und ich reichte ihr die Plastikflasche, die neben dem Bett stand.

»Glaubst du, er hat eine Chance?«, fragte sie zwischen den Schlucken.

Ich sagte: »Vielleicht. Sein härtester Konkurrent ist verschwunden.«

»Ich möcht jetzt nicht über die Arbeit sprechen«, sagte sie.

Mein bester Freund und Kollege Martin nahm an einem Wettbewerb teil, den die meisten, die davon erfuhren, für lächerlich hielten, was Martin vollkommen egal war. Er hatte sich vorgenommen, bei der deutschen Ausscheidung zur Weltmeisterschaft in Finnland auf jeden Fall unter die ersten drei zu kommen.

Der dreiundvierzigjährige Staatsbeamte Martin Heuer war nicht nur, wie ich, Hauptkommissar auf der Vermisstenstelle im Dezernat 11, er war auch ein professioneller Luftgitarrist.

»Ich finde«, sagte Sonja, »er sollte die Lenny-Kravitz-Sachen weglassen, die sind zu schwierig für ihn.«

Für Sonja Feyerabend stellte ein Luftgitarrist den Inbegriff des Kindskopfs dar, vor allem, wenn er das fünfzehnte Lebensjahr überschritten hatte.

Jedes Mal wenn Fabian Schmid, der sich Faks nennen ließ, einen Blick auf die zwanzig bleichen, leicht aufgedunsenen Gesichter warf, die über dem Tresen seiner schlecht beleuchteten Kneipe hingen wie verschlissene Lampions, wandte er sich mit einem Ruck ab und betrachtete die Pfütze um seine Stiefel, auf denen der Schnee schmolz. Das Erste, was er zu mir am Telefon gesagt hatte, als ich Sonjas und mein Kommen ankündigte und ihm mitteilte, wir würden auch die Festivalteilnehmer mit ins Substanz bringen, die sich noch in der Stadt aufhielten, war, er habe diese Leute nicht eingeladen.

»Brutalste Spinner«, sagte Faks.

Ich sagte: »Warum?«

»Warum?« Dann sagte er nichts mehr. Ich wartete. Dann sagte er: »Der Klaus hat mich zugesülzt, ich hab gesagt, hau ab mit deinen Luftgitarristen, er hat gesagt, das ist die Sensation in der Stadt, so was hat´s hier noch nicht gegeben, ich sag, hau ab mit den Idioten, ich will echte Musiker in meinem Laden, ich mach mich doch nicht lächerlich! Ich hab mich rumkriegen lassen. Wahnsinn, was die wegsaufen.«

»Das ist doch gut.«

»Haben Sie die mal gesehen? Wie das aussieht? Die stehen auf der Bühne und fuchteln rum. Am zweiten Abend hab ich mir eine Sonnenbrille aufgesetzt, damit ich das nicht anschauen muss. Und der Klaus? Der liegt daheim und hat Grippe. Jetzt muss ich mit denen allein fertigwerden. Einer ist verschwunden, sagen Sie? Sehr gut! Von mir aus können die alle verschwinden, ich such nicht nach denen.«

»Morgen ist doch sowieso der letzte Tag«, sagte ich.

»Brutalste Spinner«, wiederholte Faks.

Wir verabredeten uns für elf Uhr, bis dahin, so hoffte Martin Heuer, hätte er die rund zwanzig Luftgitarristen, die zwar bereits ausgeschieden waren, aber noch ein paar Tage durch die Stadt bummelten und die Endausscheidung besuchen wollten, ausfindig gemacht. Ursprünglich hatten sich fünfzig Teilnehmer angemeldet, die, verteilt auf mehrere Gruppen, gegeneinander antraten. Und Edward Loos, einer der beiden Spieler, die es bis ins Finale geschafft hatten, war seit gestern Abend verschwunden, er hatte das Substanz gegen einundzwanzig Uhr überraschend verlassen, nicht ohne Martin, mit dem er sich angefreundet hatte, zu einem Mitternachtsdrink ins Lokal neben der Pension, in der er wohnte, einzuladen. Dort wartete Martin bis halb zwei, bevor er an der Rezeption nachfragte. Loos war nicht in seinem Zimmer. Auf eine Weise beunruhigt, für die Martin keine richtige Erklärung hatte, fuhr er mitten in der Nacht ins Dezernat, um Edwards Handynummer herauszufinden, was schneller ging, als er erwartet hatte. Doch er erreichte ihn nicht. Auch am Morgen tauchte Edward Loos nicht in der Pension Stefanie auf.

»Für ihn ist Luftgitarrespielen was Religiöses«, sagte Martin. »Er würd nie freiwillig darauf verzichten, gegen mich anzutreten.«

Entgegen allen Erwartungen hatte Martin Heuer es tatsächlich bis ins Finale geschafft. Keinen Euro hätte ich darauf gewettet. Niemand hätte das getan.

»Wir müssen ihn suchen«, sagte Martin.

Ich sagte: »Er ist nicht als vermisst gemeldet.«

»Er wirkte extrem nervös, ich glaube, er wollt mit mir über etwas reden in der Kneipe. Sein Handy ist die ganze Zeit ausgeschaltet, das war vorher nicht so, er hat ein paar Anrufe aus seinem Büro in Erfurt entgegengenommen, sie planen ein neues Projekt, und er ist anscheinend einer der maßgeblichen Architekten. Irgendwas ist passiert.«

In den zwölf Jahren meiner Arbeit auf der Vermisstenstelle gab es keinen Fall, den ich ausschließlich mit Fachwissen und Logik, den Grundelementen der Kriminalistik, gelöst hätte. Manchmal luden mich junge Kollegen in ihre Seminare ein, um etwas über die Gründe meiner Fahndungserfolge zu erfahren, über die ich selten nachdachte und die mich eher irritierten als ermutigten, weil ich am Ende doch nur eine Akte schloss und keines Menschen Tröster sein konnte, was vielleicht ein wahrer Erfolg gewesen wäre. Auf die Frage nach der wichtigsten Eigenschaft, die einen Kriminalisten auszeichnen sollte, antwortete ich immer dasselbe: Intuition. Letztendlich reduzierte sich unsere Arbeit in vielen Fällen auf das Gespür für die Vibrationen am Rande eines Schweigens und die leisen Echos der Lügen, mit denen wir täglich konfrontiert wurden.

Und wenn ein erfahrener Kommissar wie Martin Heuer seiner Intuition folgte, dann war es klug zu handeln, auch wenn es keinerlei Hinweise auf eine Straftat, einen Unglücksfall oder Suizidabsichten gab, normalerweise Voraussetzungen dafür, dass wir vom Dezernat 11 überhaupt zuständig waren.

Also machten wir uns auf die Suche nach einem Luftgitarristen, der sich in Luft aufgelöst ...
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Autor

Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem Crime Cologne Award, dem Stuttgarter Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Friedrich Ani ist Mitglied des PEN-Berlin.
Der Luftgitarrist