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Einen solchen Himmel im Kopf

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
Aufbau Verlage GmbHerschienen am13.07.20121. Auflage
Eine Heilige im Hinterland. 'Das Wunder ist für die Anderen bestimmt, nicht für die Heiligen, die brauchen es nicht mehr, die glauben bereits, und deswegen kommt das Wunder für sie meist zu spät.' - Dass sie ihren Kopf ziemlich weit oben trage, fanden die Alten. Sie sei begabt aber auch gefährdet, meinten die Lehrer. Den pöbelnden Jungs im Zug schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht und zu Hause klebte sie Heiligenbilder in ein Heft. Und heute? Zehn Jahre später sitzt Johanna hinter einem Schreibtisch der örtlichen Krankenkasse, Thermoskanne und Pausenbrot neben sich, und schaut nur kurz auf, als ihre ehemals beste Freundin Annemut den Raum betritt. Was ist nur aus Johanna geworden? Annemut versucht zu verstehen. Sie erinnert sich an den Sommer im Gartenhaus, die gemeinsamen Ausgehnächte und jene Morgendämmerung, in der sie dabeistanden und zusahen, wie die verrufene Pension Malinowski niederbrannte. Erklärungen findet Annemut nicht, doch eine Frage wird dringlicher: Was ist eigentlich aus mir geworden?

Stephanie Gleißner wurde 1983 in Garmisch-Partenkirchen geboren und ist in Mittenwald aufgewachsen. Studium der Literatur- und Religionswissenschaft in Tübingen und Kapstadt. Sie war Finalistin des Open Mike 2008 und wurde 2010 ausgewählt für den Literaturkurs der 'Tage der deutschsprachigen Literatur' in Klagenfurt. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
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Verfügbare Formate
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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR6,99

Produkt

KlappentextEine Heilige im Hinterland. 'Das Wunder ist für die Anderen bestimmt, nicht für die Heiligen, die brauchen es nicht mehr, die glauben bereits, und deswegen kommt das Wunder für sie meist zu spät.' - Dass sie ihren Kopf ziemlich weit oben trage, fanden die Alten. Sie sei begabt aber auch gefährdet, meinten die Lehrer. Den pöbelnden Jungs im Zug schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht und zu Hause klebte sie Heiligenbilder in ein Heft. Und heute? Zehn Jahre später sitzt Johanna hinter einem Schreibtisch der örtlichen Krankenkasse, Thermoskanne und Pausenbrot neben sich, und schaut nur kurz auf, als ihre ehemals beste Freundin Annemut den Raum betritt. Was ist nur aus Johanna geworden? Annemut versucht zu verstehen. Sie erinnert sich an den Sommer im Gartenhaus, die gemeinsamen Ausgehnächte und jene Morgendämmerung, in der sie dabeistanden und zusahen, wie die verrufene Pension Malinowski niederbrannte. Erklärungen findet Annemut nicht, doch eine Frage wird dringlicher: Was ist eigentlich aus mir geworden?

Stephanie Gleißner wurde 1983 in Garmisch-Partenkirchen geboren und ist in Mittenwald aufgewachsen. Studium der Literatur- und Religionswissenschaft in Tübingen und Kapstadt. Sie war Finalistin des Open Mike 2008 und wurde 2010 ausgewählt für den Literaturkurs der 'Tage der deutschsprachigen Literatur' in Klagenfurt. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783841200716
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum13.07.2012
Auflage1. Auflage
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1192075
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
1.

Ich werde zurückkehren. Natürlich nur zu Besuch, ein paar Tage, aber auch das erst nach einigen Jahren, in denen ich mich so verändert haben werde, dass sie mich nicht sofort wiedererkennen. Ich werde es nicht zulassen, dass sie mich nicht wiedererkennen. Ich werde stehenbleiben vor ihren Gartenzäunen, und auch vor den Bänken der Alten vor der Kirche werde ich stehen und ihnen ins Gesicht schauen und den Blick nicht abwenden. Ich werde zuschauen, wie es in ihren Köpfen zu rattern beginnt, wie sie denken: Das Gesicht kenne ich doch irgendwoher, und in dem Moment, wo ich sehe, dass sie das denken, werde ich glasklar mit einer Stimme und Miene, die ich jetzt noch nicht zustande bringe, die ich mir aber bis dahin angeeignet haben werde, sagen: »Guten Tag«, und dahinter ein Herr oder Frau und die jeweiligen Namen setzen, die richtigen Nachnamen, nicht die Hausnamen, denn die werde ich bis dahin vergessen haben, aber ihre offiziellen Namen werde ich ablesen von den Schildchen an den Gartentoren. Es ist wichtig, dass ich »Guten Tag« sage, Hochdeutsch, kein Dialekt, nicht die Spur eines Dialekts. Alle Wörter werden ganz sauber klingen. Und dann gehe ich weiter und wiederhole das Ganze am nächsten Haus, am nächsten Gartenzaun.

Ich werde an einem Sonntag im Frühling zurückkehren, am späten Vormittag, wenn die Männer sich nach der Kirche im Biergarten besaufen. Ich werde an ihnen vorbeigehen und meinen Schritt nicht beschleunigen, nicht so wie jetzt, Johanna, ich werde ihnen direkt ins Gesicht schauen. Sie werden sagen: Das sind doch alles dieselben Banditen, sie werden sagen, dass sie da die Hand nicht umdrehen, und sich dabei über ihre Gläser beugen, Bierschaum in Bärten und Mundwinkeln. Doch wenn ich zurückkehre und an ihnen vorübergehe und ihnen direkt ins Gesicht schaue, werden sie verstummen mitten im Satz. Schweigen. Keine widerliche Bemerkung, kein Hinterherpfeifen. Wenn ich jetzt an ihnen vorübergehe, reden sie über mich. Sie senken noch nicht einmal ihre Stimme, aber dann, wenn ich zurückkehre und an ihnen vorübergehe, werden sie schweigen.

Johanna hatte, wie es ihre Art war, den Kopf zur Seite geneigt, den Blick, um durch nichts Äußeres abgelenkt zu werden, schräg auf den Boden gerichtet wie eine alte Person, die schlecht hört und sich deshalb so auf die Akustik konzentrieren muss, dass sie über die Bedeutung der Laute erst später nachdenken kann. Johanna verlangsamte dann auch noch ihren Schritt, während ich das Bedürfnis hatte, schneller zu gehen, um mit meinen Worten und Sätzen mithalten zu können. Als ich ausgesprochen hatte, blieb sie stehen: »Ich glaube nicht, dass es so sein wird«, sagte sie, »ich glaube, dass hier immer alles gleich bleiben wird.« Mehr sagte sie nicht.

Johanna sagte selten mehr als drei Sätze am Stück. Sie war nicht schüchtern. Sie war hochmütig. Sämtliche Bekundungen von Individualität, wie sie für Pubertierende üblich sind, widerten sie an. Sie belächelte die Mädchen auf dem Pausenhof, die in Gruppen zusammenstanden, dümmlich und so selbstverständlich wie grasende Tiere. Sie nestelten einander in den Haaren herum und kultivierten eine aufdringliche Art der Innerlichkeit. Sie sprachen lautstark über IHRE Gefühle und IHRE Gedanken, sie deuteten ihre oftmals auch nur erfundenen Träume mit einer Ernsthaftigkeit, die mich rührt und erschüttert, wenn ich sie heute im Supermarkt an der Kasse sitzen sehe oder im Sonntagsstaat einer Provinzmutter den Kinderwagen schiebend, der Mann beim Frühschoppen oder fünf Schritte voraus, aber nie neben ihnen, diese Mädchen, die einmal von ihren nächtlichen Träumen gesprochen hatten, als seien sie Goldklumpen, die, versehentlich zutage gefördert, kurzzeitig die Hoffnung auf eine ganze Goldader, ein Innenleben geschürt hatten. Sie hatten tatsächlich geglaubt, der Eintönigkeit ihres Schülerdaseins zu entkommen, wenn sie ihre Federmäppchen und Schultaschen mit Edding beschmierten, ihre Füße in Doc Martens einschnürten und sich die Haare mit immer neuen Farben ruinierten. Die Eltern zeigten Verständnis, fühlten sich an ihre eigene Schulzeit erinnert. Sie sagten, dass das die schönste Zeit gewesen sei.

Johanna begann ihre Sätze mit »Es« und »Man«. Sie sagte nicht »Ich«. Wenn sie gezwungen war, im Deutschunterricht einen Beitrag zu den leidigen Pro-und-contra-Diskussionen zu liefern, die uns gegen Ende der Mittelstufe zu kritisch denkenden Menschen erziehen sollten, sprach sie sehr langsam. Sie bastelte dann bedächtig an umständlichen Passivkonstruktionen, um die so beliebt gewordenen Satzanfänge »Ich denke«, »Ich glaube«, »Ich meine« zu umgehen. Ihr zuzuhören war anstrengend, selbst die Lehrer waren versucht, ihr das Wort abzuschneiden oder einen Satz für sie zu Ende zu bringen. Es wurde laut im Klassenzimmer, sie blieb ruhig, setzte sogar neu an, wenn ihr während des Sprechens eine bessere Formulierung einfiel. Sie sprach wie unter einem Glassturz, isoliert, nur für sich selbst. Unverhohlen demonstrierte sie Überlegenheit. Die anderen ließen sie in Ruhe. Sie drangsalierten sie nicht. Sie spürten, dass Johanna völlig unabhängig von den Erwartungen der erlesenen Gruppe ihrer Sympathisanten einen Plan hatte, dass ihr Verhalten, ihr Handeln und Reden sich an etwas orientierten, von dem nur sie wusste und das alle anderen ausschloss.

Mir gefiel ihre Verschlossenheit. Ich beobachtete sie, studierte ihr Repertoire an Blicken, ihr Stirnrunzeln und Augenbrauenhochziehen. Wir freundeten uns an. Wir waren ein komisches Paar; ich immer fünf Schritte voraus mit großen, fahrigen Bewegungen und redend, ständig redend. Und sie? Gelassen, schweigend, manchmal ein Grinsen, öfter ein höhnisches Lachen und sehr selten ein Lächeln, mit dem sie Züge anhielt, ein Lächeln, bei dessen Anblick den Schaffnern die Pfeife von den Lippen rutschte.

Johanna kam morgens bei uns vorbei und holte mich ab. Sie stand im dunklen Flur, ihr Körper war nur in Umrissen zu erkennen, doch ihr Gesicht erhellt. Sie musterte meine müde Gestalt, ich richtete mich auf unter ihrem Blick, wollte gefallen. Sie grinste: die Absätze, die aufwendig geschminkten Augen, der schmale Mantel, in dem ich nur kleine Bewegungen machen konnte - so viel Eitelkeit! Sie packte meine Hand, stieß die Tür auf und zog mich hinaus in den Morgen, in die Föhnwinde, über das Kopfsteinpflaster vor der Kirche. Wir rannten. Nach einigen Minuten der Rausch, wenn das Blut in den Kopf schießt, kurz und überwältigend. Dann ließ Johanna meine Hand los und beschleunigte. Sie sprintete, ich konnte nicht mehr mithalten, fiel zurück, sie verschwand im Durchgang zu den Gleisen. Der Pfiff des Schaffners, das Piepsen, bevor die Türen schließen, Johanna hing an einer dieser Türen, verhinderte, dass sie sich schloss, der Schaffner kam angelaufen, sie grinste auch ihn an, und ehe er sie erreichte, war ich schon bei ihr, verschwitzt, sie packte meine Hand und zog mich die drei Stufen hoch ins Innere.

Bevor ich mich mit Johanna angefreundet hatte, war mir von ein paar Mädchen aus der Parallelklasse immer ein Sitzplatz freigehalten worden. Johanna war damals allein durch die vollen Gänge gestakst, doch sie wurde nicht wie die anderen Schüler, die keinen Platz mehr gefunden hatten und deswegen im rechtsfreien Raum der Gänge und Zwischenabteile standen, mit Pausenbrot beworfen oder durch gezielte Attacken in die Kniekehlen zu Fall gebracht. Man ließ sie auch hier in Ruhe. Nur einmal hatte ein Zehntklässler ihr Mandarinenschalen hinterhergeworfen, die sie allerdings verfehlten und vor ihr auf dem Boden landeten. Johanna hatte sich langsam umgedreht, war auf den Jungen zugegangen, hatte ihn einige Sekunden lang ruhig angeblickt, die Freunde des Jungen johlten, dann hatte sie die Hand gehoben und sie ihm flach ins Gesicht geklatscht. Danach war sie ohne Hast weitergegangen, in sich gekehrt, beinahe verträumt, als würde sie im Frühling unter blühenden Bäumen spazieren. Wenige Wochen später war ich ihre Freundin geworden. Ich kämpfte mich mit ihr durch die Gänge auf der Suche nach einem Zwischenabteil, in dem wir, die Hefte gegen die vibrierende Wand gedrückt, stehend unsere Hausaufgaben machten.

Es kam nie heraus, wer Karl Rieder so zugerichtet hatte. Er hatte sich geweigert, Auskunft zu geben, und man hatte ihn dann auch nicht weiter bedrängt, denn im Grunde wollte man es auch nicht wissen, und der stotternde Karl Rieder, redete man sich heraus, war auch so schon gestraft genug, man musste ihn nicht auch noch mit Reden plagen. Mich hatte diese Gleichgültigkeit aufgeregt. »Das geht doch nicht«, hatte ich zu Johanna gesagt, »dem muss nachgegangen werden, auch wenn er das vielleicht nicht will, was ich nicht glaube. Und auch wenn, das geht doch nicht nur ihn was an, wenn einer so zugerichtet wird.«

»Ja, und genau deswegen will man es auch nicht so genau wissen«, sagte Johanna.

Wir hatten Karl Rieder gefunden, weit hinten auf den wackligen Anschlussblechen zwischen zwei Waggons. Er kauerte vornübergebeugt auf den eingelassenen Stufen. Wir erkannten ihn an seinem khakifarbenen Bundeswehrparka, der bis zur Kapuze hinauf mit Schneematsch vollgesogen war. Er wippte leicht vor und zurück. Johanna fiel, ohne zu zögern, ohne ihn vorher angesprochen zu haben, neben ihm auf die Knie. Sie drückte ihre Knie in den zentimeterdicken Schneematsch, umfasste mit einem Arm seine Schultern, mit der anderen Hand strich sie ihm über das Haar. Es war unangenehm, die beiden zu betrachten, die Intimität von Johannas Gesten beschämte mich. Sie zog seinen Kopf zurück. Er wandte ihr das Gesicht zu - von der Augenbraue quer über die Stirn eine Wunde. Blut lief ihm über die rechte Schläfe und Wange, seine Oberlippe war...
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Autor

Stephanie Gleißner wurde 1983 in Garmisch-Partenkirchen geboren und ist in Mittenwald aufgewachsen. Studium der Literatur- und Religionswissenschaft in Tübingen und Kapstadt. Sie war Finalistin des Open Mike 2008 und wurde 2010 ausgewählt für den Literaturkurs der "Tage der deutschsprachigen Literatur" in Klagenfurt. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
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Gleißner, Stephanie