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Die Geschichte des Anderen kennen lernen

Israel und Palästina im 20. Jahrhundert - Großformatiges Paperback. Klappenbroschur.
TaschenbuchKartoniert, Paperback
279 Seiten
Deutsch
Campus Verlagerschienen am17.05.20242. Aufl.
Es ist bekannt, dass in jeder Auseinandersetzung die eine Seite eine ganz andere »Geschichte« erzählt als die andere. Dies gilt auch für den Nahostkonflikt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen Arabern und Juden in Palästina entbrannte und seinen Niederschlag auch in den Schulbüchern der beiden Konfliktparteien fand. Im Jahr 2000, nach einer erneuten Welle eskalierender Gewalt im Nahen Osten, suchte eine Gruppe palästinensischer und israelischer Lehrer einen Ausweg aus dieser Sackgasse und nach einer neuartigen Darstellung dieses Geschehens: Sie überbrückten ihre Vorurteile und schrieben die Geschichte des Konflikts aus ihrer jeweiligen Sicht nieder. So entstanden zwei Erzählungen des Nahostkonflikts, die dieses Buch Seite für Seite nebeneinanderstellt. Beim Lesen erschließt sich dadurch nicht nur der Verlauf der Ereignisse - von der Balfour-Deklaration (1917) bis zum Ende des 20. Jahrhunderts -, sondern auch, wie Feindbilder entstehen und wie Vorurteile überwunden werden können. Zudem wird deutlich, dass es - auch im Nahostkonflikt - nicht nur eine Wahrheit der Geschichte und ihrer Interpretation gibt.mehr

Produkt

KlappentextEs ist bekannt, dass in jeder Auseinandersetzung die eine Seite eine ganz andere »Geschichte« erzählt als die andere. Dies gilt auch für den Nahostkonflikt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen Arabern und Juden in Palästina entbrannte und seinen Niederschlag auch in den Schulbüchern der beiden Konfliktparteien fand. Im Jahr 2000, nach einer erneuten Welle eskalierender Gewalt im Nahen Osten, suchte eine Gruppe palästinensischer und israelischer Lehrer einen Ausweg aus dieser Sackgasse und nach einer neuartigen Darstellung dieses Geschehens: Sie überbrückten ihre Vorurteile und schrieben die Geschichte des Konflikts aus ihrer jeweiligen Sicht nieder. So entstanden zwei Erzählungen des Nahostkonflikts, die dieses Buch Seite für Seite nebeneinanderstellt. Beim Lesen erschließt sich dadurch nicht nur der Verlauf der Ereignisse - von der Balfour-Deklaration (1917) bis zum Ende des 20. Jahrhunderts -, sondern auch, wie Feindbilder entstehen und wie Vorurteile überwunden werden können. Zudem wird deutlich, dass es - auch im Nahostkonflikt - nicht nur eine Wahrheit der Geschichte und ihrer Interpretation gibt.
Details
ISBN/GTIN978-3-593-51999-9
ProduktartTaschenbuch
EinbandartKartoniert, Paperback
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum17.05.2024
Auflage2. Aufl.
Seiten279 Seiten
SpracheDeutsch
Gewicht549 g
Illustrationenzahlr. Fotos und Karten
Artikel-Nr.55914227
Rubriken

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
Inhalt

Die Geschichte des Anderen kennen lernen 7
Zur Erinnerung an Professor Dan Bar-On 9
Der Ansatz dualer Narrative 10
Braucht es ein israelisch-palästinensisches Geschichtsbuch in Deutschland? 16

Erstes Kapitel: Die Balfour-Erklärung
Von der Balfour-Deklaration bis zum Beginn des britischen Mandats im Land Israel23
Die Balfour-Erklärung, 2. November 1917 23

Zweites Kapitel: Die Zwanzigerjahre
Das Land Israel und der jüdische Jischuw in den Zwanzigerjahren39
Palästina in den Zwanzigerjahren 40

Drittes Kapitel: Die Dreißiger- und Vierzigerjahre
Das Land Israel in den Jahren 1931-194765
Der palästinensisch-israelische Konflikt in den Dreißiger- und Vierzigerjahren 65

Viertes Kapitel: Der Krieg von 1948
Der Unabhängigkeitskrieg und die Staatsgründung Israels93
Die Nakba 1948 93

Fünftes Kapitel: Die Fünfziger- und Sechzigerjahre
Die Fünfziger- und Sechzigerjahre - die ersten Jahrzehnte des Staates Israel111
Die Palästinafrage - Jahre der Heimatlosigkeit und Verzweiflung 111

Sechstes Kapitel: Der Krieg von 1967
Der Sechs-Tage-Krieg - 5.-10. Juni 1967143
Israelische Aggression gegen arabische und palästinensische Gebiete - der Junikrieg 1967 143

Siebtes Kapitel: Die Siebziger- und Achtzigerjahre
Vom Sechs-Tage-Krieg zur ersten Intifada: Israel während der Siebziger- und Achtzigerjahre167
Palästina und die Palästinenser zwischen 1967 und 1987 167

Achtes Kapitel: Erste Intifada
Die erste Intifada199
Die Intifada 1987 199

Neuntes Kapitel: Die Neunzigerjahre
Die Neunzigerjahre213
Die Suche nach einem Ausgleich ... Abkommen mit ungewissem Ausgang 213

Anhänge
Glossar248
Bibliografie262
Anmerkungen268

Persönliche Entwicklungslinien der Lehrerinnen und Lehrer 277
mehr
Prolog
Zwei Wahrheiten einer langen Konfliktgeschichtemehr
Leseprobe
Der Ansatz dualer Narrative: Jüdisch-israelische und palästinensische Schüler lernen die Geschichte der anderen Konfliktpartei kennen

Sami Adwan und Dan Bar-On

Dieses Buch ist das Ergebnis einer kreativen pädagogischen Herangehensweise, die von einer Gruppe von palästinensischen und israelischen Lehrern entwickelt wurde und die sämtlich als Koautoren mit uns zusammen geschrieben haben: Myoun Al-Husaini, Khalil Bader, Nir Cohen, Natalia Gotkobiski, Niv Keidar, Eyal Keren, Eshel Klinhouse, Sara Maor, Shai Miselman, Rula Musleh, Lila Noy, Yiftach Ron, Yousef Tumaizi (1957-2002), Naom Vered, Sahar Yousef, Rachel Zamir und andere. Beraten und begleitet von zwei Historikern, Professor Eyal Naveh und Professor Adnan Musallam, arbeitete die Gruppe zwischen 2002 und 2007 über einen Zeitraum von sieben Jahren hinweg unter der Federführung von PRIME (Peace Research Institute in the Middle East). Die Herausgeber des Textes sind auch die Kodirektoren von PRIME. Das gemeinsame Ziel war es, eine originelle Idee zu verwirklichen: einen historiografischen Text mit zwei Narrativen über Ereignisse, die das Schicksal zweier Nationen im vergangenen Jahrhundert bestimmten. Für diese beiden Völker war - wie für viele andere auch - das 20. Jahrhundert der Staatsgründung gewidmet. Während dieser Prozess normalerweise eine positive Bedeutung für eine Gesellschaft hat, verlief in diesem Fall die Entwicklung dieser beiden Nationen unglücklicherweise in Opposition zueinander und sogar, bis zu einem gewissen Grad, auf Kosten des jeweils anderen (Bar-Tal, 2000). Der unlösbare Konflikt zwischen den beiden Gesellschaften verstärkte über die letzten hundert Jahre hinweg die Konstruktion ihrer voneinander getrennten kollektiven Identitäten, um den Preis einer vergifteten Beziehung zwischen den Menschen beider Gesellschaften.
Daher rührt der in diesem Buch verkörperte Ansatz: Die Darstellung der voneinander getrennten historischen Narrative dieser beiden Völker in einem gemeinsamen Lehrbuch - sodass Oberstufenschüler und Studenten, Lehrer, Ausbilder von Lehrern und Eltern auf eine Art und Weise mit dem Narrativ der anderen Nation konfrontiert werden, dass sie es als neue und wertvolle Information für sich anerkennen. Mit diesem Buch weicht die gewohnheitsmäßige Haltung, das historische Narrativ des jeweils anderen einfach zu ignorieren, zugunsten eines Prozesses der Entwicklung von gegenseitigem Respekt und dem Verständnis für die jeweilige "Logik" jeder Seite und damit einem notwendigen (wenn auch nicht ausreichenden) Schritt hin zu einer besseren Beziehung zu den "anderen" und zwischen den beiden Völkern.
Durch die Wahl dieses Ansatzes haben wir die Möglichkeit aufgegeben, eine einzige "überbrückende Erzählung" zu entwickeln, mit der sich Menschen beider Gesellschaften identifizieren könnten. Nach dem Wiederausbruch weitverbreiteter Gewalt - nach der Al-Aqsa-Intifada - im Oktober 2000 kamen wir zu dem schmerzhaften Schluss, dass ein solches überbrückendes Narrativ als nicht lebensfähig im Kern unserer Gesellschaft erscheint, nicht für einige Zeit, vielleicht auch nicht innerhalb der nächsten Generationen. Das gegenseitige Misstrauen, der Hass und die Vergiftung der Gemüter unter beiden Völkern in Bezug auf die "Anderen" sind derart intensiv geworden, dass die Aufrechterhaltung einer wechselseitigen Verbindung unmöglich geworden ist, außer für eine sehr kleine und exklusive Elite auf jeder Seite. Wir fragten uns an dieser Stelle, was man angesichts des gegenwärtigen feindseligen Klimas tun könne, wenn man nicht zuschauen und die sich beschleunigende negative Dynamik beobachten will. Wir haben beschlossen, einen Prozess zu initiieren, der es beiden Völkern ermöglichen würde - insbesondere den jüngeren Generationen -, über eine eindimensionale Identifikation mit dem eigenen Narrativ hinauszugehen und Anerkennung, Verständnis und Respekt (ohne bloße Hinnahme) für die Erzählung des Anderen aufzubringen. Die Tatsache, dass diese Idee angesichts des zu dieser Zeit überwiegend feindseligen politischen Klimas naiv oder sogar utopisch klingen könnte, schreckte uns nicht ab.
In einer früheren Studie beschrieben wir den Prozess: Wie eine Gruppe von israelischen und palästinensischen Lehrern diese parallelen Texte entwickelten und in ihren jeweiligen Klassenräumen ausprobierten (Adwan und Bar-On, 2004; 2006). Im Lauf der ersten fünf Jahre (2002-2007) durchliefen die Lehrer während der Anfertigung ihrer jeweiligen Narrative eine bemerkenswerte Entwicklung, die eine eigenständige Diskussion verdient. Wir werden kurz auf einige der Fragen eingehen, die dabei aufkamen:

1. Mehrere Narrative wahrnehmen und damit umgehen: Kinder vs. Erwachsene.
2. Mehrere Narrative in Stresssituationen einführen: Ein Verfahren für den Umgang mit Trauer und ihres Durcharbeitens, um es einer Gruppe zu ermöglichen, den anderen und seine kollektive Existenz zu entdämonisieren.
3. Die Bewältigung von Machtasymmetrie bei gleichzeitiger Symmetrie der Narrative: eine konstante Spannung.
4. Ein Verständnis der Narrative als Reflexion der unterschiedlichen Phasen in der Nationsbildung: die monolithischen und die neomonolithischen Phasen in den beiden Gesellschaften, der palästinensischen und israelischen.

1. Mehrere Narrative wahrnehmen und damit umgehen: Kinder vs. Erwachsene

Coleman und Lowe (2005) legen nahe, dass sich Menschen in Konfliktsituationen in ihrer Fähigkeit unterscheiden, entgegengesetzte Ideen zu tolerieren, und dass diejenigen mit einer höheren Toleranz im Prozess der konstruktiven Konfliktbearbeitung hilfreich sind. Was kann diese Toleranz erzeugen? Steele, Spencer und Lynch (1993) schlagen vor, dass eine solche Toleranz an persönliche Eigenschaften gebunden ist - z. B. hohes Selbstwertgefühl - oder an situative Faktoren, die eine solche Toleranz verstärken können (Bargh und Cartrand, 1999). Peng und Nisbett (1999) haben festgestellt, dass kulturelle Unterschiede bei den je unterschiedlichen Fähigkeiten wirksam sind, dialektische Lösungen für soziale Dilemmata zu finden. Orientalische Studenten zeigten eine höhere Bewältigungsfähigkeit als westliche Studenten, die mehr formallogische Argumente verwendeten. Darüber hinaus tendierten westliche Studenten dazu, zwei widersprüchliche Erklärungen für dasselbe Geschehen zu polarisieren, während orientalische Studenten dazu neigten, sie als gleichwertig zu akzeptieren.
Harris und Giménez (2005) fanden heraus, dass junge Kinder in der westlichen Kultur dazu neigen, eine biologisch-weltliche Einstellung gegenüber dem Tod einzunehmen, während die Erwachsenen eine größere Tendenz dazu zeigen, an die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod zu glauben. Indem sie die Einstellung von Kindern und Erwachsenen zu Wahrheit und Lüge verglichen, testeten Fu, Lee, Cameron und Xu (2001) orientalische und westliche Kinder daraufhin, wie sie eine Verheimlichung der Wahrheit im Rahmen von prosozialen Aktivitäten bewerten. Orientalische Erwachsene nahmen dieses Verheimlichen der Wahrheit nicht als Lüge wahr, wenn sie auf eine prosoziale Aktivität bezogen war, während westliche Erwachsene dies sehr wohl taten. Sowohl orientalische als auch westliche Kinder bewerteten ein solches Verheimlichen als positiv, selbst wenn sie es als Lüge benannten. Orientalische Kinder waren in Bezug auf diese Werte stärker von den Normen der Gesellschaft von Erwachsenen beeinflusst.
Wir weisen darauf hin, dass Kinder an alltägliche Situationen gewöhnt sind, in denen es mehrere Narrative gibt, und dass sie durch eigene Erfahrungen lernen, wie man sich zwischen ihnen bewegt. Sie wissen beispielsweise, dass ihr Vater in Bezug auf bestimmte Themen einer anderen Sichtweise anhängt als ihre Mutter und dass man sich ihm daher auch auf eine andere Weise nähert. Ebenso verfügen ihre Geschwister wahrscheinlich auch über andere Narrative als ihre eigenen und sie unterscheiden sich auch untereinander (Bonitatibus und Beal, 1996).
Eine Tradition der Entwicklungspsychologie macht geltend, dass jüngere Kinder weniger in der Lage sind, mit mehreren Narrative umzugehen, als Kinder in der operationalen Phase (7-11) (Piaget und Inhelder, 1948/1956; Klausmeier, 1979), weil sie größere Schwierigkeiten dabei haben, sinnvoll mit einer anderen Perspektive umzugehen, die sich von ihrer eigenen unterscheidet. Jüngere Kinder haben eine stärker konkrete und dogmatische Denkweise und haben daher Schwierigkeiten, den Unterschied zwischen empirischen und logischen Problemlösungen zu verstehen (Morris und Sloutsky, 2001). Die Schlussfolgerung könnte daher sein, dass ein dual-narrativer Ansatz für jüngere Kinder weniger zugänglich sein wird.
Eine weitere Forschungstradition hingegen weist hingegen auf anderes hin. In einer Studie (Ackerman, 1988; Casteel, 1997; Bonitatibus und Beal, 1996) zeigten sowohl jüngere und ältere Kinder ähnliche Fähigkeiten bei der Annahme zweier Interpretationen einer empirischen Beschreibung, in der ein Widerspruch zwischen der Intention eines Akteurs und seinen tatsächlichen Aktionen aufgezeigt wurde. Beide Altersgruppen waren in der Lage, den Widerspruch zwischen den Absichten eines Akteurs und den Ergebnissen zu akzeptieren, auch wenn die Wahrscheinlichkeit beider Möglichkeiten nicht als hoch angesehen wurde. Bonitatibus und Beal (1996) führten eine Reihe von Experimenten durch, bei denen jüngere Kinder eine höhere Fähigkeit aufwiesen, zwei unterschiedliche Ergebnisoptionen einer Beschreibung zu akzeptieren, im Vergleich zu Kindern in der operationalen Phase.
Die zitierten Studien behandelten die Probleme mehrerer Erzählungen, die als emotional relativ weit von den Forschungsteilnehmern entfernt beschrieben werden können, sowohl was die individuelle als auch die kollektive Ebene angeht. Wenn jedoch die Öffentlichkeit mit zwei politisch und emotional aufgeladenen Narrativen konfrontiert ist, wie gut können Kinder oder Erwachsene dann mit der Vorstellung umgehen, dass mehrere Erzählungen eines historischen Ereignisses gleichermaßen legitim und logisch sein können - vor allem, wenn die Narrative ihre eigene historische Darstellung ebenso umfassen wie die ihres wahrgenommenen Feindes? Kann man erwarten, dass Kinder oder Erwachsene die "Logik" hinter der historischen Darstellung ihres Feindes akzeptieren, wenn sie es doch gewöhnt sind, diese als unglaubwürdig angeprangert zu sehen?
Unter der Annahme, dass der unlösbare Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis einen erheblichen negativen Einfluss auf Kinder und Erwachsene hatte, erwarteten wir eine relativ geringe Offenheit dafür, das Narrativ des anderen in einer konstruktiven Weise anzunehmen. Wir antizipierten, dass unter solchen Umständen bereits sehr junge Kinder die Haltung ihrer Eltern und Lehrer verinnerlicht und angenommen und sich mit dieser identifiziert hatten, eine Haltung des Glaubens an die moralische Überlegenheit der eigenen Darstellung der Geschichte des Konflikts, unter Vernachlässigung oder moralischem Ausschluss der Darstellung der anderen Seite (Opotow, 1990; Bar-Tal, 2000). Wir wussten daher, dass die Implementierung unseres dual-narrativen Ansatzes in den Klassenzimmern nicht einfach werden würde, aber wir wurden ermutigt, in die Bereitschaft unserer Lehrer zu vertrauen, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.

2. Ein Prozess der Bewältigung oder Trauer: der Verzicht auf die Dämonisierung des "Anderen"

In anhaltenden Konflikten erzeugt jede Seite eine monolithische Identität, indem sie sie in Gegensatz zum "Anderen" konstruiert. Historische Fakten werden in Anspruch genommen, um die mit den monolithischen Konstruktionen verbundenen Narrative zu unterstützen (Bar-On, 2008). Das Erlernen von Respekt vor dem Narrativ des Anderen kann als Bewältigungsprozess gesehen werden, der einem Trauerprozess ähnelt (Freud, 1930): Man muss lernen, jene Teile des eigenen Narrativs aufzugeben, die wesentlich für die Aufrechterhaltung eines negativen und als moralisch minderwertig betrachteten kollektiven Bildes von dem Anderen sind (und die eine für die eigene Gruppe positive Erzählung unterstützen). Die Kinder und Erwachsenen, die an einem solchen Lernprozess teilnehmen, nehmen wahr, dass sie etwas loslassen, etwas verlieren, und sie haben in der Zwischenzeit keine klare Vorstellung davon, was sie durch diesen Verlust gewinnen (Tajfel, 1982).
Während wir mit unseren Lehrern die beiden Narrative entwickelten (Adwan und Bar-On, 2004), wurde der Trauerprozess augenscheinlich. Jedes Mal, wenn eine Seite eine negative Bestimmung des Anderen aufgeben musste, gab es in der Gruppe der Lehrer eine Krise: "Wie werden wir in der Lage sein, euren Text in unserer Klasse zu unterrichten? Die Schüler sind es gewohnt, gerade in diesem Zusammenhang ganz anders über euch zu denken." Diese Arbeit mit unseren Lehrern veranschaulicht die zentrale Rolle der Emotionen in der Lehre und beim Erlernen von historischen Erzählungen: Normalerweise entstehen positive Emotionen gegenüber der eigenen historischen Erzählung und negative gegenüber der des Anderen. Da Historiker einen engen Fokus auf die historischen Fakten an sich legen, sind sie es kaum gewohnt, diesen Aspekt des Lehrens und Lernens zu berücksichtigen. Ein paar Lehrer aus jeder Gruppe machten sich die Mühe, darüber nachzudenken, und sie waren in der Lage, andere Lehrer dabei zu unterstützen, diese Krisen zu meistern und erfolgreich den Trauerprozess zu durchleben. Bemerkenswert ist, dass die emotionalen Bestandteile dieses Prozesses eine besondere Aufmerksamkeit benötigen, die für jedes Fortschreiten der Verarbeitung oder Trauer unerlässlich ist (Freud, 1930).
Eine Lehrerin namens Rachel fasste den Prozess, den sie im Verlauf von vier Jahren im Projekt durchlebt hatte, folgendermaßen zusammen:

"Als ich die Erzählung von der anderen Seite las, war ich zuerst wütend und frustriert darüber, wie anders sie als unsere ist. Ich empfand, dass sie nicht auf Fakten, sondern auf Geschichten und Emotionen basiere. Später erlernte ich, den Unterschied kognitiv zu akzeptieren, aber ich hatte immer noch das Gefühl, dass unser Narrativ dem ihrigen überlegen war. Erst vor Kurzem habe ich gelernt, die Logik hinter ihrem Narrativ zu sehen und auch emotionale Anteilnahme an dem zu empfinden, was sie durchgemacht haben. Wenn mich dies vier Jahre gekostet hat, kann man sich vorstellen, was das für die Schüler oder Eltern bedeutet."

In diesen Sätzen beschrieb Rachel eigentlich die Diskurskategorien, die Steinberg in ihrer Forschung im Rahmen von Workshops mit israelisch-jüdischen und arabischen Studenten an der Ben-Gurion-Universität Be'er Scheva identifiziert hat: Sie begannen mit einem "ethnozentrischen" Diskurs, gingen dann zum "Öffnen eines Fensters" in einer "doppelten Wand" über, begriffen kognitiv, wie unterschiedlich der Andere ist, und fuhren dann mit Momenten des Dialogs zwischen den Parteien fort (Steinberg und Bar-On, 2002). Darüber hinaus legte Rachel nahe, dass die Akzeptanz des Ansatzes dualer Narrative lange Sequenzen von Klassenarbeitszeiten verlangt und nicht mit einem Schnellschuss erreicht werden kann.
Ein weiteres Beispiel für die Intensität dieses Trauerprozesses: Die Lehrer absolvierten dreizehn Workshops, bevor einer von ihnen einen Kollegen von der anderen Seite fragte: "Wenn ich euren Text über die 1950er-Jahre lehre, was ist für euch wichtig, das ich unterstreichen soll?" Das ist eine ganz grundlegende Frage in Bezug auf diesen Lernprozess, aber sie wurde unter den Lehrern nicht früher erhoben. Ebenso sahen wir, wie einige Lehrer erst relativ spät im Prozess ihrer Arbeit Mediationsfähigkeiten entwickelten und Wege fanden, die Verhandlungen mit Mitgliedern der anderen Gruppe zu führen und ihre Schwierigkeiten in einer empathischen Weise mitzuteilen, sodass der Prozess sich weiterbewegen konnte. Diese Fähigkeit entstand bei den Lehrern nicht in einer früheren Phase des Projekts und die Vermittlerrolle musste von den Autoren dieser Einführung gespielt werden (Adwan und Bar-On, 2006).
Um diesen Punkt abzuschließen, müssen wir beachten, dass das Erlernen des historischen Narrativs des Anderen in einer realen Konfliktsituation viel komplexer ist, als einfach kognitiv in einer experimentellen Situation mit mehr als einer Erzählung umzugehen, wie es in der oben zitierten Literatur beschrieben wird. Wenn man die Erfahrungen der israelischen und palästinensischen Lehrer mit denen von europäischen Lehrern vergleicht, die unseren Ansatz dualer Narrative zu testen versuchten, so zeigt sich, dass es für die Letzteren angemessener sein kann, an einem mehr "neutralen" kognitiven Prozess festzuhalten. In Sommerseminaren beispielsweise, die wir zwischen 2005 und 2007 durchführten, konnten wir sehen, dass die europäischen Lehrer, die unsere beiden Narrative vermittelten, eine andere Aufgabe hatten als die israelischen und palästinensischen Lehrer. Der erste Unterschied war, dass die Europäer weniger emotional von dem Gefühl eines Verlustes betroffen waren. Der zweite Unterschied lag in den Bemühungen, die Schüler darin zu unterstützen, ein komplexeres Verständnis des Nahostkonflikts zu entwickeln, hatten diese ihren Lernprozess doch mit geringeren Vorkenntnissen eines jeden Narrativs (keine emotionale Beteiligung) und/oder mit einer sehr einseitigen Sicht des Konflikts begonnen (einseitige vorgängige emotionale Beteiligung).

3. Die Spannung zwischen der Asymmetrie der Macht und der Symmetrie der Erzählungen

In unseren Lehrerseminaren beobachteten wir eine konstante Spannung zwischen der Tatsache, dass die beiden Narrative als gleichwertig betrachtet wurden, während es außerhalb des Seminarraums eine andauernde Machtasymmetrie zwischen den Konfliktparteien gab: Israels Dominanz und Okkupation der Palästinenser in den besetzten Gebieten und die Herrschaft über die palästinensische Minderheit durch die jüdische Mehrheit im Staat Israel (Adwan und Bar-On, 2004; 2006). Zugleich neigen die meisten israelischen Juden dazu, sich selbst als eine Minderheit in einem feindlichen muslimischen Nahen Osten wahrzunehmen und dadurch eine entgegengesetzte Asymmetrie des inneren Gefühls zu konstruieren. Diese Spannung zwischen zwei gegensätzlichen Asymmetrien ist denjenigen unter uns wohlbekannt, die Erfahrung in der Arbeit mit kleinen Gruppen "unter feindlichem Feuer" haben (Maoz, 2004).
Wir gingen davon aus, dass die Machtasymmetrie zwischen den Konfliktparteien die Schüler daran hindern könnte, unseren neuen Ansatz anzunehmen, solange die Besatzung der Palästinenser und die Gewalt gegen israelische Bürger anhielt (Adwan und Bar-On, 2004). Nichtsdestotrotz hofften wir sehr, dass die Schüler, wenn sie einmal unseren Ansatz angenommen hätten, ihren eigenen Weg im Umgang mit dem Übergang von der relativ sicheren Umgebung des Klassenraums zu der gewalttätigeren und weniger sicheren Gesellschaft finden würden, in der sie immer noch lebten. Sie mussten "Wiedereintrittsstrategien" entwickeln, um es möglich zu machen, an dem festzuhalten, was sie in der Schule über die beiden Narrative gelernt hatten, während sie sich auf eine Rückkehr in ihre feindlichen äußeren Umgebungen einstellten (Steinberg und Bar-On, 2002).

4. Die beiden Narrative reflektieren Stadien der Nationsbildung und kulturelle Werte

Die israelischen und palästinensischen Narrative sind in ihrem inneren Aufbau nicht symmetrisch und in der derzeitigen Phase kann das auch nicht erwartet werden. Das palästinensische Narrativ ist in seiner inneren Struktur viel monolithischer und repräsentiert das Bedürfnis der Palästinenser, ihre unabhängige Staatlichkeit zu entwickeln, ähnlich wie die Art und Weise, in der das israelisch-jüdische Narrativ gefasst wurde, als Israel für seine Unabhängigkeit kämpfte (Bar-On, 2008). Das israelische Narrativ ist nach 55 Jahren Staatlichkeit ein bisschen selbstreflexiver und selbstkritischer, was einige der traditionellen "zionistischen" historischen Erzählungen angeht. Seit Oktober 2000 jedoch enthält das Narrativ eine neomonolithische Wendung. Im Ergebnis ist es nicht länger ein radikales oder postzionistisches Narrativ, sodass die Mehrheit der israelisch-jüdischen Schüler sich wohl mit ihm fühlen kann (Adwan und Bar-On, 2004). Darüber hinaus spiegelt die israelisch-jüdische Erzählung mehr westlich-kulturelle Werte einer formalen Moral wider (Gilligan, 1982), während die palästinensische Erzählung eher nahöstliche Werte einer zwischenmenschlichen Moral reflektiert.

Zusammenfassung: ein experimenteller Ansatz

Wir hoffen, dass der einzelne Leser die experimentelle Stimmung unseres reformpädagogischen Ansatzes aufnimmt: Unsere Lehrer sind eher Wissensgeneratoren denn Wissenskonsumenten, insofern sie ihr eigenes "Handbuch für Lehrer" auf der PRIME-Webseite entwickelten und ihre neuen Erfahrungen im Klassenraum evaluierten, indem sie das Klassenzimmer des jeweils anderen besuchten. Es ist wichtig, festzuhalten, dass wir noch ganz am Anfang dieses Lernprozesses stehen und nicht an seinem Ende. Die in diesem Buch präsentierten Narrative haben nichts Endgültiges. Sie sind die Narrative, die unsere Lehrer in einer gewalttätigen Phase unseres Konflikts in den Jahren 2002-2007 schrieben. Wir schlagen vor, dass dieses Unterfangen in zehn Jahren wiederholt wird. Wir sind sicher, dass die Texte sich ändern werden, insofern historische Narrative immer durch das beeinflusst werden, was in der Realität zu der gegebenen Zeit passiert. Wir hoffen, dass sich bis zum Jahr 2012 oder 2017 das politische Klima zwischen unseren beiden Völkern so stark verbessert haben wird, dass sich auch die historische Darstellung unserer blutigen Vergangenheit ganz entsprechend verändert.
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Das Peace Research Institute in The Middle East (PRIME) ist eine gemeinnützige Nichtregierungsorganisation, die 1998 von dem israelischen Psychologen Dan Bar-On und Sami Adwan, einem palästinensischen Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Bethlehem, ins Leben gerufen wurde. Sami Adwan (* 1954) ist ein palästinensischer Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Bethlehem. Dan Bar-On (1938-2008) war ein israelischer Psychologe, Therapeut, Holocaust- und Friedensforscher. Eyal Naveh (* 1952) lehrte als Geschichtsprofessor an der Universität in Tel Aviv.