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Antonio im Wunderland

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
336 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am16.08.2023
Der sizilianische Gastarbeiter Antonio Marcipane hat alles erreicht: Er besitzt ein Reiheneckhaus, ein schönes Auto und vier Dutzend Krawatten. Seine Töchter haben deutsche Männer geheiratet, jetzt wartet eigentlich das entspannte Rentnerdasein auf ihn. Wenn da nicht noch ein unerfüllter Traum wäre: Amerika. Und sein Schwiegersohn muss mit.

Jan Weiler, 1967 in Düsseldorf geboren, ist Journalist und Schriftsteller. Er war viele Jahre Chefredakteur des SZ Magazins. Sein erstes Buch »Maria, ihm schmeckt's nicht!« gilt als eines der erfolgreichsten Debüts der letzten Jahrzehnte. Es folgten unter anderem »Antonio im Wunderland«, »Mein Leben als Mensch«, »Das Pubertier«, »Die Ältern« und die Kriminalromane um den überforderten Kommissar Martin Kühn. Auch sein Roman »Der Markisenmann« stand monatelang auf der Bestsellerliste. Neben seinen Romanen verfasst Jan Weiler zudem Kolumnen, Drehbücher, Hörspiele und Hörbücher, die er auch selbst spricht. Er lebt in München und Umbrien.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextDer sizilianische Gastarbeiter Antonio Marcipane hat alles erreicht: Er besitzt ein Reiheneckhaus, ein schönes Auto und vier Dutzend Krawatten. Seine Töchter haben deutsche Männer geheiratet, jetzt wartet eigentlich das entspannte Rentnerdasein auf ihn. Wenn da nicht noch ein unerfüllter Traum wäre: Amerika. Und sein Schwiegersohn muss mit.

Jan Weiler, 1967 in Düsseldorf geboren, ist Journalist und Schriftsteller. Er war viele Jahre Chefredakteur des SZ Magazins. Sein erstes Buch »Maria, ihm schmeckt's nicht!« gilt als eines der erfolgreichsten Debüts der letzten Jahrzehnte. Es folgten unter anderem »Antonio im Wunderland«, »Mein Leben als Mensch«, »Das Pubertier«, »Die Ältern« und die Kriminalromane um den überforderten Kommissar Martin Kühn. Auch sein Roman »Der Markisenmann« stand monatelang auf der Bestsellerliste. Neben seinen Romanen verfasst Jan Weiler zudem Kolumnen, Drehbücher, Hörspiele und Hörbücher, die er auch selbst spricht. Er lebt in München und Umbrien.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641312053
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum16.08.2023
Seiten336 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1665 Kbytes
Artikel-Nr.11343837
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

EINS

Hollywoodschaukeln gehören zu jenen Dingen, die nicht in Würde altern können. In Würde alt zu werden bedeutet, auch im Herbst des Lebens begehrenswert zu erscheinen, den Menschen immer noch ein Funkeln in die Augen zu treiben, jederzeit Gesprächsstoff werden zu können. Wie Jean-Paul Belmondo. Der ist ein gutes Beispiel dafür, dass man in Würde altern kann, selbst wenn man wie ein ungemachtes Bett aussieht. Mit einer Hollywoodschaukel hat Jean-Paul Belmondo gemein, dass der Zenit ihrer Popularität etwa gleich lang zurückliegt.

Der Unterschied zwischen einer Hollywoodschaukel und Jean-Paul Belmondo besteht darin, dass die Hollywoodschaukel die meiste Zeit draußen herumsteht und rostet, während Jean-Paul Belmondo vermutlich reingeht, wenn es anfängt zu regnen. Belmondo rostet also nicht, und seine Hemden bekommen keine Stockflecken. Es ist anzunehmen, dass sich Ehepaare auf der Straße umdrehen, wenn Belmondo an ihnen vorbeiläuft, und der Mann sagt: «Guck mal, das war doch der Belmondo!» Die Frau sagt: «Und er riecht so gut!» Wenn dieselben Leute kurz darauf an einer Hollywoodschaukel vorbeigehen, sagen sie - gar nichts.

Bereits zu ihren Glanzzeiten war die Hollywoodschaukel im Gegensatz zu Jean-Paul Belmondo eine Enttäuschung, eigentlich ein großes Missverständnis. Sie kostete ein Schweinegeld, quietschte, hatte hässliche Bezüge, war unbequem, ging kaputt und war schnell wieder out. Heutzutage sieht man Hollywoodschaukeln - schon der Name bürgt für Illusion, wenn nicht für Schwindel - nur noch in Nostalgieshows im Fernsehen. Und im Garten meines Schwiegervaters.

Der hockt bei schönem Wetter am liebsten auf seiner Hollywoodschaukel. So auch jetzt. Seine kurzen Beinchen erreichen den Boden nicht ganz. Dort, wo er sitzt, immer an derselben Stelle, hat die Schaukel eine leichte Schlagseite. Daneben steht ein kleiner Tisch mit Aschenbecher, Zigaretten und einem Schälchen Macadamia-Nüsse, die er fast mehr liebt als seine Frau. Da sitzt er also und schaukelt sanft vor und zurück. Sein Blick geht ins Leere. Antonio Marcipane. Gastarbeiter der ersten Stunde. Jeans, Lederschuhe, Flanellhemd. Goldzähne, dunkelbraune Haare, auf der Brust auch graue. Antonio, der Vater meiner Frau, Süditaliener und in letzter Zeit manchmal müde.

Die Schaukel steht hinter seinem Reiheneckhaus aus rotbraunen Klinkersteinen. Seit über dreißig Jahren wohnt er darin, verlässt es zwischen Montag und Freitag jeden Morgen um zehn nach sieben mit einer Aktentasche unter dem Arm. Darin befindet sich sein Brot mit Bauarbeitermarmelade1, Milchkaffee, ein Notizbuch für besondere Vorkommnisse und Lottoforschung, ein Jerry-Cotton-Heft und seine Lesebrille nebst Futteral. Am Boden kleben Salmiakpastillen, die er dort irgendwann in den vergangenen 37 Jahren vergessen hat.

Heute ist er zum letzten Mal zur Arbeit gefahren, denn heute geht Antonio Marcipane nach 37 Jahren im Stahlwerk in Rente. 37 Jahre. Das bedeutet über 16 000-mal Spindtüre auf und wieder zu, einmal am Morgen und einmal am Abend. Das sind mehr als 8000 Butterbrote, die ihm Ursula geschmiert hat, Hunderte von Kollegen, die er kommen und wieder gehen sah. 96 000 Kilometer Fahrtweg zur Arbeit und zurück. Verrückt. Und was bleibt am Ende? Ein kleiner Mann mit einem Helm auf dem Kopf, der mit baumelnden Beinen auf seiner Hollywoodschaukel sitzt, an einem Vorhängeschloss herumspielt und darüber nachdenkt, was er morgen früh mit sich anfangen soll.

Bisher war es ein aufregender Tag. Nach dem Frühstück fuhren wir gemeinsam mit ihm in die Firma, wo es einen kleinen Festakt geben sollte, oben beim Vorstand. Die Vorstandsetage von Antonios Stahlwerk ist ein Ort, den kein Arbeiter jemals zu Gesicht bekommt, normalerweise jedenfalls. In diesem Fall wurde aber eine Ausnahme gemacht, und das hat Gründe, von denen Antonio nichts weiß. Und wenn er sie wüsste, wären sie ihm egal.

In letzter Zeit hatte das Unternehmen keine besonders gute Presse, man schrieb von Rüstungsgeschäften mit politisch fragwürdigen Partnern. Der Vorstand entschloss sich daher, die Pressearbeit in die Hände einer PR-Agentur zu geben, die nun ständig nach positiven Themen sucht, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass dieses Stahlwerk eigentlich keine Waffen, sondern Waffeln herstellt. Und überhaupt: Vor allen Dingen ginge es der Firma in diesen schweren Zeiten um den Erhalt der Arbeitsplätze, und das sei ein Ziel, an dem niemand herummeckern könne.

Aber die Reporter schrieben und sendeten davon nichts, sie standen lieber an den Werkstoren und stellten Schichtarbeitern Fragen wie zum Beispiel diese: «Sie haben gerade Kriegsgeräte für einen Folterstaat gebaut. Wie fühlen Sie sich?» (Antwort: «Nix verstehen, gut Arbeit hier, geh Spielothek jetz´. Tschuss.»)

Es mussten dringend schöne, menschelnde Geschichten her. Die Tatsache, dass da einer aus Halle zwei in Rente ging, der 37 Jahre da war, wäre in so einer Situation nichts Besonderes, aber es handelte sich um einen Ausländer. Da zuckte den PR-Beratern der europäische Gedanke durch den Kopf. Hurra, einer von diesen alten Gastarbeitern, diesen herrlich schrulligen Charakterköpfen! Ein Symbol für Frieden und Zusammenarbeit unter den Völkern! Was für ein Geschenk!

«Da machen wir doch einen Presse-Event», sagte Giesecke von der gleichnamigen PR-Agentur und hielt dann inne. «Das ist aber hoffentlich kein Türke, oder?»

«Nein, ein Italiener», antwortete Polz aus der Personalabteilung.

Die beiden einigten sich darauf, die Unterlagen noch einmal durchzusehen und nach einem womöglich noch geeigneteren Kandidaten zu suchen, denn italienische Gastarbeiter waren zwar echt super, aber noch besser wäre vielleicht ein Pole oder ein Russe, da sei die thematische Fallhöhe größer, wie Giesecke bemerkte, ohne dass ihn der Blitz traf. Es gab aber nur einen Rumänen, und der war schon im vorigen Herbst in Rente gegangen, genauer gesagt in Frührente. Der Mann sei ein sogenannter Minderleister gewesen, sagte Polz.

«Und dieser Italiener?», fragte Giesecke.

«Marcipane, Antonio. Unauffällig», antwortete Polz und schlug Antonios angegammelte Akte auf. «War in der letzten Zeit viel krank und in den vergangenen drei Jahren neunmal beim Werksarzt. Nichts Besonderes in dem Alter.»

«Betriebsrat?»

«Ja, von 1974 bis 1981. Aber das war vor meiner Zeit. Sonst sehe ich hier nichts. Oder doch. 1988 ist er mit einwöchiger Verspätung aus dem Urlaub gekommen und hat behauptet, er hätte sich bei der Heimreise um 13 000 Kilometer verfahren.»

«Und das haben Sie ihm geglaubt?»

«Wie gesagt, das war vor meiner Zeit.»

Man bestellte Antonio also in die Personalabteilung und schlug ihm vor, am Tage seiner Verrentung einen kleinen Festakt zu begehen, an dem sicher auch Herr Doktor Köther aus dem Vorstand teilnehmen würde. Man wisse, sagte der Personalsachbearbeiter Polz und zwinkerte dabei mit einem Auge, dass Herr Doktor Köther sich auch schon eine Rede überlege. Antonio war außer sich. Eine Rede, für ihn allein.

Er rief mich auf dem Handy an, als ich gerade in einem Supermarkt stand und herauszufinden versuchte, was der Unterschied zwischen Brie und Camembert1 ist.

«Weißte du, was dein alte Schwiegevater is?»

«Mein alter Schwiegervater ist ein imbroglione», rief ich ins Telefon. Ein imbroglione ist ein Gauner, das ist mein Kosewort für ihn.

«Nee, bini gar nickt. Bini der neue Fernsehstar.»

«Was?»

«I kommin Fernsehn», brüllte er. «In die Tageschau kommi. Die macke ein ganzer Film nur übermi.»

Ich täuschte einen Verbindungsabbruch vor, indem ich in mein Handy pustete und dann auflegte. Dann wählte ich seine Nummer. Das mache ich immer so, wenn ich seine Frau sprechen will. Wenn Ursula mir etwas erklärt, verstehe ich es einfach besser, denn sie ist Deutsche. Ich kann ganz sicher sein, dass ich sie am Telefon habe, denn er geht nie selber dran, wenn es klingelt, nicht einmal, wenn er das Telefon gerade zufällig in der Hand hat. Ich glaube, das ist irgend so ein Chauvi-Ding.

Sie hob nach dem siebenten Klingeln ab, wahrscheinlich war er vorher mit dem Hörer in der Hand durchs Haus gelaufen und hatte gerufen: «Uuuuuuursulaa! De Teeelefoon!»

Ich fragte sie, was das für eine Geschichte sei, und sie war für ihre Verhältnisse ziemlich außer sich. Genau verstanden habe sie es auch nicht, aber die Firma wolle seinetwegen einen Festakt machen. Mit Presse und so. Dann nahm er ihr den Hörer weg und befahl uns zu kommen. Ich war viel zu neugierig, um einen Hexenschuss oder eine Schwangerschaft vorzutäuschen. Und wenn es ihm so wichtig ist, na ja, was soll´s.

Also mal wieder zu Antonio und Ursula an den Nieder rhein. Inzwischen kenne ich den Weg im Schlaf, denn wir müssen da dauernd hin. Es passiert zwar eigentlich nichts Wichtiges im Leben von Antonio Marcipane. Aber seine Familie - und ich gehöre als Mann seiner Tochter nun einmal dazu - muss trotzdem möglichst zahlreich daran teilnehmen, um nur ja nichts zu...
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