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Mutti hebt ab

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
253 Seiten
Deutsch
Bastei Lübbeerschienen am15.08.20141. Aufl. 2014
Mutti versteht es bestens, ihrer Tochter Laura ein schlechtes Gewissen zu machen. Schließlich passiert es nur allzu oft, dass sie ihr nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die ihr zusteht. Als Laura genug von den Vorwürfen hat, beschließt sie, gemeinsame mit Mutti und Sohn Philipp eine Reise nach Stettin anzutreten, der alten Heimat ihrer Mutter. Gemeinsam begeben sich die drei, bepackt mit Eierbroten und einer extra Portion Geduld, auf einen Roadtrip, den niemand von ihnen vergessen wird ...mehr

Produkt

KlappentextMutti versteht es bestens, ihrer Tochter Laura ein schlechtes Gewissen zu machen. Schließlich passiert es nur allzu oft, dass sie ihr nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die ihr zusteht. Als Laura genug von den Vorwürfen hat, beschließt sie, gemeinsame mit Mutti und Sohn Philipp eine Reise nach Stettin anzutreten, der alten Heimat ihrer Mutter. Gemeinsam begeben sich die drei, bepackt mit Eierbroten und einer extra Portion Geduld, auf einen Roadtrip, den niemand von ihnen vergessen wird ...
Details
Weitere ISBN/GTIN9783838753508
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum15.08.2014
Auflage1. Aufl. 2014
Seiten253 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2189172
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
3.

»Der dusselige Dackel hat doch tatsächlich meinen Zahn gefressen!«

»Gott, Laura, mein Zahn tut so weh! Ich glaub, der stirbt ab.«

Muddi sitzt wie ein Häuflein Elend bei uns zu Hause und presst die eisgekühlte Apfelsaftschorle gegen ihre rechte Wange statt davon zu trinken. »Mir sind gestern schon wieder ein paar Plombenstückchen abgebrochen«, jammert sie.

»Du wolltest doch auch schon seit Wochen zum Zahnarzt«, kommentiere ich schulterzuckend ihre Leidensmiene. Typisch Muddi! Schiebt die Arztbesuche immer so lange raus, bis es akut wird. Und zwar an einem Besuchswochenende bei uns, wann sonst?

»O Gott, wie ich das hasse! Wenn ich schon an den Behandlungsstuhl dieser Ärztin denke, wird mir schlecht. Und schwindelig ist mir auch sofort!«

Sie stellt die Apfelsaftschorle demonstrativ in die Mitte des Esstisches. Diese Geste soll mir sagen: Jetzt kann ich wirklich gar nichts mehr davon trinken, jetzt verspüre ich zusätzlich zu den Zahnschmerzen auch noch Übelkeit. Musstest du denn auch noch die ZAHNÄRZTIN erwähnen, Laura?

»Aber Dr. Hummerich kann dir vor der Behandlung doch eine Spritze geben. Dann merkst du garantiert nichts von dem Eingriff«, versuche ich, sie zu beruhigen.

»Das hilft bei mir nicht, das weißt du doch. Ach, wenn ich die blöde Hummerich nur sehe und die mich mit ihren Beruhigungsfloskeln vollquatscht. Hält die mich für doof?«

Jetzt richtet Muddi sich auf, schließt die Augen, zieht beide Augenbrauen hoch und zitiert mit geschürzten Lippen in höherer Stimmlage ihre Zahnärztin.

»Ach, Frau Windmann, Sie brauchen sich gar keine Sorgen zu machen, mit dieser Spritze hier spüren Sie die Behandlung kein bisschen. Und die Spritze selbst macht nur einen kleinen, gaaaaanz kleinen Pieks. Versprochen!«

Muddi öffnet ihre Augen, sieht mich böse an, haut einmal mit der Faust auf den Tisch, dass die Apfelsaftschorle beinahe überschwappt, und sagt erbost: »Und dann spritzt sie die Betäubung und will schon nach fünf Minuten mit dem Bohren anfangen! Da hab ich aber beim letzten Besuch gesagt, dass sie noch länger warten soll. Meine Lippen waren ja noch nicht einmal taub! IST DIE BESCHEUERT?« Muddis Zornesfalten glätten sich nach dem Ausruf abrupt wieder, und sie sagt mit lieber Muddi-Stimme: »Ach Laura, mach uns doch mal einen Kaffee. Und vergiss den Zucker und die Milch nicht.«

Ich spare mir dieses Mal den Kommentar darüber, dass ich noch nie den Zucker und die Milch in ihrem Kaffee vergessen habe, und gehe in die Küche. Während ich die Kaffeemaschine anwerfe, stelle ich mir vor, wie meine Mutter die Zahnärztin in den Wahnsinn getrieben haben muss. Ich sehe den Behandlungsraum mit einer großen Wanduhr, Muddi in Liegeposition und die Ärztin daneben. Vermutlich eine Viertelstunde nach dem Setzen der Spritze will die Ärztin anfangen zu bohren. Meine Mutter aber packt die Ärztin entsetzt an den Armen und brüllt: »Um Gottes willen, sind Sie irre? Nur weil ich 'ne alte Oma bin, können Sie doch nicht mit mir machen, was Sie wollen! Sie setzen sich jetzt wieder hin und warten mit mir noch mindestens dreißig Minuten, bis ich die Betäubung auch spüre. Jetzt ist da noch gar nichts taub, Sie hohle Nuss! Wo um Himmels willen haben Sie studiert? Im Outland bei den Aborigines?«

»Und schuld an meiner Zahnarztangst ist der Arzt aus Stettin!«, ruft Muddi aus dem Esszimmer zu mir herüber.

Und ich weiß, was jetzt kommt: die Milchzahngeschichten. Seufzend gieße ich zwei Becher voll Kaffee, gebe für Muddi zwei Teelöffel Zucker und einen Schuss Vollmilch hinzu - der ultimative Zahnschmerztest sozusagen -, in meinen Becher nur einen Schuss Milch.

Zurück am Tisch warte ich geduldig.

Erstens auf das, was passiert, wenn Muddi den süßen Kaffee schlürft. Zweitens auf die erste Milchzahngeschichte. Ich weiß, dass ich um sie nicht herumkomme. Selbst wenn ich jetzt schnell ein anderes Thema anschneide, später würde Muddi trotzdem ihre beiden Geschichten erzählen. Weil diese, wenn sie einmal in ihrem Tageskalender im Hirn aufleuchten, unbedingt erzählt werden müssen. Der Kalender wird heute noch bis um Mitternacht regelmäßig aufschrillen, vibrieren und in Leuchtbuchstaben folgenden Text an die Decke werfen: »Du musst noch die Milchzahngeschichten erzählen! Und wenn Laura dir sagt, sie hätte diese Geschichten schon drei Millionen Mal gehört: Ignoriere das! Du musst sie erzählen!«

»Hallo, Oma, na? Alles easy?« Philipp setzt sich neben seine Großmutter. Muddi umarmt ihn kurz, er lehnt sich zurück und betreibt social networking an seinem Smartphone.

Muddi hebt ihre Kaffeetasse, führt sie an ihre Lippen, dann überlegt sie es sich anders und fängt doch erst mit der Milchzahngeschichte Nummer eins an, während sie den vollen Becher wieder absetzt.

Mit Schrecken stelle ich fest, dass ich simultan Wort für Wort mitreden könnte! Erstaunlich, mit welchen Altlasten mein Gehirn gefüllt ist … und dass da immer noch Platz für wichtigere Sachen zu sein scheint. Aber irgendwann wird die Schublade »Muddis Anekdoten« überfüllt sein, und sie werden auch andere Bereiche in meinem Hirn besetzen. Ich sehe mich in der Zukunft, wie ich von einem Polizist in einer Unfallsache befragt werde, die ich als einzige Zeugin beobachtet habe, und statt irgendwelche sachdienlichen Hinweise zu geben, rede ich fortwährend von den schlimmen, schlimmen Milchzahngeschichten meiner Muddi …

»Damals in Stettin, das war vielleicht im Jahr 1940, hat mir der Zahnarzt ohne Vorwarnung einen Milchzahn gezogen, ach was sag ich, herausgebrochen hat er ihn, mit einer Riesenzange!« Muddi hält sich eine Hand vor die Augen und schüttelt fortwährend den Kopf, so als wolle sie die Erinnerung auf diese Weise abschütteln. Mit der anderen Hand hat sie Philipps Unterarm ergriffen, den sie fest drückt.

Philipp streichelt Muddi beruhigend über die Hand.

Ich streichle mir beruhigend über die Hand.

Ich muss akzeptieren, dass Muddi so etwas wie ein frühkindliches, posttraumatisches Erlebnis plagt - nicht durch die Kriegszeit bedingt, sondern durch diesen ersten Zahnarztbesuch. Dieses Kindheitstrauma macht sie bis heute zum »Hosenschisser der Nation«, wie sie selbst gern sagt, zumindest in Bezug auf Arztbesuche.

»Stellt euch das mal vor. Einem Kind mit roher Gewalt einen Zahn herausbrechen. Und meine Mutter hat nur zu mir gesagt: Na, Hauptsache, er ist raus. Nur weil sie selbst jegliche Zahnarztbehandlung, selbst eine Wurzelbehandlung, ohne Betäubung ertrug, erwartete sie von ihrer Tochter das Gleiche.«

Muddi hebt den Kaffeebecher an ihre Lippen … und trinkt. Doch statt eines Aufschreis, weil der Zucker den wehen Zahn quält, quält Muddi mich mit der zweiten Milchzahngeschichte. Philipp zwinkert mir beschwichtigend zu, als er meine Leidensmiene entdeckt. Warum kann er nur so locker bleiben?

»Ich erinnere mich noch ganz genau …«, fängt Muddi an.

Genau, denke ich, ich erinnere mich ebenfalls ganz genau.

»… dass ich einmal bei Opa Tomaschewsky am Frühstückstisch saß, damals in Stettin, und wir gerade köstliche Marmeladenbrötchen aßen. Gott, Laura, manchmal hab ich richtig Heimweh nach diesen Marmeladenbrötchen! Ach, ich hab eh solch ein Heimweh nach Stettin … Wie es da heute wohl aussieht?« Muddi macht eine Pause, und ich entdecke ein Tränchen in ihrem Augenwinkel. Doch bevor ich das aufkommende Mitgefühl auch verspüren kann, erzählt sie auch schon weiter.

»Als ich von dem Brötchen abbiss, brach mir ein Milchzahn heraus, der erste. Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, aber auf einmal lag mein kleiner Zahn auf dem Boden. Ich sprang vom Stuhl, um ihn aufzuheben, aber der Hund von Tomaschewskys kam mir zuvor. Der dusselige Dackel hat doch tatsächlich meinen Zahn gefressen! Gott, wie war ich traurig! Mein erster Milchzahn, der ausgefallen war! Ich hätte den Köter umbringen können!«

Philipp schmunzelt und fragt interessiert: »Aber warum hat denn niemand die Häufchen untersucht? Der Zahn wurde von dem Dackel doch sicher wieder ausgeschieden.«

Muddi winkt ab: »Milchzähne haben damals niemanden interessiert! Und ich wusste ja nicht, wie so ein Dackel einen Zahn verdaut … oder eben nicht.«

Plötzlich sagt Muddi ganz beseelt: »Aber wartet mal …«, und beginnt in ihrer Handtasche zu kramen. »Gott, was hab ich nur für einen Plunder da drin«, kommentiert sie das Wühlen zwischen Taschentüchern, fein säuberlich gefalteten Stoffbeutelchen, Keksen und zwei kleinen Eau-de-Cologne-Fläschchen. »Ah, da ist sie!«, jubelt Muddi schließlich und hält eine moosgrüne Schmuckschatulle in die Höhe.

Oh, überlege ich, möchte sie mir oder Philipp ein altes Familienerbstück, vielleicht ein Amulett mit den Fotos unserer Ahnen zeigen?

Weit gefehlt! Obwohl: der Begriff »Familienerbstück« passt schon. Vorsichtig öffnet sie die Schatulle und raunt geheimnisvoll: »Schaut mal …!«

Ich blicke in das mit schwarzem Samt ausgelegte Schmuckdöschen und danach zu meinem Sohn und registriere an seinem Blick, dass er dasselbe sieht wie ich. Es hätte ja durchaus sein können, dass ich es mir nur einbilde, schließlich bin ich manchmal durchaus nicht ganz Herr meiner Sinne, wenn Muddi meine Gedankengänge verwirrt … So ein hartnäckiger Verwirrungsangriff könnte ganz bestimmt auch meinen Sehnerv beeinträchtigen, sodass die Stäbchen und Zapfen in meinen Augen miteinander Tango tanzen und ich Dinge wahrnehme, die gar nicht existent sind!

In der Schatulle liegen...
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