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Der Straßenbahntrinker

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
202 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am13.02.20231. Auflage
Tabor Süden hat Urlaub, baut Überstunden ab und tut wenig anderes, als sich durch München treiben zu lassen. Doch dann wird er überraschend ins Dezernat 11 gerufen: Dort nervt ein Mann alle Kommissare, und sie werden ihn nicht mehr los. Jeremias Holzapfel kam auf die Vermisstenstelle, um mitzuteilen, er sei wieder da. Kurios daran ist nur: Niemand hat ihn als vermisst gemeldet! Und so nimmt sich Süden dieses seltsamen Rückkehrers an - und tritt mit ihm eine Reise in eine schmerzhafte Vergangenheit an ...


Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem Crime Cologne Award, dem Stuttgarter Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Friedrich Ani ist Mitglied des PEN-Berlin.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextTabor Süden hat Urlaub, baut Überstunden ab und tut wenig anderes, als sich durch München treiben zu lassen. Doch dann wird er überraschend ins Dezernat 11 gerufen: Dort nervt ein Mann alle Kommissare, und sie werden ihn nicht mehr los. Jeremias Holzapfel kam auf die Vermisstenstelle, um mitzuteilen, er sei wieder da. Kurios daran ist nur: Niemand hat ihn als vermisst gemeldet! Und so nimmt sich Süden dieses seltsamen Rückkehrers an - und tritt mit ihm eine Reise in eine schmerzhafte Vergangenheit an ...


Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem Crime Cologne Award, dem Stuttgarter Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Friedrich Ani ist Mitglied des PEN-Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518774274
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum13.02.2023
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.5
Seiten202 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.9096042
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1


Der Mann sah mich an und gleichzeitig an mir vorbei oder durch mich hindurch. Merkwürdigerweise hatte ich nicht den Eindruck, er würde schielen. Anscheinend stimmte mit seinen Augen etwas nicht, sie bewegten sich alles andere als synchron, und die Pupillen wirkten außerdem ungewöhnlich groß.

Der Mann stand vor mir, die Hände in den Taschen seiner Cordhose, und schwitzte. Es war heiß an diesem dritten September, und die Luft in der Halle des Hauptbahnhofs, wo wir uns getroffen hatten, schmeckte klebrig. Und doch kam es mir vor, als schwitze der Mann nicht deswegen. Als schleppe er vielmehr einen glühenden Körper mit sich herum.

Der Mann schien gleichermaßen hochgradig verwirrt und sich seiner Sache vollkommen sicher zu sein. Es war, als stünden zwei Personen vor mir. Und hätte der Mann mich gefragt, wie ich zu dieser Einschätzung komme - er selbst sehe sich nämlich keineswegs doppelt -, ich hätte keine plausible Antwort gewusst.

Aber ich war überzeugt, dieser Mann, der sich mit dem Namen Jeremias Holzapfel vorgestellt hatte, log mich die ganze Zeit über an. Und zwar nicht, weil er mich bewusst täuschen wollte, sondern weil er nicht anders konnte. Weil er selbst nicht die geringste Ahnung hatte, was mit ihm vorging, warum er sich so verhielt, was genau er eigentlich von mir erwartete.

»Ich hab Urlaub, Herr Holzapfel«, sagte ich.

Das erklärte ich ihm bereits zum vierten Mal.

»Können Sie was für mich tun?«, fragte er.

Ich wusste nicht, was. Und meine Kollegen wussten es auch nicht. Bevor Volker Thon, der Leiter der Vermisstenstelle im Dezernat 11, wo ich als Hauptkommissar arbeite, mich anrief, hatte er zwei Tage lang versucht den Mann zu beruhigen. Er war Dienstagmorgen plötzlich aufgetaucht und ließ sich nicht wieder abschütteln. Zunächst hatte Thon vorschriftsgemäß die Angaben des Mannes notiert, um einen Vermisstenwiderruf für das Computersystem des Landeskriminalamtes zu verfassen. Bald aber merkte er, dass die Aussagen des Mannes auf keinerlei vorhandenen Daten basierten und seine Beteuerungen offenbar Hirngespinste waren.

Jeremias Holzapfel war mit der Absicht auf die Vermisstenstelle in der Bayerstraße gekommen, seine Rückkehr kundzutun. Nachdem er, wie er sagte, vier Jahre und sechs Monate verschwunden gewesen sei, teile er offiziell mit, dass er nicht länger vorhabe, seine Verwandten und Freunde über seine Lebensumstände im Unklaren zu lassen, und beabsichtige, von nun an in seiner Heimatstadt zu bleiben.

»Löschen Sie meine Daten«, hatte er zu den Hauptkommissaren Thon und Weber gesagt. »Es gibt keinen Grund mehr, mich zu suchen.«

Eine Stunde später war meinen Kollegen klar: Dieser Mann ist nie vermisst worden. Kein Mensch hatte in den vergangenen vier Jahren und sechs Monaten nach ihm fahnden lassen, weder in Bayern noch in einem anderen Bundesland. Über Jeremias Holzapfel existierte keine Akte, in den Systemen von LKA, BKA und unserer eigenen Direktion gab es für sein Verschwinden keinen Anhaltspunkt.

Natürlich hatten meine Kollegen ihn nach Hause geschickt, angeblich wohnte er in einem Hochhaus mit der Adresse Theresienhöhe 6c, das war im Westend, oberhalb der Theresienwiese, auf der jedes Jahr das Oktoberfest stattfindet.

Unter dieser Anschrift war Jeremias Holzapfel, wie meine Kollegen schnell herausfanden, tatsächlich gemeldet. Ihr Angebot, ihn dort hinzubringen, lehnte er ab.

Drei Stunden später klingelte er erneut an der Eingangstür im Parterre des Dezernats. Er nannte einen anderen Namen und gelangte bis vor die verschlossene Glastür im vierten Stock. Dreist behauptete er gegenüber der jungen Freya Epp, die erst kurz zuvor ihren Dienst angetreten hatte, er habe einen Termin bei Volker Thon. Daraufhin blieb meinem Vorgesetzten nichts anderes übrig, als sich noch einmal mit Holzapfels Geschichte zu beschäftigen, was ihm, wie ich mir gut vorstellen konnte, ein Höchstmaß an Disziplin abverlangte. Leute, die ihm den Nerv töteten, würde er jedes Mal am liebsten wegen Lebenszeitdiebstahls anzeigen. Dennoch gelang es ihm, Holzapfel einzureden, seine Angaben seien selbstverständlich gespeichert worden und man werde der Tatsache, dass die Vermisstenanzeigen allem Anschein nach verschludert wurden, auf den Grund gehen und ihn über die Recherchen auf dem Laufenden halten.

Holzapfel, sagte mir Thon am Telefon, habe sich bedankt und sei gegangen. Am nächsten Morgen um zehn rief er an und fragte, was es Neues in seiner Sache gebe. Im Laufe des Tages meldete er sich dann fünf weitere Male, was Thon schließlich derart aus der Ruhe brachte, dass er Holzapfel beschimpfte und ihm riet, zum Arzt zu gehen. Danach wartete Holzapfel bis kurz vor sieben Uhr abends, ehe er wieder anrief. Thon war schon gegangen und so landete er bei Sonja Feyerabend, die ihm geduldig zuhörte. Wie Thon konnte sie es nicht ausstehen, wenn Leute ihr mit ihrem Gerede die Zeit raubten. Im Gegensatz zu ihm jedoch war sie empfänglich für Stimmen. Gefiel ihr eine Stimme, entwickelte sie enorme Geduld, die in krassem Gegensatz zu ihrer sonstigen Ungeduld gegenüber Menschen stand, die nicht wussten, was sie wollten.

Und Jeremias Holzapfel zählte zu denjenigen, die nicht im Mindesten wussten, was sie wollten.

Das jedenfalls war Sonjas Meinung, als sie mich heute Nacht anrief und mir die Einzelheiten berichtete. Sie fragte mich, ob ich bereit sei, mit dem Mann zu sprechen, und ich sagte Nein. Natürlich schaffte sie es, mich zu überreden. Allerdings stellte ich die Bedingung, dass ich das Dezernat nicht zu betreten brauchte.

Ich hatte Urlaub. Resturlaub. Von insgesamt achtundsiebzig freien Tagen, die sich im Lauf eines Jahres angesammelt hatten, wollte ich einundzwanzig in diesem September nehmen. Und auch wenn ich nicht vorhatte zu verreisen und auch sonst nichts Spezielles oder Wichtiges geplant hatte, kam es für mich nicht in Frage, auch nur einen Fuß in mein Büro zu setzen, noch dazu wegen einer Vermissung, die keine war.

Mit Worten, die sie mir nicht verriet, überzeugte Sonja Jeremias Holzapfel sich mit mir im Hauptbahnhof zu treffen, gegenüber dem Dezernat 11. Der Mann brauchte also nur über die Straße zu gehen, bevor er noch einmal auf die Idee kam, im vierten Stock zu klingeln.

Dank Sonjas Beschreibung hatte ich ihn schon von weitem erkannt. Er hatte graues struppiges Haar und trug ein hellbraunes, ausgewaschenes Hemd unter einem blassblauen Blouson und Wildlederschuhe ohne Socken. An seinem linken Ohr baumelte ein kleiner goldener Ring. Holzapfel hinkte und wankte ein wenig, auf den ersten Blick hätte man meinen können, er sei angetrunken und habe seit Tagen kein Bett gesehen.

Dann, als er wenige Meter vor mir stand, ohne dass ich ihn schon begrüßt hatte, fiel mir sein seltsamer Blick auf und die Art, wie er den Mund bewegte. Er schob die Kiefer hin und her, rieb die Lippen aufeinander wie manche Frauen, wenn sie neuen Lippenstift aufgetragen haben, und blickte starr in die Ferne, als konzentriere er sich auf einen bestimmten Punkt.

Ich nannte meinen Namen. Er sah mich an, zumindest wandte er mir den Kopf zu, und streckte mir die Hand hin.

»Sie können mir helfen«, sagte er.

Und ich sagte: »Eigentlich habe ich Urlaub.«

»Urlaub sehr gut«, sagte er, und seine Blicke huschten an mir vorbei oder durch mich hindurch oder beides zur gleichen Zeit.

»Meine Frau war damals sogar im Fernsehen wegen mir«, sagte Holzapfel. Er trank seinen dritten Kaffee, alle schwarz, was ich bewunderte, da das Getränk, das an diesem Kiosk vor den Gleisen ausgeschenkt wurde, ungesüßt und milchlos praktisch ungenießbar war. Doch Holzapfel verzog keine Miene. Er leckte sich die Lippen und drehte den Pappbecher in den Händen, als würde er sich genüsslich daran wärmen. Dabei lief ihm der Schweiß noch immer übers Gesicht.

»Woher wissen Sie das?«, fragte ich. Ich trank schwarzen Tee mit Milch, der nach nichts ...
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Autor

Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem Crime Cologne Award, dem Stuttgarter Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Friedrich Ani ist Mitglied des PEN-Berlin.
Der Straßenbahntrinker