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Tanz zwischen zwei Welten

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
350 Seiten
Deutsch
Ullstein Taschenbuchvlg.erschienen am31.05.2021Auflage
Eine junge Frau zwischen zwei Welten: Wo gehöre ich hin? Wo ist mein Zuhause?  Wana, eine junge Frau Anfang vierzig, ist als Kind mit ihren Eltern aus Kabul geflohen, und eigentlich glücklich mit ihrem Leben: Mit Freund Alexander und Sohn Leo wohnt sie in Berlin und hat einen guten Job. Dass ihre Großfamilie mit all ihren Erwartungen im fernen Ruhrpott wohnt, hat sie bisher alles andere als gestört. Das ändert sich, als Wana einen schweren Autounfall hat und von ihrer Familie gepflegt werden muss. Eine Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit ist unausweichlich, ein Leugnen ihrer Herkunft nicht mehr möglich. Immer präsent ist die Frage: Wo gehöre ich hin und wo ist mein Zuhause?

Mariam T. Azimi ist 1975 in Kabul geboren und im Alter von sechs Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland geflohen. In Bochum und Kairo studierte sie Islamwissenschaften, Orientalische Philologien und Pädagogik. Mariam T. Azimi arbeitet im Auswärtigen Amt und lebt mit ihrer Familie in Berlin.
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Produkt

KlappentextEine junge Frau zwischen zwei Welten: Wo gehöre ich hin? Wo ist mein Zuhause?  Wana, eine junge Frau Anfang vierzig, ist als Kind mit ihren Eltern aus Kabul geflohen, und eigentlich glücklich mit ihrem Leben: Mit Freund Alexander und Sohn Leo wohnt sie in Berlin und hat einen guten Job. Dass ihre Großfamilie mit all ihren Erwartungen im fernen Ruhrpott wohnt, hat sie bisher alles andere als gestört. Das ändert sich, als Wana einen schweren Autounfall hat und von ihrer Familie gepflegt werden muss. Eine Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit ist unausweichlich, ein Leugnen ihrer Herkunft nicht mehr möglich. Immer präsent ist die Frage: Wo gehöre ich hin und wo ist mein Zuhause?

Mariam T. Azimi ist 1975 in Kabul geboren und im Alter von sechs Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland geflohen. In Bochum und Kairo studierte sie Islamwissenschaften, Orientalische Philologien und Pädagogik. Mariam T. Azimi arbeitet im Auswärtigen Amt und lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783843724203
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum31.05.2021
AuflageAuflage
Seiten350 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3179 Kbytes
Artikel-Nr.5452311
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Kapitelâ1

13. August 1983

Kindheit

Der Granatapfelbaum war Wanas Lieblingsplatz. Er stand im Garten ihrer Eltern und war genauso alt wie sie selbst, ihr Vater hatte ihn zu ihrer Geburt pflanzen lassen. Sie liebte den Baum aber nicht nur deswegen, sondern auch, weil er so ganz anders war als die anderen Bäume: Rot im Frühling, grün im Sommer, und erst im Herbst passten sich seine Blätter dem goldgelben Spiel der anderen Bäume an.

Was Wanas Granatapfelbaum vor allem auszeichnete, war seine Lage neben dem Tor in der Mauer, die Wanas Elternhaus umgab. Unter ihm liegend, konnte Wana einen raren Blick in die Welt außerhalb des Gartens werfen. Wana hatte die Mauer noch nie gemocht und nie verstanden, wovor sie sie eigentlich schützen sollte. Sie fand die Welt da draußen nicht bedrohlich, sondern verführerisch und aufregend. Sie hatte hier und da einen Blick darauf erhascht, wenn sie früher ihre Mutter auf den Markt begleitet hatte, und Wana wünschte sich sehr, alles wäre wie früher. Aber seit »die Russen« da waren, hatte sich vieles geändert. Boba ging nicht mehr arbeiten, Modar nicht mehr auf den Markt, und Wana konnte das Haus und den Garten kaum noch verlassen. Nur ihre Schwester ging noch regelmäßig außer Haus, um die Schule zu besuchen. Aber sie erzählte Wana selten, was sich draußen abspielte. Nila war drei Jahre älter als sie und kam sich sehr erwachsen vor. Sobald sie von der Schule nach Hause kam, ging sie zu Modar, saß mit den Frauen zusammen, und es war unter ihrer Würde, mit Wana zu spielen oder sich von ihr ausfragen zu lassen. So war Wana nur noch das Tor geblieben und die wenigen Menschen, die über die Schwelle traten und ein bisschen von der Welt da draußen mitbrachten. Wana fand die Angst vor »den Russen« übertrieben, so viele konnten es ja nicht sein, wenn man sie kaum zu Gesicht bekam. Sie brannte darauf, »einen Russen« zu sehen, und bezweifelte manchmal, dass es sie wirklich gab. Die Männer, die Boba letzte Woche besucht hatten, hatten alle wie Afghanen ausgesehen und wie Afghanen gesprochen. Als sie wieder gegangen waren, verbot Boba ihr, am Tor »herumzulungern«, und er ließ sich auf keine von Wanas Fragen nach »den Russen« oder dem genauen Grund des Verbots ein. Seitdem saß sie unter ihrem Baum und beobachtete alles aus sicherer Entfernung und war gar nicht mehr so unglücklich wie noch vor ein paar Tagen, denn es hatte sich herausgestellt, dass der Baum einen ungeahnten Vorteil hatte: Die meisten Menschen, die durch das Tor in den Garten traten, beachteten ihn nicht. Sie schenkten weder dem Baum noch Wana Aufmerksamkeit, weil sie sich gern von den üppigen weißen Rosensträuchern, die den Weg vom Tor zum Haus säumten, ablenken ließen. Oder von dem satten Rasen, auf dem niemand laufen durfte, ohne sich mit dem Gärtner anzulegen. Die meisten Blicke zog aber das zweistöckige weiße Haus auf sich, das sich rechts vom Granatapfelbaum befand. Die Menschen waren vorhersehbar: Auf ihrem Weg zum Haus bewunderten sie die Rosen, beim Haus angekommen, stiegen sie mit offenem Mund auf die Veranda und übersahen Wana, die nur wenige Meter entfernt ausgestreckt im Gras lag. Als wäre sie unsichtbar. Selbst die Gäste, die nicht ins Haus durften und auf der Veranda warten mussten, bemerkten sie zumeist nicht, obwohl sie den ganzen Garten im Blick hatten. Nicht jeder durfte zu den Frauen ins Haus. Alle Männer, die nicht zur Familie gehörten - Modars Stoffhändler oder auch entfernte, arme Verwandte, die sich für die monatliche Ration an Reis, Öl und Mehl bedanken wollten, die Boba ihnen zukommen ließ -, setzten sich auf die Veranda, die mit Teppichen und Sitzkissen ausgelegt war. Im Winter wurden sie in den Wintergarten hinter das Haus geführt. Wana beobachtete sie aus ein paar Metern Entfernung und war abgestoßen und fasziniert zugleich. Was Menschen machten, wenn sie dachten, sie wären allein! Sie pfiffen, sangen, lachten vor sich hin. Manche kratzten sich im Schritt, popelten, führten Selbstgespräche oder stopften sich die Taschen mit den Nüssen und Trockenfrüchten voll, die der Koch zum Tee serviert hatte. Andere hingegen nahmen nichts davon, obwohl ihre Augen immer wieder sehnsüchtig zu den vollen Schalen glitten.

Auch an diesem Sommernachmittag saß Wana unter ihrem Baum auf der Schaukel und beobachtete zwei Papierdrachen, die am Himmel ihre Kreise drehten. Sie hatte die Drachen vermisst. Früher hatten die Jungen in der Nachbarschaft jeden Nachmittag Drachen steigen lassen, aber seitdem »die Russen« in ihren lauten Hubschraubern tief über die Dächer flogen, war vielen Nachbarskindern das Drachensteigen verboten worden. Zumindest hatte das Boba so erklärt. Wana fragte sich, welche zwei Jungs heute Ärger kriegen würden, weil sie das Verbot missachteten.

Der Duft von Kabob kroch Wana in die Nase. Ihre Eltern erwarteten Besuch, der Onkel, Bobas Bruder, war schon da. Boba hatte Wana hinausgeschickt, als Onkel Wali gekommen war. Das und die Tatsache, dass er ohne Frau und Kind gekommen war, machten Wana erst recht neugierig. Und glücklicherweise blieb ihr älterer Cousin ihr heute erspart. Er war gemein und behandelte Wana wie ein Baby, seit er zur Schule ging. Wana konnte es kaum erwarten, nach dem kommenden Winter auch endlich zur Schule zu gehen. Die Vorstellung, dass sie jeden Tag diese Mauern verlassen und ganz frei, erwachsen und allein zur Schule gehen würde, machte sie fast schwindelig. Aber als ihr einfiel, dass sie dann die Vormittage nicht mehr mit Boba würde verbringen können, wurde ihre zuvor bedingungslose Vorfreude etwas getrübt. Wana überlegte und konnte sich nicht entscheiden, was sie besser fand: zur Schule zu gehen oder ganz allein mit Boba zu sein. Seit seiner Rückkehr aus dem »Urlaub« ging er nicht mehr arbeiten und hatte plötzlich so viel Zeit wie noch nie. Als Boba am Ende des letzten Herbstes plötzlich weg gewesen war und Modar behauptet hatte, Boba sei verreist, hatte Wana ihr von Anfang an nicht geglaubt. Modar hatte mit verheulten Augen dagesessen und behauptet, Boba müsse sich »erholen« und sie wisse nicht, wann er genau zurückkomme. Und er sah auch ganz und gar nicht erholt aus, als er im darauffolgenden Frühjahr abgemagert und fiebrig zurückgekehrt war. Wana wusste, dass etwas Schlimmes passiert war, aber niemand sagte ihr etwas, egal, wen sie fragte. Wana war neugierig, aber viel mehr beschäftigte es sie, dass es Boba offensichtlich nicht gut ging. Er war still und lachte nicht mehr sein dröhnendes Lachen. Er tat ihr unendlich leid, und nachts quälte sie ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich darüber freute, dass er sie am nächsten Morgen wecken und dann den ganzen Vormittag mit ihr verbringen würde, als wäre es ein Feiertag. Er war nicht mehr so lebhaft wie vor seiner Reise, aber dafür war er fast anhänglich. Wana nahm sich jede Nacht vor dem Einschlafen vor, ihn am nächsten Tag genauso glücklich zu machen, wie sie sich fühlte. Sie war sich aber nicht sicher, ob ihr das schon jemals gelungen war.

Plötzlich knallte die Verandatür, und Wana hörte ihren Onkel »Verräter!« schnauben.

Sie ließ sich leise von der Schaukel hinuntergleiten und schlich zur Hauswand, um besser sehen und hören zu können. Wana sah, wie ihr Onkel sich hinhockte, hastig einen Schuh anzog und wütend vor sich hin murmelte.

Erneut ging die Verandatür auf, und Boba kam herausgestürzt. Er hockte sich vor Onkel Wali hin, aber dieser würdigte ihn keines Blickes und wollte seinen anderen Schuh ergreifen.

Boba war schneller, nahm den Schuh an sich und sagte flehentlich:

»Bitte bleib. Geh nicht. Bitte lass uns nach dem Essen in Ruhe reden.«

Onkel Wali sah ihn verächtlich an und riss an seinem Schuh, doch Boba ließ ihn nicht los, presste ihn mit beiden Händen an die Brust. Wana hielt den Atem an. Was war hier los? Wieso machte sich Boba so klein? Wana wünschte, er würde aufhören, an dem Schuh zu zerren. Und endlich tat er das auch. Onkel Wali zog sich ungeduldig seinen Schuh an und stand auf. Boba blieb mit hängendem Kopf sitzen.

»Wenn das alle so machen würden, dann gäbe es uns nicht.« Ihr Onkel zeigte wütend auf den Garten und das Haus. »Dann gäbe es das hier alles nicht.«

Boba blickte zu Boden. Wana wäre am liebsten zu ihm gegangen und hätte ihn umarmt, ihn getröstet. Aber das traute sie sich nicht. Onkel Wali schaute auf Boba hinunter, der zu ihm aufsah und dabei den Kopf einzog wie ein schuldbewusstes Kind, das Schläge erwartet.

»Bitte geh nicht so; lass mich nicht ohne einen Abschied gehen. Bitte, Lala«, sagte er mit brüchiger Stimme.

Boba so verzweifelt, ihn in dieser Position zu sehen, während Onkel Wali so unerbittlich blieb, war mehr, als Wana ertragen konnte. Ihr Kinn fing an zu zittern, und sie schlug sich die Hand vor den Mund.

»Geh, wenn du gehen willst, aber erwarte nicht, dass ich dir eine gute Reise wünsche, während wir anderen dafür kämpfen, dass du vielleicht zurückkehren kannst!«, sagte Onkel Wali und zeigte mit dem Finger auf den Boden zwischen sich und Boba.

Wana durchfuhr es kalt, und ihre Gedanken fingen an, wild durcheinanderzuwirbeln: Zurückkehren? Von wo zurückkehren?

Da...
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Autor

Mariam T. Azimi ist 1975 in Kabul geboren und im Alter von sechs Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland geflohen. In Bochum und Kairo studierte sie Islamwissenschaften, Orientalische Philologien und Pädagogik. Mariam T. Azimi arbeitet im Auswärtigen Amt und lebt mit ihrer Familie in Berlin.
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