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Vladimir

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am08.03.2022
Sie ist Ende fünfzig, Literaturprofessorin an einem kleinen College an der amerikanischen Ostküste und beliebt bei ihren Studentinnen. Seit dreißig Jahren ist sie mit John verheiratet, der am selben College unterrichtet. Sie war immer stolz darauf, mit John eine offene Beziehung zu führen, intellektuell, finanziell und emotional unabhängig zu sein. Als John jedoch seine Suspendierung fürchten muss, weil eine der vielen Studentinnen, mit denen er im Laufe der Jahre eine Affäre hatte, ein Verfahren gegen ihn angestrengt hat, gerät das Wertesystem der Ich-Erzählerin ins Wanken: Ihre Studentinnen und ihre Tochter fordern sie auf, sich zu trennen, die Fakultät möchte sie beurlauben. In dieser Situation trifft sie Vladimir Vladinski - ein 20 Jahre jüngerer Kollege und gefeierter Romanautor - und entwickelt für ihn eine folgenschwere Obsession.

Julia May Jonas hat an der Columbia University Literarisches Schreiben studiert. Sie ist Dramatikerin und unterrichtet Schauspiel am Skidmore College in Saratoga Springs, New York. Jonas lebt mit ihrer Familie in New York.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextSie ist Ende fünfzig, Literaturprofessorin an einem kleinen College an der amerikanischen Ostküste und beliebt bei ihren Studentinnen. Seit dreißig Jahren ist sie mit John verheiratet, der am selben College unterrichtet. Sie war immer stolz darauf, mit John eine offene Beziehung zu führen, intellektuell, finanziell und emotional unabhängig zu sein. Als John jedoch seine Suspendierung fürchten muss, weil eine der vielen Studentinnen, mit denen er im Laufe der Jahre eine Affäre hatte, ein Verfahren gegen ihn angestrengt hat, gerät das Wertesystem der Ich-Erzählerin ins Wanken: Ihre Studentinnen und ihre Tochter fordern sie auf, sich zu trennen, die Fakultät möchte sie beurlauben. In dieser Situation trifft sie Vladimir Vladinski - ein 20 Jahre jüngerer Kollege und gefeierter Romanautor - und entwickelt für ihn eine folgenschwere Obsession.

Julia May Jonas hat an der Columbia University Literarisches Schreiben studiert. Sie ist Dramatikerin und unterrichtet Schauspiel am Skidmore College in Saratoga Springs, New York. Jonas lebt mit ihrer Familie in New York.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641286682
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum08.03.2022
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1696 Kbytes
Artikel-Nr.8380921
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1

Obwohl ich Vladimir bereits gesehen hatte und ihn hatte sprechen hören - im Postgraduiertenseminar, beim Bewerbungslunch und auf der Klausurtagung des Fachbereichs -, hatte ich bis zum Herbstsemester keine Gelegenheit gehabt, mehr als ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Ich hatte ihn im Frühjahr kennengelernt, als er seine Vollzeitstelle als Juniorprofessor antrat und ich zu allen Dozententreffen zu spät kam und früher ging, um mit niemandem reden zu müssen. Ich hielt es kaum aus, neben Florence zu sitzen, nicht mal mit drei Plätzen Abstand; Wutblitze schossen mir aus der Vagina in Arme und Beine. Immer schon ist der Ausgangspunkt meiner Wut meine Vagina gewesen; es wundert mich, dass das Phänomen in der Literatur kaum erwähnt wird.

An einem Abend Anfang September, in der ersten Semesterwoche, war er bei mir zu Hause, und da unterhielten wir uns zum ersten Mal richtig. Ich saß gerade im Wohnzimmer unseres Hauses, genoss die kühle Brise, trank Mineralwasser - ich habe eine Regel, derzufolge ich, wenn ich allein bin, Alkohol erst ab einundzwanzig Uhr trinken darf, eine praktische Taktik, mein Gewicht zu kontrollieren - und las ein Buch über die Geschichte der Hexen in Amerika, als es an der Tür klingelte. Seit die Vorwürfe gegen meinen Mann laut geworden waren, konnte ich keine Romane mehr lesen. Normalerweise las ich in den Sommermonaten viel und mit Begeisterung, und immer fand ich ein paar neue Kurzgeschichten oder einen Romanauszug, den ich später in meinen Seminaren durchnehmen konnte. Für meine Studierenden und für mich war es wichtig, mit der Stimme der Gegenwart in Verbindung zu bleiben. Aber in dem Sommer hatte ich das Gefühl, mein Blick könnte sich nicht auf die gedruckten Wörter fokussieren. Die fiktiven Welten, die Konstruiert-heit und Abgekupfert-heit der Texte, die vielen Figuren - all das erschien mir wie eine dürftige, kümmerliche Opfergabe. Ich brauchte Daten, Fakten, Zahlen und Statistiken. Waffen. Dies ist unsere Welt, und das ist darin passiert. In meinem Einführungsseminar las ich normalerweise einen Abschnitt aus der Poetik laut vor. Aristoteles erläutert darin den Unterschied zwischen Poesie und Geschichtsschreibung und warum die kunstvolle und theoretische Poesie in der Darstellung des Menschlichen überlegen ist. Dieses Jahr habe ich den Teil ausfallen lassen. Genau genommen habe ich dieses Jahr die komplette Einführung ausfallen lassen, meine ganze lange, mit viel Vorlauf zusammengestellte und eingeübte Litanei aus Anspielungen und Zitaten, die meine Studierenden ebenso einschüchtern wie motivieren soll. Stattdessen habe ich sie gebeten, über sich und ihre Erfahrungen zu sprechen. Ich würde gern behaupten, meine Entscheidung habe etwas mit dem Wunsch zu tun, sie kennenzulernen, aber so war es nicht. In meinen Seminarnotizen steht: »Lass sie reden! (Sie interessieren sich ohnehin nur für die eigenen Gedanken.)«

Ich hörte sein Auto in der Einfahrt und dann seine Schritte, als er über das Grundstück lief und sich fragte, welche Tür die richtige sei. In unserer kleinen Stadt ist es allgemein Sitte, ein Haus über die hintere Veranda zu betreten, von der man, solange das Gebäude nicht kernsaniert wurde, in die Küche gelangt. Sie stammt noch aus der Zeit, als Hausangestellte üblich waren und die Hausarbeiten an sich noch keine Zurschaustellung von Vorlieben, Kompetenzen und gutem Geschmack.

Doch Vladimir war neu in der Stadt und klingelte am Vordereingang. Den kleinen, kalten Flur nutzten wir eigentlich nur als Durchgang zum Obergeschoss. Ich öffnete die Tür, er stand im Rampenlicht des Eingangsbereichs und schob sich schnell die Hand in die Hosentasche, als hätte er sich gerade das Haar geordnet. Er wirkte verlegen. Ich erinnerte mich, wie ich mich als junge Mutter Mitte dreißig mit jungen Vätern darüber unterhalten hatte, auf welche Grundschule ihre Kinder gingen oder ob sie mit Karate anfangen würden; an meinen Schauder des Entzückens, wenn sie sich unbewusst in die Haare fassten oder die Kleidung zurechtzupften. Eine nervöse kleine Verbeugung vor der Macht der Anziehung, die ich damals besaß.

In der anderen Hand hielt er eine Flasche Rotwein, unter dem Arm klemmte ein Buch. Nachdem ich die Tür geöffnet hatte, lagerte er beides um und schob sich den Wein unter den Arm wie eine Geige in der Spielpause. Er trug eine Häkelkrawatte mit gravierter Klemme über einem karierten Hemd, dessen Ärmel aufgerollt waren, dazu eine gut geschnittene Hose und hochwertige Lederschuhe mit dicker weißer Sohle. Ganz eindeutig war er aus der Stadt hierherverpflanzt worden; kein heterosexueller Mann, der lange genug hier gelebt hatte, würde so aussehen. Selbst mein eitler Ehemann mit seiner Vorliebe für teure irische Strickpullover hatte die Detailverliebtheit und die leichte Ironie des urbanen Stils vergessen. Er trug, woran er glaubte, und hatte jenes Gespür für Kostümierung und Selbstdarstellung verloren, das gut gekleidete Stadtmenschen ganz intuitiv besitzen. Dieses anhaltende Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen.

Vladimir hielt mir das schmale Buch entgegen, flaschengrün mit einem Titel in Sans Serif. »Ich wollte sagen, ich wäre gerade in der Nähe gewesen, aber das stimmt nicht, ich komme von der Uni ... Ich wollte ... John und ich haben uns heute unterhalten, und ich wollte ihm und natürlich auch Ihnen, Ihnen, das hier bringen.«

»Und das«, fügte er hinzu und hob die Weinflasche in die Höhe. »Ich würde mir niemals einbilden, mein Buch allein wäre Anlass genug für einen Besuch.«

Ich ignorierte den Wein und nahm die Haltung der zugeneigten Matrone ein, wie ich sie meinen Studierenden und überhaupt jungen Menschen gegenüber immer häufiger an den Tag legte. Ich ließ, wie es so schön heißt, meinen mütterlichen Charme spielen. »unmaßgebliche allgemeingültigkeit, von Vladimir Vladinski«, las ich. »Ihr Buch. Wie aufregend. Bitte, kommen Sie doch herein.«

Nach einem kurzen Gerangel mit der Tür, bei dem sich seine Krawatte kurz am Knauf verfing, folgte er mir ins Wohnzimmer. Als ich durch den Flur vorausging, griff ich nach meinem Paschminaschal und legte ihn mir um den Hals. Ich ziehe es vor, meinen Hals zu bedecken.

»John ist leider nicht da, aber kann ich Ihnen einen Drink anbieten? Wo Sie schon nicht in der Nähe waren?«

Er willigte ein, warf dabei aber einen Blick auf die Uhr. Die Geste sollte mir signalisieren, dass seine Zeit begrenzt war.

»Kommen Sie, wir gehen in die Küche. Möchten Sie einen Wein oder lieber ein Bier oder einen Martini?«

Ich bin von Natur aus eine geschäftige Gastgeberin, und im Gegensatz zu vielen Leuten mag ich geschäftige Gastgeberinnen sehr. Wenn ich Besuch habe, bin ich die meiste Zeit in Bewegung, räume auf, koche Kaffee oder wische Oberflächen ab. Meine Mutter hielt nur still, wenn sie las, tippte, Schecks ausschrieb oder schlief, und ich habe diese Eigenschaft geerbt. Wenn ich bei einer Person zu Besuch bin, deren Aufmerksamkeit geteilt ist, weil sie vor meinen Augen die Hausarbeit erledigt, einen Koffer packt oder den Boden wischt, entspanne ich mich sofort. Immer schon mochte ich das Gefühl, einfach nur irgendwo herumzuhängen, und Gastgeber, die mir zu viel Aufmerksamkeit schenken, machen mich nervös.

Damals in der Stadt, als Lehrbeauftragte kurz vor der Dissertation, hatte ich eine flüchtige Affäre mit einem jungen Mann, der sich immer sehr langsam bewegte und intensiven, langen Blickkontakt suchte. Er saß in meinem Seminar über »Frauen in der Literatur«, und wenn er sich zu Woolf, Eliot oder Aphra Behn äußerte, ruhte sein durchdringender Blick so hartnäckig auf mir, dass ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Anfangs fand ich es lustig, irgendwie liebenswert. Je mehr Zeit wir im selben Raum verbrachten, desto süchtiger wurde ich nach diesem Blickkontakt, und manchmal blinzelte ich während des Gesprächs bewusst langsam und verschaffte mir damit das Gefühl, aus dem warmen Bad seiner Augenaufmerksamkeit zu steigen und dann wieder darin abzutauchen. Als wir den Flirt später durch Beischlaf besiegelten, stellte ich (obwohl es mich kaum hätte überraschen dürfen) entsetzt fest, dass er die Kommunikation während des Liebesakts nicht aufrechterhielt, sondern sich schielend in sich selbst zurückzog wie jeder Einundzwanzigjährige. (Bevor Sie jetzt entsetzt sind: Ich war selbst erst achtundzwanzig.) Nachdem die Affäre beendet war, empfand ich seine langen Blicke erst als lästig, dann machten sie mich rasend, und zuletzt fand ich ihn einfach nur noch kuhäugig und stumpf. All diese Phasen musste meine Wahrnehmung durchlaufen. Ich glaube, er ist jetzt in der »freien Wirtschaft« und Republikaner.

»Na ja, also, ein Martini, warum nicht«, sagte Vladimir und klang von meinem Vorschlag angenehm überrascht.

»Ich mache sie mit Wodka, nur damit Sie Bescheid wissen. Ich mixe Kleinstadt-Martinis. Dreckig und süffig, mit einem großen Schuss Olivenlake und Wermut.«

Er versicherte mir, das sei in Ordnung, wundervoll, genau so möge er sie am liebsten. Ich öffnete den Unterschrank, stellte mich auf die Kante und angelte zwei Gläser aus dem Regal. Ich bin eine kleine Frau. Die anatomischen Tatsachen stehen anscheinend im Widerspruch zu meiner Persönlichkeit. Mein ganzes Leben lang haben die Leute sich, wenn sie von meiner Körpergröße erfuhren, darüber gewundert, dass ich nur eins sechzig groß bin. Die meisten schätzen mich auf mindestens eins achtundsechzig oder eins siebzig. Wenn ich mich auf Fotos sehe, staune ich, wie klein ich neben meinem Mann wirke und wie weit meine Kleidung, in der ich zu versinken scheine. In...

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