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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

von
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
796 Seiten
Deutsch
Baumhauserschienen am11.11.20111. Aufl. 2011
Der Nussknacker, im Jahre 1900 geschnitzt, ist nicht nur ein hölzener Nussknacker - er ist auch Talisman, Geschenk, Trostpreis, Spielzeug, Kunstobjekt, Überbringer von Spionagenachrichten, Trophäe ... und vor allem ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler. Er erzählt seine Geschichte und die eines ganzen Jahrhunderts. Er fliegt Zeppelin, fährt auf der Titanic, erlebt die Weltkriege und die Gründung der DDR. Er wandert immer wieder von Kinderhand zu Jugendhand und erzählt auch die einzelnen Geschichten seiner Besitzer ...mehr

Produkt

KlappentextDer Nussknacker, im Jahre 1900 geschnitzt, ist nicht nur ein hölzener Nussknacker - er ist auch Talisman, Geschenk, Trostpreis, Spielzeug, Kunstobjekt, Überbringer von Spionagenachrichten, Trophäe ... und vor allem ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler. Er erzählt seine Geschichte und die eines ganzen Jahrhunderts. Er fliegt Zeppelin, fährt auf der Titanic, erlebt die Weltkriege und die Gründung der DDR. Er wandert immer wieder von Kinderhand zu Jugendhand und erzählt auch die einzelnen Geschichten seiner Besitzer ...
Details
Weitere ISBN/GTIN9783838705996
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Verlag
Erscheinungsjahr2011
Erscheinungsdatum11.11.2011
Auflage1. Aufl. 2011
Seiten796 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2187223
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
1900 - 1908, Oberammergau, Bayern

»Fertig!«, sagte der Mann mit der blauen Schürze.

Vor ihm auf dem Boden lagen Holzspäne. Wie Gold schimmerten sie im Licht, das sich durch die Fensterscheiben und die staubige Luft zwängte. Auf der Werkbank neben dem Mann lagen unterschiedliche Messer. Große und kleine und seltsam gebogene, die aussahen wie der Sichelmond. Und in seiner zerfurchten Hand hielt der Mann mich, noch ganz nackt und glatt, mit feinstem Schmirgelpapier abgeschliffen.

»Wie ein Kinderpopo«, murmelte der Mann. Dann grinste er still vor sich hin, wie immer, wenn er mit seiner Arbeit zufrieden war.

Der Mann mit der blauen Schürze und dem langen gekräuselten Bart war ein Holzschnitzer, ein Meister seines Fachs, der Beste weit und breit. Er schnitzte alles, was man aus einem Stück Holz schnitzen konnte: Salatschüsseln, Kochlöffel, Kinderspielzeug, Toilettenpapierrollenhalter, Wäscheklammern, Kleiderbügel und was noch so alles im Haushalt gebraucht wurde und aus Holz war. Manchmal schnitzte er auch Gegenstände, die nicht nur zu gebrauchen, sondern obendrein schön anzusehen waren. Und manchmal schnitzte er Dinge wie mich, einen Nussknacker.

Ich war durch seine Kunst und unter seinen scharfen Messern in zwei Tagen und Nächten entstanden. Neunzehn Zentimeter hoch, mit Bart und dickem Bauch. Noch ohne Farbe im Gesicht und am Körper.

»Jetzt bist du an der Reihe!«, rief der Meister in den hinteren Teil seiner Werkstatt.

Sein Geselle, ein junger, schlaksiger Bursche mit einem dünnen Flaum auf der Oberlippe, ließ alles stehen und liegen und kam an die Werkbank des Meisters geeilt.

»Ein Prachtexemplar!«, sagte er bewundernd, als er mich in den Händen seines Meisters erblickte. »Jetzt fehlt nur noch ein bisschen Farbe, dann können wir stolz auf ihn sein.« Der Geselle wollte mit seinen langgliedrigen Fingern nach mir greifen.

»Stolz allein reicht nicht!«, brummte der Meister und gab dem Gesellen einen Klaps auf die Hand. So machte er es immer, wenn der ihm mal wieder zu ungeduldig erschien. »Stolz kann man sich nicht aufs Brot schmieren und essen. Wir müssen den Nussknacker verkaufen!«

Der Geselle nickte, senkte den Kopf und murmelte: »Ich weiß.«

Dann standen die beiden in ihren blauen Schürzen da, mit Blicken, die nichts Gutes verhießen, und dachten nach, bis der Meister schließlich mit brummiger Stimme sagte: »Und das ist in diesen Zeiten nicht einfach.«

Wieder nickte der Geselle schüchtern. Er wusste, was der Meister meinte. Überall sprach man von den schlechten Zeiten. Auch der Meister jammerte oft und redete davon, dass das Geld knapp sei, dass immer weniger verkauft werden könne und alles teurer werde.

Ganz in Gedanken packte er mich an den Beinen und sagte: »Da! An die Arbeit!«

So gelangte ich von den dicken Fingern des Meisters in die zarten Hände des Gesellen. Er trug mich zu sich in den hinteren Teil der Werkstatt und stellte mich auf der Werkbank ab, auf der zahlreiche Farbtuben und Pinselgläser standen.

»So, mein kleiner Nussknacker«, sagte der Geselle liebevoll. »Jetzt werde ich dir ein schönes Farbenkleid verpassen, so schön, dass jeder dich haben will!«

Er grinste, nahm Pinsel und Farbtuben und machte sich ans Werk. Er gab sich alle Mühe und malte mir ein blaues Gewand auf den Leib, schwarze Stiefel und rote Bäckchen. Ich glänzte am ganzen Körper und strahlte im Gesicht. Zuletzt malte er mir zwei schöne runde Augen, mit denen ich jetzt deutlich den Eiffelturm sehen konnte.

Den Eiffelturm?, schoss es mir durch den Kopf. Was macht der Eiffelturm in Oberbayern? Der stand doch in Frankreich. Allerdings noch nicht lange. Er war erst seit ein paar Jahren das Wahrzeichen von Paris, der französischen Hauptstadt. Ich aber war in Oberammergau, mindestens tausend Kilometer weit weg. Und doch konnte ich diesen seltsamen Turm erkennen, stand sogar mit beiden Beinen darauf. Natürlich nicht wirklich, sondern auf einer Zeitung, in der ein Foto vom Eiffelturm war. Darüber stand: »Weltausstellung in Paris«.

Der Geselle kümmerte sich weder um die Weltausstellung noch um den Eiffelturm. Er zerknüllte die Zeitung und warf sie in den Mülleimer. Auch ich riss mich von meinen französischen Gedanken los und schenkte meine Aufmerksamkeit mir selbst. Du bist gut gelungen, sagte ich mir, als ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe erblickte. Ohne überheblich klingen zu wollen, kann ich mit Fug und Recht behaupten: Ich sah richtig gut aus!

Auch der Meister nickte anerkennend. Seine Frau Hedwig, die einen so dicken Bauch hatte, dass es aussah, als trüge sie einen Ballon unter ihrem Rock spazieren, meinte: »Da ist euch mal wieder ein besonders schönes Stück geglückt!«

Auch alle Kunden, die mich im Laden sahen, blieben stehen. Sie betrachteten mich lange und sagten voller Bewunderung: »Schön, wirklich schön.« Manche schmunzelten auch und ergänzten: »Und lustig sieht er aus!«

Trotzdem wollte mich keiner haben. Nach drei Monaten stand ich noch immer im Regal und sah der Kundschaft zu, wie sie Garderobenhaken, Salatlöffel und Toilettenpapierrollenhalter kaufte. Niemand blieb noch vor mir stehen, und keiner sagte mehr, wie schön ich sei. Offenbar hatten die Leute andere Dinge im Kopf als Nussknacker. Außerdem hatte sich mein Aussehen verändert. Meine Schönheit verblasste. Staub legte sich auf mich, ließ die Farbe stumpf werden und nahm mir den Glanz.

Anfangs pries mich Hedwig, die immer dicker wurde, mit marktschreierischen Worten noch bei jenen Kunden an, die aussahen, als könnten sie sich einen Nussknacker leisten.

»Zu teuer«, sagten aber selbst die Wohlhabenden, schüttelten den Kopf oder zuckten mit den Schultern.

»Was soll ich mit ´nem Nussknacker?«, entgegneten andere, die weniger Geld in der Tasche hatten. »Ich kann mir nicht mal die Nüsse leisten.«

»Ja, ja«, meinte dann Hedwig, die jetzt so dick war, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis sie platzte. »Kein Wunder in diesen Zeiten.«

Alle sprachen von »diesen Zeiten«, die angeblich so furchtbar schlecht waren. Aber die Leute hatten recht. Die Zeiten waren schlecht.

Doch dem Meister und Hedwig schien es auf einmal gut zu gehen, dass sie strahlten wie die Honigkuchenpferde, als hätten sie alle Ladenhüter auf einmal verkauft, und davon gab es mehr als genug. Jetzt erst fiel mir auf, dass Hedwig nicht mehr dick war. Dafür schrie nun mehrere Stunden am Tag ein kleines rotgesichtiges Baby ohne Haare und Zähne: Wilhelm, der Sohn vom Meister und seiner Frau, der im Winter geboren und gleich darauf getauft worden war.

»Wie soll er denn heißen?«, hatte der Pfarrer gefragt.

»Wilhelm!«, hatte Hedwig geantwortet.

»Wie unser Kaiser!«, hatte der Meister hinzugefügt.

Immer, wenn Wilhelm endlich schlief, statt zu krakeelen, machten der Meister, Hedwig und der Geselle drei Kreuze. Ich auch.

Wilhelm wurde größer, aber die Zeiten besserten sich nicht. Die Lebensmittel wurden immer teurer. Als in Wuppertal die erste Schwebebahn der Welt ihren Betrieb aufnahm, der Wissenschaftler conrad Röntgen mit den von ihm entdeckten Strahlen experimentierte, mit denen man Körper durchleuchten, Knochen sehen und Brüche erkennen konnte, und als in Amerika das erste Motorflugzeug in die Luft stieg, drohte der Holzschnitzladen pleitezugehen. Niemand wollte mehr die vom Meister und dem Gesellen so kunstvoll gefertigten Schnitzereien haben. Ich konnte es mit eigenen Augen sehen und am eigenen Leibe spüren. Das Holzschnitzgeschäft lief so schlecht, dass immer weniger Salatschüsseln, Garderobenhaken, Toilettenpapierrollenhalter und Kleiderbügel gekauft wurden.

»Wo soll das bloß enden? Alles geht zum Teufel«, sagte Hedwig und sah dabei so aus, als wäre sie auf direktem Wege dahin.

Der Meister schwieg, und Wilhelm brüllte mal wieder, als wäre das Ende bereits gekommen.

Wieder verging einige Zeit. In Ägypten wurde der größte Staudamm der Welt eingeweiht. In Deutschland schrieben die Schüler - auch der kleine Wilhelm, der inzwischen zur Schule ging - nach einheitlichen Regeln. Und immer mehr Warenhäuser entstanden, die alles Mögliche zum Kauf anboten, auch Salatschüsseln, Garderobenhaken, Toilettenpapierrollenhalter und Kleiderbügel, also all das, was es auch in dem kleinen Holzschnitzladen gab. Deshalb ging es für den Holzschnitzladen bald nicht mehr weiter. Zumindest nicht für den fleißigen Gesellen. Der Meister musste ihn schweren Herzens entlassen.

»Das Geld reicht nicht mehr für vier«, sagte er. »Das Geschäft ernährt höchstens noch mich, Wilhelm und meine Frau. Tut mir leid.«

Dem Gesellen tat es auch leid. Er war so traurig wie noch nie. Am traurigsten aber war Wilhelm, für den der Geselle in seinem kurzen Leben schon wie ein älterer Bruder war. Flehend sah er seinen Vater an und lag ihm bittend in den Ohren, den Gesellen zu behalten.

»Wenn die Zeiten wieder besser werden, hole ich ihn zurück«, sagte der Meister. »Mehr kann ich jetzt nicht für ihn tun.«

* * *

Die Zeiten wurden nicht besser. Sie wurden schlechter und schlechter. Es gab immer weniger Arbeit und immer mehr Menschen, die hungern mussten. Nicht einmal Brot und Wurst konnten sie sich kaufen. Geschweige denn Toilettenpapierrollenhalter und Salatschüsseln. Und Nussknacker am allerwenigsten. Wenn überhaupt, kauften sie meine billigeren Verwandten in den Warenhäusern.
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Sobo