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Paula oder Die sieben Farben der Einsamkeit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am20.03.2024
Sie wollte einen Mann heiraten und bekam einen Staat. Paula Munweis wurde als junges Mädchen aus Minsk nach New York geschickt, träumte von einem Medizinstudium, war überzeugte Anarchistin. Doch dann traf sie ihren Ehemann, den Gründer des Staates Israel David Ben-Gurion. An ihrem Lebensabend zieht sie widerstrebend mit ihm in einen Kibbuz in der Wüste Negev. Mai 1966: Am kommenden Tag erwartet Ben-Gurion einen späten Freund, den vor Kurzem aus dem Amt geschiedenen Konrad Adenauer. Und wieder einmal ist es an Paula, diesen Besuch auszurichten und zu gestalten.
Armut, Kriege, Mutterschaft und immer wieder Einsamkeit: Dieser Roman erzählt die Geschichte einer starken, mutigen Frau, der das Leben viele Kompromisse abverlangt und sie zur Frau des Staatsgründers eines Landes gemacht hat, an das sie nicht glaubte. Am Ende ihres Lebens bricht sie noch einmal auf, um sich selbst zu finden.

Stephan Abarbanell, 1957 geboren, wuchs in Hamburg auf. Er studierte Evangelische Theologie sowie Allgemeine Rhetorik in Hamburg, Tübingen und Berkeley und war viele Jahre lang Kulturchef des rbb. Sein Romandebüt, »Morgenland«, erschien 2015 bei Blessing, 2019 folgte »Das Licht jener Tage« und 2022 »10 Uhr 50, Grunewald«. Stephan Abarbanell lebt mit seiner Frau, der Übersetzerin Bettina Abarbanell, in Potsdam-Babelsberg.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR21,99

Produkt

KlappentextSie wollte einen Mann heiraten und bekam einen Staat. Paula Munweis wurde als junges Mädchen aus Minsk nach New York geschickt, träumte von einem Medizinstudium, war überzeugte Anarchistin. Doch dann traf sie ihren Ehemann, den Gründer des Staates Israel David Ben-Gurion. An ihrem Lebensabend zieht sie widerstrebend mit ihm in einen Kibbuz in der Wüste Negev. Mai 1966: Am kommenden Tag erwartet Ben-Gurion einen späten Freund, den vor Kurzem aus dem Amt geschiedenen Konrad Adenauer. Und wieder einmal ist es an Paula, diesen Besuch auszurichten und zu gestalten.
Armut, Kriege, Mutterschaft und immer wieder Einsamkeit: Dieser Roman erzählt die Geschichte einer starken, mutigen Frau, der das Leben viele Kompromisse abverlangt und sie zur Frau des Staatsgründers eines Landes gemacht hat, an das sie nicht glaubte. Am Ende ihres Lebens bricht sie noch einmal auf, um sich selbst zu finden.

Stephan Abarbanell, 1957 geboren, wuchs in Hamburg auf. Er studierte Evangelische Theologie sowie Allgemeine Rhetorik in Hamburg, Tübingen und Berkeley und war viele Jahre lang Kulturchef des rbb. Sein Romandebüt, »Morgenland«, erschien 2015 bei Blessing, 2019 folgte »Das Licht jener Tage« und 2022 »10 Uhr 50, Grunewald«. Stephan Abarbanell lebt mit seiner Frau, der Übersetzerin Bettina Abarbanell, in Potsdam-Babelsberg.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641315474
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum20.03.2024
SpracheDeutsch
Dateigrösse4164 Kbytes
Artikel-Nr.12747461
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1

In den Morgenstunden schlugen die Hunde an.

»Das war´s«, sagte sie.

Es müsste ein Wunder geschehen, damit sie noch einmal in den Schlaf finden würde.

Aber Wunder gab es nicht. Oder ihre Zeit war abgelaufen. Sie hatte es nur zu spät bemerkt.

Sie sank zurück auf die Kissen und lauschte. Mit einem Quietschen öffnete sich die Fliegentür, fiel, wumms, zurück ins Schloss. Auch ihn hatten die Hunde geweckt. Seit sie denken konnte, hatten sie und ihr Mann getrennte Schlafzimmer, ob in der Stadt oder hier am Ende der Welt.

Sie sah ihn vor sich, wie er vor dem Haus unter dem Wüstenhimmel stand, die schlackernden Gummistiefel an seinen nackten Füßen, das Hemd über der Hose, die Haare links und rechts am Kopf bettzauselig in die Höhe ragend, ein Wald voll weißer Antennen (wenn es denn so etwas gäbe). Das blauschwarze Firmament und der Schattenriss der fernen Berge machten ihn noch kleiner, als er ohnehin schon war.

Manchmal tat er ihr leid. Eine Empfindung, die er als unpolitische Gefühlsduselei abgetan hätte.

»Die Zeiten, in denen Juden auf das Mitleid anderer angewiesen waren, sind ein für alle Mal vorbei«, hätte er gesagt, für einen Moment wieder ganz der Staatsmann.

Noch war es dunkel. Unter der im Mondlicht schimmernden Glasplatte des Tisches hatte sie die Bilder ihrer Liebsten ausgelegt, ihre Tochter Geula, ihr Sohn Amos (einmal als Baby, einmal in Uniform) und die Jüngste, Renana, alle in Schwarz-Weiß. Dazu die Enkel.

Als würden die Lebenden eine Tote bewachen, hatte sie einmal zu Amos gesagt und sich über die Bitterkeit in ihrer Stimme gewundert. Oder als müsse sie sich beim Erwachen jeden Tag wieder vergewissern, dass es ein Leben mitten im Leben einmal gegeben hatte. Auch für sie.

Einen Schrank, einen Tisch, zwei kleine (eigentlich nie genutzte) Sessel und das Bett hatte sie in ihrem Zimmer zugelassen. Und einen alten, durch viele Leben mitgeschleppten halbseitig aufklappbaren Frisiertisch mit greisenhaft dünnen Beinen, der in dem kleinen Raum einen letzten Auftrag als Nachttisch übernommen hatte, Tag und Nacht in weltvergessener Untätigkeit neben ihrem Bett verharrend. Ein Privileg, das sie nur den Dingen zugestehen konnte, niemals sich selbst. So alt sie auch war.

Das Haus eine Hütte aus Holz, umgeben von der Wüste und dem weiten, schattenlosen Land. In den Nächten, wenn die Hunde am Rande des Kibbuz schliefen, spürte sie die Stille wie eine kalte Hand auf ihrer Haut.

Sie tastete durch das Dunkel nach der schweren schwarzen Brille, bekam sie zu fassen, schob sie sich auf die Nase.

»Sehen aus wie zwei beschwipste Quallen im Toten Meer«, hatte sie einmal zu Geula gesagt und vor dem Spiegel ihre Augen hinter den dicken Gläsern betrachtet. Wenige Wochen vor ihrem siebzigsten Geburtstag, als es ihr noch besser ging oder sie sich es zumindest noch einreden konnte.

»Ima, im Toten Meer gibt es keine Quallen«, hatte ihre Tochter geantwortet.

»Dann eben das Schwarze Meer, wenn dir das so wichtig ist.«

Die phosphorgrünen Finger über den matt leuchtenden Ziffern des Weckers salutierten, meldeten kurz nach vier. Es war Mai, und doch waren die Nächte kühl, ein Fuß lugte unter der Decke hervor, sie zog ihn zurück in die schützende Höhle.

Von den Hunden kam nur noch ein Jaulen. Meist waren es ohnehin nur sich der Siedlung nähernde, Nahrung witternde Schakale, die die Hunde anschlagen ließen.

Die jungen Leute würden weiterschlafen in ihrer aus dünnwandigen Hütten zusammengehämmerten Siedlung, von der aus sie die den Kibbuz umgebende Wüste in ein Eden verwandeln wollten. Neues, fruchtbares Land sollte unter ihren Händen entstehen, der Natur abgerungen. Und sie mitten unter ihnen.

Sie hatte mit dieser letzten Wendung ihres Lebens nicht gerechnet, war nach ihrem Umzug in die Wüste in das, was die Menschen Alter nennen, lautlos hineingeschlittert. Niemand hatte sie gewarnt. Auch nicht ihre innere Stimme, auf die bislang Verlass gewesen war.

Wie sollte man auch erkennen, was man nicht kennt?

Wenn sie die Hütte verließ, kam es ihr immer öfter so vor, als sei sie ein aus der Zeit gefallenes Faktotum, ein spuk unter all den biegsamen, sonnengebräunten, von der Arbeit und der Zukunft geformten Körpern. Ohne diesem neuen Seelenzustand schon einen medizinisch fasslichen, gar scharfkantigen Namen geben zu können, was sie manchmal ebenso bedrängte wie der noch namenlose Zustand selbst.

Bis auf die Zeiten mit Shoshana, mit ihr war es etwas anderes.

Jedes Mal, wenn sie an die Neue in Sde Boker denken musste oder hoffte, sie noch einmal wiederzusehen, spürte sie, wie ihr Herz höherschlug.

Aber auch dieses Wunder würde verblassen. Jeden Tag erwartete sie, dass die Hütte am Ende des Dorfes verlassen wäre, vielleicht von neuen Pionieren bewohnt, und Shoshana endgültig gegangen.

Es war nicht ihre Idee gewesen, in diesen menschenleeren Teil des Landes zu ziehen, der weit über die Hälfte des von löcherigen Grenzen umschlossenen Staatsgebietes ausmachte.

Sie wohnten in Tel Aviv, als sie ihren Mann in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock ihres Hauses aufgesucht hatte, gelegen am von knorpeligen Bäumen gesäumten, aufs Meer zuführenden Keren-Kayemeth-Boulevard im Norden der Stadt. Nicht weit von der sich mit jedem Sommer mehr und mehr aufrüschenden Strandpromenade entfernt. In den Nächten lauschte sie hinter dem halb geöffneten Fenster ihres Zimmers dem leisen, einem geheimen Taktstock gehorchenden Kommen und Gehen der Wellen; es erfüllte sie mit einer ziellosen Sehnsucht, und sie sah sich mit Sonnenhut und wehendem Schal an der Reling eines Ozeandampfers stehen und in die verheißungsvolle Ferne blicken.

Er sah auf, als sie ihm eine Karaffe mit Wasser und ein Glas hinstellte. Sie konnte in seinen Augen lesen, dass er etwas auf dem Herzen hatte, oder besser: wieder einmal in ihm etwas gärte, was sie (oft mit dunklen Vorahnungen) seine Ideen nannte. Was würde es diesmal sein?

Noch war im Raum alles wie immer, und sie hätte diesen Moment der (ja, trügerischen) Stille gern festgehalten. Notizbücher, empfangene oder niemals abgeschickte Briefe bedeckten seinen Schreibtisch, dazu Bücher, Landkarten, Broschüren, Pamphlete, Kampfschriften, Akten, Fotobände und wie immer die neueste Ausgabe des Katalogs der Oxforder Buchhandlung Blackwell, bei der er oft und zu viele Bücher bestellte, meist hinter ihrem Rücken und mit Geld, von dem sie nicht wusste, wo es herkam. Kaum eine freie Fläche war zu erkennen, sie fragte sich wieder einmal, wo er eigentlich schrieb, wenn er schrieb.

Das ihm angetragene Projekt, eine Schreibmaschine zu bändigen und für den Zweck des Verfertigens von Sätzen zu nutzen (hatte sie ihm einst doch eine schwarze, eigentlich jeden Textbesessenen demütig werden lassende amerikanische Underwood-Maschine ins Haus geschleppt), war umgehend gescheitert. Nach wenigen Tagen entdeckte sie das Gerät, einem sterbenden Tier gleich, auf dem Boden unter einem großen Karton wieder. Sie hatte die Maschine daraufhin einer jungen Mitarbeiterin Ben-Gurions gegen Abtransport überlassen mit der Auflage, gelegentlich für sie Schreibarbeiten zu übernehmen. Gekommen war es dazu nie.

Nur ein menschliches Wesen hielt sich aufrecht und erhobenen Hauptes in den weißen Wogen aus Papier, der große (und von ihm fast kindlich verehrte) Albert Einstein, in einem hölzernen Bilderrahmen hinter Glas in Sicherheit gebracht, mit ergrauender Mähne die längst weiße Mähne Ben-Gurions betrachtend, wenn dieser sich an den Schreibtisch setzte. Und stets vor seinen wachen Augen das, was einem geordneten Geist wie dem seinen einem Verrat an der Schönheit des von ihm entschlüsselten Kosmos gleichkommen musste.

Dann kam, was kommen musste, wenngleich sie mit der Größe und Wucht dieser neuen Idee nicht gerechnet hatte.

»Das ist es«, sagte er und hielt eine von ihm mit dünnem Bleistift angefertigte Skizze über Einsteins Schopf hinweg in die Höhe.

»Was soll das sein?«

Sie trat näher. Auch wenn sie die Ahnung überkam, dies könne der Grundriss eines Hauses sein (und nicht, wie sie für einen Moment hoffte, der Schaltkreis einer neuartigen Waschmaschine oder der Konstruktionsplan für ein Gerät zur Herstellung von Kunstdünger), beschloss sie, sich für einen weiteren rettenden Moment unwissend zu stellen.

»Kann nichts erkennen, was der Rede wert wäre«, sagte sie.

»Das ist unser Haus.« Noch immer hielt er das Papier in die Höhe.

Sie schob die Brille hoch, beugte sich über den Zettel, den ihr Mann jetzt vor sich auf den Tisch legte und mit der flachen Hand glatt strich.

»Ich sehe kein Haus«, sagte sie (auch wenn es nicht stimmte). »Und wenn da eines sein soll, möchte ich darin nicht wohnen.«

»Es wird dir gefallen.«

»Es gefällt dir. Alles, was ich auf dem Zettel mit etwas Fantasie ausmachen kann, ist ein Arbeitszimmer und eine Bibliothek. Und ein paar Hühnerkäfige drum herum.«

Vielleicht sollte sie einfach wieder gehen, hielt aber noch einmal inne.

»Wo soll denn dieses Haus stehen?«

Er schien auf dieses Stichwort gewartet zu haben.

»Im Negev, unserer Wüste.«

»Nix da.«

Aber jetzt war er bei seiner...

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Autor

Stephan Abarbanell, 1957 geboren, wuchs in Hamburg auf. Er studierte Evangelische Theologie sowie Allgemeine Rhetorik in Hamburg, Tübingen und Berkeley und war viele Jahre lang Kulturchef des rbb. Sein Romandebüt, »Morgenland«, erschien 2015 bei Blessing, 2019 folgte »Das Licht jener Tage« und 2022 »10 Uhr 50, Grunewald«. Stephan Abarbanell lebt mit seiner Frau, der Übersetzerin Bettina Abarbanell, in Potsdam-Babelsberg.