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Tödliches Schweigen

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
463 Seiten
Deutsch
Bastei Lübbeerschienen am13.06.20141. Aufl. 2014
Es herrscht eisige Kälte, als Lars-Erkki Svanberg, ehemals der beste Skilangläufer des Nordens, brutal mit einer Axt erschlagen wird. Warum ermordet jemand einen kauzigen Einzelgänger, der seit Jahren zurückgezogen auf seinem Hof lebt? Zur gleichen Zeit erschießt in St. Petersburg ein russischer Mafiosi einen Freund und flieht Richtung Schweden. Während der Frühlingswinter am Polarkreis einzieht, laufen die Fäden in Lars-Erkkis Dorf in Nordschweden zusammen. Und ein weiterer Mord geschieht ...mehr

Produkt

KlappentextEs herrscht eisige Kälte, als Lars-Erkki Svanberg, ehemals der beste Skilangläufer des Nordens, brutal mit einer Axt erschlagen wird. Warum ermordet jemand einen kauzigen Einzelgänger, der seit Jahren zurückgezogen auf seinem Hof lebt? Zur gleichen Zeit erschießt in St. Petersburg ein russischer Mafiosi einen Freund und flieht Richtung Schweden. Während der Frühlingswinter am Polarkreis einzieht, laufen die Fäden in Lars-Erkkis Dorf in Nordschweden zusammen. Und ein weiterer Mord geschieht ...
Details
Weitere ISBN/GTIN9783838753041
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum13.06.2014
Auflage1. Aufl. 2014
Seiten463 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2189265
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Sie drehte den Wohnungsschlüssel um. Zwei Umdrehungen, an die sich ihre Hand erinnerte, zwei Umdrehungen, die einem versicherten, dass man ordentlich abgeschlossen hatte.

Sofort schlug ihr der Gestank entgegen. Sie wich zurück und hielt die Luft an. Dünste von Kot und verfaulendem Müll.

Stickigkeit und Einsamkeit und eingetrockneter Urin.

Katrine band sich den Schal vor den Mund und stellte ihren Koffer in den Flur. Dann zog sie schnell die Tür hinter sich zu, damit der Geruch nicht ins Treppenhaus drang und die Nachbarn sich wunderten, was sie hier zu suchen hatte. Und warum sie nicht früher gekommen war.

Auf dem Boden hatten sich die Post und Werbeprospekte hinter dem Türschlitz zu unordentlichen Bergen getürmt. Hier stand die vertraute Kommode im Rokokostil, hier lagen die braun-rosafarbenen Webteppiche, die noch nie ausgetauscht worden waren, und hier hing die Hutablage, auf der die alte Pelzmütze ihrer Mutter thronte. An der Wand entdeckte Katrine den Kunstkalender mit Motiven aus der Tate Modern, den sie zu Weihnachten aus London geschickt hatte.

Kein einziges Kalenderblatt war gewendet worden. Die Zeit war stehen geblieben.

Ich bin sofort gekommen, nachdem sie angerufen haben, sagte sie zu sich selbst. Im Kopf entwarf sie bereits ihre Verteidigungsrede, während sie von Zimmer zu Zimmer ging und alle Fenster weit aufriss. Ich wohne in London. Ich kann nicht einmal in der Woche nach Hause fliegen, um Mama zu besuchen. Und warum hat Anders sich nicht um sie gekümmert? Ich habe einen Bruder, ich habe verdammt noch mal einen Bruder, der gerade einmal drei Kilometer von hier entfernt wohnt. Ich kann nicht alle Schuld auf mich nehmen.

Sie sank auf einen Küchenstuhl, von wo aus ihr Blick direkt auf einige verkohlte Reste neben dem Toaster fiel. Was war das bloß? Fleischwurst?

Im Krankenhaus hatten sie gesagt, Ingrid Hedstrand sei unterernährt gewesen, was die Demenz vermutlich verschlimmert hatte. Eine Nachbarin hatte Alarm geschlagen. Die Wohnungstür hatte offen gestanden, Ingrid hatte auf dem Boden gelegen und nicht mehr aus eigener Kraft aufstehen können. Doch das kranke Bein war nicht das Schlimmste. Im Krankenhaus hatte man eine senile Demenz vom Alzheimer-Typ festgestellt. Möglicherweise hatte Ingrid Hedstrand auch einen leichten Schlaganfall erlitten. Jetzt wurde untersucht, wie pflegebedürftig sie war.

Verzeih mir, Mama, dass ich nicht hier war. Verzeih mir, dass ich nichts wusste.

Lange saß sie auf einem Ecksofa im Wohnzimmer und weinte. Die inneren Bilder von der Mutter in diesem Zimmer; lächerliche kleine Details. Wie sie dort auf dem Sofa saß, immer ganz am Rand, und strickte, während der Fernseher lief, oder einen Schal oder eine Strickjacke häkelte, egal bei welcher Sendung, immer waren ihre Hände mit irgendetwas beschäftigt. Eine Tasse Silbertee am Abend und ein belegtes Knäckebrot. Silbertee! War das nicht einfach nur heißes Wasser mit Zucker? Abends zog sie immer ihren hellgrünen Morgenrock an, um die anderen Kleider nicht unnötig zu zerschleißen. Und das Haar, immer ordentlich auf Wickler gedreht, wenn sie schlafen ging, und das morgendliche Make-up, wenn sie zur Apotheke aufbrach. Katrine erinnerte sich daran, dass sie sich eine jüngere Mutter gewünscht hatte; warum ihr das so wichtig gewesen war, wusste sie nicht mehr.

Draußen brach eine graue Dämmerung herein.

Sie trat auf den Balkon und stand lange in der feuchten Kälte. Sah über die Vororte, Månadsvägen, Västerby, Jakobsberg. Ihr Kindheitsland, ein Feld zwischen Straßen und Wohngebieten, morastig von Schneematsch und Lehmboden. War es hier nicht schon immer schlammig gewesen? Dreck, der bis zur Jeans hinaufspritzte? Dort hatte sie auf dem Weg zur Schule eine Abkürzung genommen und war von den Jungs aus ihrer Klasse mit Schnee eingeseift worden. Hatte hinter dem Werkraum Klebstoff geschnüffelt und zum ersten Mal mit Jojje geknutscht. Ihre gesamte Schulzeit war auf der anderen Seite des Felds aufgereiht, flache Gebäude von der Grundschule bis zum Gymnasium, in denen sie mehr Tage verbracht hatte, als sie Lust hatte zu zählen. Beim Abi-Fest hatte sie sich mit einem widerwärtigen Gesöff betrunken, das sie aus gestohlenen Resten aus Ingrids Schrank zusammengemischt hatte, und war anschließend in einem fremden Bett aufgewacht, mit Brechreiz und einem einzigen Gedanken im Kopf: frei.

Die Fußwege kreuzten sich, doch letzten Endes führten sie alle ins Zentrum, zum Pendelzug, weg. Bis zum Stockholmer Hauptbahnhof fuhr man siebzehn Minuten. Sie hatte sich vorgenommen, nie wieder zurückzukehren.

Obwohl sie fror, blieb sie stehen und versuchte, dieses Gefühl noch einmal einzufangen. Dass alles vor ihr lag, dass alles möglich war. Doch es ging nicht.

Acht Jahre wohnte sie nun schon in London. Hatte als freiberufliche Journalistin gejobbt und sich anfangs mit billigen Reportagen über ausgewanderte Schweden über Wasser gehalten, während sie von einer großen Zukunft träumte. Sie war von Wohnung zu Wohnung gezogen, hatte vieles in Kauf genommen und sich durchgebissen, bis sie eines Tages das große Los zog, einen Vertrag als Stringer für die Nachrichtensendung des schwedischen Radios. Und dann hatte sie Alastair kennengelernt. Ein Psychotherapeut mit einer eigenen Praxis auf der Harley Street, was für ein Zufall, dass sie sich begegnet waren, ein Fest, ein Bekannter eines Bekannten. Inzwischen waren fünf Jahre vergangen, seit er sie zum ersten Mal in seine große Wohnung im Harley House eingeladen hatte, ein Haus mit Turm und Concierge in der Marylebone Road, eine Adresse, bei der die Leute anerkennend die Augenbrauen hochzogen.

Ich muss mich zusammenreißen, dachte sie und klammerte sich an das Balkongeländer. Die Kälte des Metalls drang durch die Haut und ließ die Finger gefrieren.

Man hatte sie kurz nach Weihnachten informiert. Zwanzig feste Freie mussten entlassen werden. Ihr Vertrag mit dem Radio würde nicht verlängert. Diesen Monat würde sie zum letzten Mal bezahlt. Und noch bevor sie sich aufraffen konnte, andere Aufträge zu akquirieren, brach schon die nächste Katastrophe über sie herein.

Katrine ging wieder zurück in die Wohnung. Musste irgendwo anfangen. Mit dem Schlimmsten, immer mit dem Schlimmsten anfangen, hatte ihr das die Mutter nicht beigebracht? Im Schlafzimmer fand sie zusammengeknüllte Laken unter dem Bett. Starr von getrockneten Fäkalien. Sie hielt sich die Nase zu, als sie sie in eine Plastiktüte stecken wollte. Die Tüte war zu klein. Sie durchsuchte Schränke und Schubladen und fand eine schwarze Rolle mit großen Kunststoffsäcken. Dort stopfte sie alles hinein, knotete den Sack zu und warf ihn in den Müllschlucker draußen im Treppenhaus. Oben im Wäschekorb lagen ordentlich zusammengelegte, saubere Handtücher. Darunter mehrere fleckige Nachthemden. Sie riss einen weiteren Sack von der Rolle ab und sah die Mutter vor sich, wie sie verzweifelt die sauberen Handtücher obenauf legte, um ihre Schande zu verbergen. Ahnte den Schrecken, wenn das eigene Selbst kollabierte. Wenn man von einem Zimmer zum nächsten ging und sich nicht mehr erinnern konnte, was man dort wollte.

Katrine wusch sich die Hände, schrubbte sie bis weit über die Ellbogen hinauf. Dann nahm sie die Post in Angriff.

Sie setzte sich an den Küchentisch, öffnete und sortierte die Briefe und spürte, wie allmählich eine gewisse Ruhe einkehrte. Dies waren handfeste Katastrophen, die es zu beseitigen galt. Papiere, Ziffern und Analysen - das konnte sie gut.

Es gab Mahnungen über unbezahlte Rechnungen, die Monate zurücklagen, Inkasso-Drohungen und sieben Forderungen vom Gerichtsvollzieher. Ausgerechnet ihre Mutter, die ihre Rechnungen normalerweise zwei Wochen zu früh bezahlte, um den Gläubigern zu beweisen, dass sie tatsächlich in der Lage war, ihre Schulden selbst zu begleichen. Jetzt hatte sich diese sorgfältige Haushaltsbuchführung in den ersten Kreis von Dantes Inferno verwandelt.

Sie wollte gerade einen Brief von einem Maklerbüro in den Müllsack mit der Reklame werfen, als sie zufällig die Adresse las. Der Umschlag war an die »Eigentümerin Ingrid Hedstrand« adressiert. Katrine riss ihn auf und las die wenigen Zeilen wieder und wieder.

»Da der Kunde großes Interesse daran hat, die Immobilie zu erwerben …«

Immobilie? Welche Immobilie? Ingrid Hedstrand wohnte im Månadsvägen in Jakobsberg, seit diese Häuser im Jahr 1961 erbaut worden waren. Was sie in der Apotheke verdient hatte, wusste Katrine nicht genau, aber das Gehalt hätte wohl nicht einmal für ein Sommerhäuschen gereicht. Katrine hatte Hosen aus dem Versandhauskatalog getragen, als alle andere Markenjeans bekamen, jede kleine Käserinde musste wieder eingepackt und für den nächsten Tag aufbewahrt werden, und angebrannte Brötchen waren immer noch Brötchen.

Sie las den Brief noch einmal.

Die Immobilie, an der der besagte Kunde so interessiert war, lag in Kivikangas in der Kommune Haparanda.

Kivikangas hieß die Stadt, in der ihre Mutter geboren war.

Katrine lehnte sich auf dem harten Holzstuhl zurück und schloss die Augen. Sie konnte den Ort auf der Karte vor sich sehen, weit oben in Norrland, östlich an jenem blauen Band gelegen, das den Grenzfluss zwischen Schweden und Finnland darstellte. Als sie in die Oberstufe kam, hatte sie es aufgegeben, die Mutter zu fragen, ob sie einmal dort hinfahren könnten. An der Wand des Klassenzimmers hing eine Karte, auf der die Schüler mit Stecknadeln die Orte markieren durften, die sie schon einmal besucht hatten, und anschließend berichtete die Lehrerin von den Blumen in dieser Landschaft, von Provinzhauptstädten und Flüssen und Bergen. Katrine hätte gern so weit oben eine Nadel hineingesteckt, aber Ingrid sagte, die Reise sei zu...
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