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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am20.09.2021
Sieben Jahre hat Terézia Mora regelmäßig ihre Gedanken und Beobachtungen in einem Blog festgehalten - von ihrem 43. bis zum 50. Geburtstag. Kurze Texte, in denen die vielfach preisgekrönte Autorin (Deutscher Buchpreis, Georg-Büchner-Preis) spontane Eindrücke festhält und »Glücksmomente« im Alltag sucht. Einträge, in denen sie ebenso klug wie kurzweilig über unsere Zeit reflektiert. »Fleckenverlauf« enthält Momentaufnahmen, die weit über eine Ideensammlung für spätere Werke hinausgehen. Ein Tage- und Arbeitsbuch, das Terézia Moras literarisches Schaffen kunstvoll ergänzt.

Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman »Das Ungeheuer« erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband »Seltsame Materie«, wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt außerdem zu den renommiertesten Übersetzer*innen aus dem Ungarischen.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextSieben Jahre hat Terézia Mora regelmäßig ihre Gedanken und Beobachtungen in einem Blog festgehalten - von ihrem 43. bis zum 50. Geburtstag. Kurze Texte, in denen die vielfach preisgekrönte Autorin (Deutscher Buchpreis, Georg-Büchner-Preis) spontane Eindrücke festhält und »Glücksmomente« im Alltag sucht. Einträge, in denen sie ebenso klug wie kurzweilig über unsere Zeit reflektiert. »Fleckenverlauf« enthält Momentaufnahmen, die weit über eine Ideensammlung für spätere Werke hinausgehen. Ein Tage- und Arbeitsbuch, das Terézia Moras literarisches Schaffen kunstvoll ergänzt.

Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman »Das Ungeheuer« erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband »Seltsame Materie«, wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt außerdem zu den renommiertesten Übersetzer*innen aus dem Ungarischen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641276973
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum20.09.2021
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse9573 Kbytes
Illustrationen40 farbige Abbildungen
Artikel-Nr.5691680
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


3. Dezember 2014

Glück 07:59

Die junge Chinesin, die die heruntergefallenen Blätter der Gingkobäume vor dem Restaurant zusammenfegt und dabei ein chinesisches Lied singt. Ihre gelben Hosen, ihre braunen Stulpen, der Schal, den sie um den Kopf gewickelt hat. Die Vogelkäfige aus Bambus, die an den Bäumen hängen. Leer, offensichtlich nie wirklich dafür benutzt, Vögel darin gefangen zu halten, sind sie schön. Tatsächliche Vögel in tatsächlichen Käfigen zu halten ist hingegen Barbarei.

Tausende von Tricks. Bei der Arbeit singen.
4. Dezember 2014

»Er macht ja wohl ihren Sarg«

Das Zitat im Titel ist das Ergebnis eines Spiels. Das Spiel geht so:

1. Greife dir das Buch, das dir am schnellsten in die Hand fällt.

2. Suche den 5. Satz auf der 23. Seite heraus.

In diesem Fall: Hans Fallada: Der Bettler, der Glück bringt, Aufbau 2012. Frühe und späte Erzählungen und die »Geschichten aus der Murkelei«. Der beste Text im Band: Birgit Vanderbekes Nachwort.

Über dieses Spiel erfahren habe ich aus dem Blog von Hazugvirág, den ich lese, um etwas gegen das Gefühl der Sinnlosigkeit zu tun. Dagegen, und gegen die Scham, die ich empfinde, weil ich gerade Verträge über drei Bücher abgeschlossen habe, obwohl ich denke, dass es sinnlos ist, sie zu schreiben. Ich hätte das nicht tun dürfen, auch nicht, wenn mir meine Agentin sagt, alle täten es, und was wisse ich schon darüber, ob es wirklich sinnlos sei, der Sinn könne sich unterwegs finden bzw. fände sich unterwegs, und warum sollte ich bei dieser Suche nicht abgesichert sein, wenn ich schon die Chance dafür hätte.

Ich werde das niemals einspielen.

Sie: Na und?

Aber das mit den Büchern ist es nicht allein. Die Oberflächlichkeit aller Kommunikation. In den sozialen Medien, klar. In den alltäglichen und flüchtigen Begegnungen mit denen, die man nur oberflächlich kennt, klar. In den Begegnungen mit denen, die man etwas besser kennt, und daher weiß, dass nichts Tieferes zu erwarten ist, klar. Aber auch in den Begegnungen mit Freunden, die ja gerade deswegen die Freunde sind, weil eine tiefere Kommunikation möglich wäre, man bewegt sich intellektuell und emotionell im gleichen Bereich, es wäre also möglich - aber es passiert einfach zu selten. In der Mitte des Lebens hast du keine Zeit. Keine Zeit zu haben sieht so aus, dass ihr es mit Hängen und Würgen dreimal im Jahr schafft, euch für 2 Stunden zu sehen. Dann hechelt ihr die Oberflächen durch, denn diese müssen immer zuerst durchgehechelt werden, und bevor es tiefer werden könnte, müsst ihr weiter. Als Ergebnis davon habe ich das Gefühl, selbst »meinen Leuten« gegenüber nicht ehrlich sein zu können. Dabei lüge ich fast nie. Ich musste meine Kindheit damit verbringen, permanent Kritik dafür einzustecken, wenn ich als ich selbst zu sichtbar wurde. Als Folge davon verstelle ich mich niemals wieder mehr. Grundsätzlich sind auch meine Oberflächen aufrichtig, aber dadurch, dass es nie so weit kommt, dass man so etwas wie oben aussprechen könnte, fühle ich mich am Ende doch allein.

Ja, ich bin vermutlich gekränkt, dass auch ich von der Sinnlosigkeit angefochten werden kann. Dass mir das als Person passieren kann, war mir bekannt. Als Schreibende ist mir das bis jetzt noch nicht passiert, und jetzt stehe ich da wie nach einem Nasenstüber. Dass es mir etwas ausmacht, wenn mein konsumorientiertes und kulturfernes Umfeld (alles studierte Leute, übrigens) nicht nur einfach desinteressiert demgegenüber ist, was sinnstiftend für mein Leben ist (Auflösung: Hochkultur, innerhalb dieser insbesondere die Literatur), sondern teilweise offen feindselig. Es gilt nicht mehr als entlarvend und als schlechtes Benehmen, sich abfällig über Bücher und über die, die sie produzieren, zu äußern. Ja, ich weiß, Literatur ist, wenn man trotzdem schreibt, aber irgendwie ... jetzt gerade ... diese Verlassenheit.

Und dann stößt man auf Hazugvirág. Sie schreibt den Blog seit 2007, da war sie 18 und Schülerin in Ungarn. Heute ist sie 24 und Barista in London. Und so, wie »wir« mal waren. Als wir es noch schafften, Englisch, Französisch, Deutsch und Latein zu lernen, im Chor zu singen, Posaune zu spielen, die Schülerzeitung herauszugeben, sich statt der überforderten Eltern um die jüngeren Geschwister zu kümmern, das Sommercamp für die neuen Schüler mitzugestalten, einen Wochenendjob in einem Café zu machen, in die Hauptstadt zu fahren, um ein Straßenfest des Institut français zu besuchen (ist umsonst und man hört Französisch), mit Freunden durch die Stadt zu stromern usw. Was wir, natürlich, deswegen tun konnten, weil für Wohnen, Essen, Kleidung und Bücher gesorgt war und wir nicht den Großteil unserer Zeit damit verbringen mussten, selbst dafür zu sorgen. Und außerdem, weil mit 18 noch nichts sinnlos ist, du kannst nicht nicht glauben, dass du »Dichter des 21. Jahrhunderts« (Zitat Hazugvirág) sein wirst. Jemand, der schon mit 18 resigniert ist, schreibt sicher keinen Blog und auch nichts anderes.

Die Vorstellung, dass jemand schon so früh und nicht nur vorübergehend resigniert ist. Bedingt durch ein Milieu, ein Ereignis, eine Persönlichkeitsstruktur. Kann sein, er/sie ist nach herkömmlichen Maßstäben erfolgreich, integriert und was es noch an Wörtern gibt. Das wäre, vermutlich, noch der bessere Fall. Es gibt andere Fälle. Die, die nicht einmal nach einem »erfolgreichen Leben« aussehen. Wenn du schon als Kind frühvergreist bist.

Ich frühvergreise gerade. Immerhin erst mit 42. Nein, 43. Ich bin ja schon 43. Ich habe das letzte Jahr verloren. Vielleicht liegt es daran? Man kann nicht ungestraft eines seiner Lebensjahre aus lauter Unaufmerksamkeit verlieren ... Während man sich Hazugvirág - was im Übrigen »die lügnerische Blume« bedeutet - als einen glücklichen Menschen vorstellen muss. Immer noch. Wobei sie mittlerweile nicht mehr 10-15 Bücher pro Monat auflistet, die sie gelesen hat. Aber sie kann immer noch aus dem Lateinischen ins Englische übersetzen. Sicher versteht das auch nicht jeder: Warum das nicht sinnlos ist. Und wenn ich verrate, dass sie diese Fähigkeit einsetzt, um dem Kind, das sie babysittet, etwas in dessen Sprache zu bringen? Und das Kind sagt: Wow, ich habe noch nie jemanden getroffen, der das konnte. Das Kind war bestimmt nicht unglücklich in dem Moment. Die Babysitterin sicher auch nicht. Und ich? Ich war auch nicht unglücklich. Dass es Leute wie Hazugvirág gibt, ist ein Trost.
Operiert

Gestern habe ich zum ersten Mal in meinem Leben mit zwei Frauen zusammengestanden, deren Gesichter vermutlich operiert waren. Die eine sah wie Joker aus, bei der anderen war die Haut an den Wangen und unterhalb der Augen merkwürdig gespannt, ein nicht sehr gutes Lifting, an den Seiten kräuselte es sich. Was sagt mir das, die ich finde, dass ich für 43 extrem gealtert bin, so dass mein Gesicht in Stücken ist?

(In Wahrheit habe ich Angst, dass dieses wie aus Stücken zusammengesetzte Gesicht mich verrät: meinen schlechten Charakter. Der Witz ist: Tatsächlich ist mein Charakter, wenn ich allein bin, schlechter, als wenn ich mich anderen zeige, aber nicht so schlecht, wie das zerstückelte Gesicht vermuten ließe. Ich sehe schlechter aus, als ich bin.)

[Das operierte Gesicht verwendet für »Ella Lamb in Mullingar«. Das Gesicht in Stücken für Lorelei in Kopp3.]
Auf der Straße singen

Im Übrigen hat auch heute eine junge Frau auf der Straße gesungen. Jemand mit einer blonden Rastafrisur, bunten Strümpfen und feuerrotem Lippenstift. Sie sang sehr schlecht, schlechter noch als die Chinesin vorgestern, deren Gesang sich wie eine verärgerte Tirade angehört hatte. Und dennoch ...

Die junge Frau heute versteckte ihren schlechten Gesang unter Straßenlärm, aber beim aneinander Vorbeigehen waren wir für einen kurzen Moment nahe genug ...
5. Dezember 2014

Glück, 07:55

Der morgendliche Rückweg von der Schule, zwischen 07:50 und 08:00 ist so eine sichere Bank für einen Glücksmoment, dass ich heute etwas getan habe, das man nicht tun darf: Ich wurde fordernd. Ich wartete darauf, wann er endlich kam.

Dementsprechend: nichts. Bäume und Lichteinfälle zogen ohne ein Aufblitzen vorbei. Und dann, natürlich, in der Sekunde, nachdem ich meine falsche Einstellung eingesehen und verzichtet hatte, kam er von unerwarteter Seite:

Die sich nur ganz leicht bauschenden, riesigen weißen Bahnen der Bauplane, die ein Eckgebäude verhüllen. Dahinter ein blass leuchtendes Fenster. Die Erinnerung daran, wie diese Planen neulich nachts in der Kälte, dem Wind raschelten. Auch als Kind waren Baustellen immer eine Quelle des Glücks. Der frische Geruch des Kalks besonders, aber selbst der der Lösungsmittel.

Die Vorstellung, diesen Blog hier 7 Jahre lang zu schreiben, von 43 bis 50 - die härteste »Zwischenzeit« für einen Menschen und eine Schriftstellerin -, auch diese Vorstellung ist eine Perspektive, die mich ein wenig glücklicher macht. Wobei ich etwas zweifle, ob ich es durchhalten werde. (Denke an Hazugvirág: Wie nützlich und tröstlich du es empfindest, dass sie durchgehalten hat.)

Dann die Vorstellung, aus diesen 10 Minuten jeden Morgen könnte sich eine Figur entwickeln, die nicht mehr ich bin, und diese Figur hätte eine Geschichte, ohne dass ich viel konstruieren müsste. Nicht so viel wie bisher jedenfalls. Sie würde sich einfach durch die Zeit entwickeln, dadurch, dass ich diesen Weg jeden Tag gehen muss, und ich ihn geduldig, aufmerksam und nicht fordernd gehe. Und diese Vorstellung, nun, war endlich eine wirklich friedliche und...

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Autor

Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman »Das Ungeheuer« erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband »Seltsame Materie«, wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt außerdem zu den renommiertesten Übersetzer*innen aus dem Ungarischen.