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Nach mir das Leben

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
352 Seiten
Deutsch
Bastei Lübbeerschienen am16.09.20141. Aufl. 2014
Kristian Gidlund ist eine Kultfigur in Schweden: bekannt als Schlagzeuger der Indie-Band Sugarplum Fairy, als Journalist für verschiedene Magazine unterwegs. Er schreibt, fotografiert, macht Musik; das Leben ist ein wildes Experiment. Mit nur 23 Jahren bekommt er Magenkrebs, ein Jahr später weiß er, dass er nicht mehr lange leben wird. Seine Gedanken, seine Lieben, seine Sehnsucht nach dem Leben, das er nicht mehr erleben wird, sind eine tief bewegende Lektion über das Geschenk des Lebens.mehr

Produkt

KlappentextKristian Gidlund ist eine Kultfigur in Schweden: bekannt als Schlagzeuger der Indie-Band Sugarplum Fairy, als Journalist für verschiedene Magazine unterwegs. Er schreibt, fotografiert, macht Musik; das Leben ist ein wildes Experiment. Mit nur 23 Jahren bekommt er Magenkrebs, ein Jahr später weiß er, dass er nicht mehr lange leben wird. Seine Gedanken, seine Lieben, seine Sehnsucht nach dem Leben, das er nicht mehr erleben wird, sind eine tief bewegende Lektion über das Geschenk des Lebens.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783838758480
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum16.09.2014
Auflage1. Aufl. 2014
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2189436
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
APRIL 2011
Ich versuche, schneller zu sein

Vor einem Jahr, vielleicht vor anderthalb, habe ich etwas für mich Ungewöhnliches getan. Ich bin einer Mode auf den Leim gegangen, und zwar ganz bewusst. Ich wollte mit der Zeit gehen. Nach einer Jugend mit Ringo-Starr-Frisur habe ich mir Fünfzigerjahre-Koteletten gezüchtet. Ihr wisst schon, an der Seite kurz, im Nacken kurz, und über der Stirn eine freche kleine Tolle. Diese Frisur sieht man seither in unserer direkten Umgebung häufiger. Sie taucht hier und da auf, in allen möglichen Gesellschaftsschichten, und geografisch ist sie auch nicht mehr auf ländliche Gegenden und Garagen mit Oldtimern, Rockabilly, Schmieröl und Schraubenschlüsseln beschränkt. Heute ist sie in unserem Stadtbild an der Tagesordnung, wie Zebrastreifen, Latte trinkende Mütter und pickelige Teenagerhaut. Diese Entwicklung habe ich kommen sehen und mich Ende letzten Sommers entschieden, meine Haare wieder wachsen zu lassen. Meine offizielle Referenz war Dennis Wilson, auch wenn dessen Frisur eher einer früheren Epoche zuzurechnen ist.

Jetzt sitze ich also hier mit einer Beach-Boys-Frisur, die diesen Sommer nicht ausbleichen wird. Noch nie habe ich so eine lange Matte gehabt. Und ich wollte genau diese Frisur. So wollte ich aussehen. Ganz gleich, wie sehr ich in den letzten Jahren so getan habe, als wäre mir meine Frisur scheißegal: Dafür muss ich Abbitte leisten.

Ich gestehe.

Ich habe es mit meiner Frisur immer sehr genau genommen. Pedantisch genau. Habe meine Laune regelrecht von der Tagesform der Frisur abhängig gemacht.

Jetzt sind ein paar Tage vergangen, seit ich mit meiner Chemotherapie angefangen habe. Bald werden mir die Haare ausfallen, und das macht mir Angst. Denn ich will nicht eines Tages meine eigenen Haare aus meinem Bett klauben müssen. Will nicht die Reste von mir selbst zusammenfegen. Die Trümmer. Will mich nicht dünnhaarig und schütter im Spiegel sehen. Will nicht sehen, wie ich selbst runtergebrochen werde. Kaputtgehe.

Deshalb werde ich schneller sein als die Krankheit. Werde versuchen, ihr einen Schritt voraus zu sein.

Gleich gehe ich ins Badezimmer und schneide mir die Haare. Kurz. Und vielleicht, vielleicht werde ich ja eine Locke aufheben. Vielleicht hebe ich diesen Wirbel auf, den ich so mag. Vielleicht werde ich ihn manchmal hervorholen und mich an eben diesen Moment erinnern, als ich mich selbst hinters Licht führte, in dem ich glaubte, die Krankheit hinters Licht führen zu können. Wir werden sehen.

Falls jemand das irgendwie oberflächlich findet, wenn ich in diesem Zusammenhang wegen meiner Frisur herumjaule, dann kann er gerne die Behandlung an meiner Stelle fortsetzen.
Kristian, du bist ein Fremder geworden

Manchmal ist es befreiend, sich einem Fremden zu öffnen. Ihm zu erzählen, was kein anderer weiß, und was außer diesem Fremden auch niemand erfahren wird. Ich habe das schon ein paarmal getan, und ich bilde mir ein, dass es geholfen hat. Das muss es einfach. Jetzt ist meine eigene Geschichte so ein Fremder geworden, dem ich alles erzähle. Und mir scheint, dass ich auch für viele andere zu einem Fremden geworden bin.

So viele lassen von sich hören, unterstützen, fragen, muntern auf. Danken und reden drauflos. Viele von ihnen habe ich nie kennengelernt, nie gesehen. Aber das macht nichts. Ich bin froh, dass wir zusammengekommen sind, dass eine Begegnung stattgefunden hat.

Jemand hat mich gefragt, ob ich, bevor ich die Diagnose bekam, jemals über den Tod nachgedacht hätte. Und ja, das habe ich getan. Ziemlich oft. Vielleicht zu oft. Er ist mir in vielen Formen begegnet. Ich habe ihn aus der Nähe gesehen, und ich weiß, wie er funktioniert. Ich habe keine Angst davor. Eigentlich gar keine. Aber ich will nicht sterben. Nicht jetzt.

Ich bin noch nicht fertig mit meinen Sachen. Noch nicht.

Ich habe einen Blog angefangen. Zu Anfang sollte er nur für mich sein, es sollte meine Art sein, mit dem hier umzugehen. Mein Sandsack. Etwas, worauf ich einschlagen kann. Prügeln. Ein Teller, den ich auf den Boden schmeißen kann, im schlimmsten Fall ein Spiegel, den ich in Stücke schlagen könnte.

Es dauerte nicht lange, bis der Blog explodierte. Die Reaktionen waren enorm. Das hat sich natürlich gut angefühlt, auch wenn ich die Aufmerksamkeit lieber für etwas Erfreulicheres bekommen hätte. Etwas Schönes. Kreatives.

Viele finden mich mutig und sind der Meinung, dass meine Stimme und mein Zeugnis gebraucht werden. Viele scheinen jemanden vermisst zu haben, der darüber schreibt, wie es ist, so etwas zu erleben. Wie es ist, durch die Hölle zu gehen.

Ich selbst habe nie daran gedacht.

Ich habe mich auch nie besonders mutig gefühlt, aber es hilft mir, dass ich möglicherweise so gesehen werde. Vielleicht ist es so, und vielleicht musste es so kommen. Tatsächlich ist es mir nie schwergefallen, über Ungewöhnliches zu reden. Ich bin Konflikten und Diskussionen nie aus dem Weg gegangen, habe mir nie den Kopf darüber zerbrochen, wie meine Ansichten aufgefasst werden könnten. Ich hatte nie Angst, mit meiner Meinung allein zu sein. Deshalb war es ganz natürlich für mich, so zu schreiben. Wenn ich gesund wäre, würde es mir wahrscheinlich komisch vorkommen, über das zu schreiben, was ich gerade tue, darüber, wie meine Tage aussahen, ehe ich erfahren musste, dass ich krank bin.

Ehe die Behandlung anfing.

Ehe nichts mehr so war wie zuvor.

Plötzlich habe ich ein Thema an der Hand, das berührt, das vielleicht verändern oder Diskussionen auslösen kann. So scheint es zu sein. In diesem Fall nehme ich die Rolle gern an. Ich kann der Typ mit dem Krebs sein. Zumindest für eine Weile. Aber dann will ich wieder ein anderer sein. Dann will ich wieder Kristian sein.

Ich sehne mich danach.
Heute noch nicht, aber dann, dann darfst du

Stolpere nackt durch die Wohnung. Schlaftrunken. Mickrig. Einmal quer durch das Zimmer. Ins Badezimmer. Ein rascher Blick. Ich halte inne.

Ein unbekannter Mann im Spiegel.

Jemand, den ich noch nie gesehen habe. Wer das wohl ist? Erstaunlicherweise dauert es wirklich einen Moment, ehe ich begreife. Das bin ich. Kristian Olof Erik Gidlund. Evas jüngster Sohn, Papas Krille.

Ich habe scharfe Gesichtszüge. Eine gerade Nase. Wie eine Linie. Außerdem ist sie ziemlich groß. Ein echter Zinken. Ich habe schon mal gesagt bekommen, sie sehe jüdisch aus  falls eine Nase überhaupt jüdisch aussehen kann. Meine Wangenknochen stechen heraus. Deutlich. Irgendwie selbstsicher. Wenn ich die Zähne zusammenbeiße und mir einbilde, meine Augen seien dunkler, als sie tatsächlich sind, dann habe ich ein russisches Killerface. Ehrlich. Das ist doch schon mal was, finde ich.

Seit meiner Geburt habe ich nicht so kurze Haare gehabt. Und womöglich waren sie selbst damals länger. Muss Mama fragen. Jetzt sehe ich aus wie die Mischung aus einem Crystal-Dealer und einem Statisten aus This Is England oder einer Nebenrolle in einem der besseren Science-Fiction-Filme meines Freundes Anders.

Ich fahre mit einer Hand über Nacken, Kopf und Stirn, dann über das Gesicht mit der jüdischen Nase. Dann streiche ich über die blasse Brust, an der Narbe vorbei, über die Rippen und den Bauch, der immer noch mir gehört. Ab Juli wird er anders sein. Eine Grenzlinie wird ihn zeichnen. Er wird geteilt sein. Eine dreißig Zentimeter lange Narbe wird sich wie eine Ziellinie von den Rippen, die ich eben befühlt habe, über den Nabel nach unten ziehen. Wie eine Ziellinie für meinen Sieg, meinen ganz persönlichen Sieg, das hoffe ich. Mein Körper, dann darfst du ausruhen.

Heute höre ich Love is all meines Freundes. Wieder und wieder.
Allerliebster Junge

Es zehrt an mir. Das Wissen um meinen Krebs. Ich bin erschöpft. Erschöpft vom Denken. Erschöpft vom bloßen Sein. Ich fühle mich außen vor. Ich bin ein angefahrener Fuchs, der sich von der Straße schleppt, über das Feld, weg von dieser komischen Sache, die ihn da in die Mangel genommen hat. Und ich habe so viele starke Gefühle in mir. Die ganze Zeit. Wut, Freude, Sorge, Rastlosigkeit, Neugier, Enttäuschung.

Auf das hier war ich nicht gefasst.

Ich schlafe schlecht. Wache ornithologisch früh auf. Abends schwächele ich. Aber am meisten zehrt, dass ich gegen meinen Willen plötzlich gezwungen bin, alt zu werden. Plötzlich so alt. Ich gehe mit der Information über eine tödliche Krankheit um, die in mir wächst. Ich treffe Entscheidungen, die meine Gesundheit für den Rest meines Lebens beeinflussen können. Ich bin gezwungen, mit der Erkenntnis zu leben, dass ich vielleicht nicht das Leben werde leben können, das ich mir gewünscht habe. Das, worauf ich mich vorbereitet habe. Das ich erwartet, mit dem ich gerechnet habe. Vielleicht werde ich nicht so lange leben, wie ich gehofft hatte.

Die Gedanken sind härter. Der Tod bedeutet jetzt etwas anderes. Er ist konkreter, wie echt. Die Schwärze lastet schwerer.

Ich bin gezwungen worden, alt zu werden. Oder älter, auf eine andere Weise. Gleichzeitig bin ich mir nie kleiner vorgekommen. Wie ein kleiner Junge, der geweckt und in die Dunkelheit rausgeschickt wurde. Der in der Nacht durch einen Wald gehen muss, in dem auf der linken Seite ein Nebel aufzieht. Ein Wald, in dem Wölfe mit roten Augen lauern.

Jetzt grade ist so ein Moment, in dem ich nur ein kleiner Junge bin.

Ich werde mich jetzt ausruhen. Ausruhen und...
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