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Zeit der Nordwanderung

Roman aus dem Sudan
Lenos Verlagerschienen am01.07.2014
Mit großer Sprachkraft und formaler Raffinesse beschreibt Salich das Aufeinanderprallen zweier Kulturen. Schauplatz des Romans ist ein kleines Dorf am Nil, eine archaische Welt mit jahrtausendealten überlieferten Werten. Der Fluss ist die nährende und die todbringende Kraft. Seit fünf Jahren lebt Mustafa Said, der gutaussehende 50-jährige 'Fremde', dort. Niemand kennt seine Geschichte, inzwischen ist er jedoch akzeptiert, ja geschätzt und mit einer Frau aus dem Dorf verheiratet. Doch eines Tages holt ihn seine Vergangenheit ein, und er gibt einem jungen Mann, der soeben seine Studien in England beendet hat, sein Geheimnis preis. Im Vertrauen erzählt er ihm von seiner 'Nordwanderung', die ihn über Kairo nach London führte, von seiner glänzenden akademischen Karriere, seiner ersten Ehe, seinen erotischen Abenteuern, die allesamt tragisch endeten. 2001 wurde 'Zeit der Nordwanderung' von der Arabischen Literaturakademie in Damaskus zum wichtigsten arabischen Roman des 20. Jahrhunderts erklärt.

Tajjib Salich, geboren 1929 im Norden des Sudan. Nach Studien in Khartum und London arbeitete er viele Jahre beim arabischen Dienst der BBC, danach als Berater bei der UNESCO. 'Zeit der Nordwanderung', sein erster Roman, machte ihn über Nacht berühmt und wurde zum Kultbuch der arabischen Intellektuellen. Die Werke - Romane und Erzählungen - des bis zuletzt in London lebenden Schriftstellers wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt. Tajjib Salich starb 2009 in London.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR18,00

Produkt

KlappentextMit großer Sprachkraft und formaler Raffinesse beschreibt Salich das Aufeinanderprallen zweier Kulturen. Schauplatz des Romans ist ein kleines Dorf am Nil, eine archaische Welt mit jahrtausendealten überlieferten Werten. Der Fluss ist die nährende und die todbringende Kraft. Seit fünf Jahren lebt Mustafa Said, der gutaussehende 50-jährige 'Fremde', dort. Niemand kennt seine Geschichte, inzwischen ist er jedoch akzeptiert, ja geschätzt und mit einer Frau aus dem Dorf verheiratet. Doch eines Tages holt ihn seine Vergangenheit ein, und er gibt einem jungen Mann, der soeben seine Studien in England beendet hat, sein Geheimnis preis. Im Vertrauen erzählt er ihm von seiner 'Nordwanderung', die ihn über Kairo nach London führte, von seiner glänzenden akademischen Karriere, seiner ersten Ehe, seinen erotischen Abenteuern, die allesamt tragisch endeten. 2001 wurde 'Zeit der Nordwanderung' von der Arabischen Literaturakademie in Damaskus zum wichtigsten arabischen Roman des 20. Jahrhunderts erklärt.

Tajjib Salich, geboren 1929 im Norden des Sudan. Nach Studien in Khartum und London arbeitete er viele Jahre beim arabischen Dienst der BBC, danach als Berater bei der UNESCO. 'Zeit der Nordwanderung', sein erster Roman, machte ihn über Nacht berühmt und wurde zum Kultbuch der arabischen Intellektuellen. Die Werke - Romane und Erzählungen - des bis zuletzt in London lebenden Schriftstellers wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt. Tajjib Salich starb 2009 in London.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783857875830
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum01.07.2014
Seiten191 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3004
Artikel-Nr.2994782
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
1

Nach langer Abwesenheit, meine Herren - nach genau sieben Jahren, die ich in Europa studierte - kehrte ich heim zu meinen Angehörigen. Vieles hatte ich gelernt, und vieles nicht begriffen, aber das ist eine andere Geschichte. Wichtig ist: Ich kehrte zurück, mit grossem Heimweh nach meiner Familie in jenem kleinen Dorf an der Nilbiegung. Sieben Jahre hatte ich mich nach ihnen gesehnt, von ihnen geträumt, und als ich zu ihnen kam, war es schon ein seltsames Gefühl, mich tatsächlich mitten unter ihnen zu befinden. Sie freuten sich, mich zu sehen, und lärmten um mich herum, und es dauerte gar nicht lange, da war mir zumute, als schmelze ein Eisblock in meinem Innern, als sei ich am Erfrieren gewesen und die Sonne schiene warm auf mich herab. Es war die Lebenswärme in der Sippe, die ich so lange Zeit in Ländern vermisst hatte, wo die Fische vor Kälte sterben . Ihre Stimmen waren meinen Ohren wohlbekannt, ihre Gestalten meinen Augen vertraut. So oft hatte ich in der Ferne an sie gedacht, dass ich sie im ersten Moment des Wiedersehens wie durch einen Nebel wahrnahm. Doch der Nebel verging, und ich erwachte am nächsten Tag in meinem gewohnten Bett, in dem Zimmer, dessen Wände die Belanglosigkeiten meines Lebens in der Kindheit und frühen Jugend mitangesehen hatten. Hingegeben lauschte ich dem Wind. Das ist nun, weiss Gott, ein Geräusch, das ich ganz genau kenne; in unserem Dorf klingt es wie fröhliches Geflüster. Wind, der durch die Palmen fährt, säuselt eben anders als Wind, der durch die Weizenfelder streift. Ich hörte das Gurren der Turteltauben, sah durch das Fenster hinaus zu der Palme im Hof unseres Hauses und wusste: das Leben ist noch in Ordnung. Ich betrachtete ihren starken, geraden Stamm, ihre in den Boden geschlagenen Wurzeln, die grünen Wedel, die um ihr Haupt wallten, und spürte Zuversicht. Ich fühlte, dass ich keine Feder im Wind war, sondern, wie diese Palme, ein Wesen mit einer Herkunft, mit Wurzeln und mit einem Ziel.

Meine Mutter brachte den Tee. Mein Vater hatte Gebet und Koranlesung beendet und gesellte sich zu uns. Meine Schwester kam, es kamen meine beiden Brüder, und wir setzten uns zusammen, um Tee zu trinken und miteinander zu plaudern, wie wir es gewohnt waren, seit meine Augen das Leben erblickten. Ja, das Leben ist gut, und die Welt ist unverändert wie eh und je.

Plötzlich erinnerte ich mich, unter denen, die mich begrüsst hatten, ein unbekanntes Gesicht gesehen zu haben. Ich fragte sie nach dem Mann und beschrieb ihn. Mittelgross sei er, annähernd fünfzig oder etwas darüber, sein Haar sei dicht und schon ergraut, einen Bart habe er nicht, und sein Schnurrbart sei ein wenig kleiner als sonst bei den Männern im Ort. Ein gutaussehender Mann.

Das ist Mustafa , sagte mein Vater.

Was für ein Mustafa? War er einer von den Dörflern, die ausgewandert und wieder heimgekehrt waren?

Mein Vater erklärte, Mustafa sei kein Einheimischer, sondern ein Fremder, der vor fünf Jahren hier angekommen sei, eine Farm gekauft, ein Haus gebaut und eine Tochter von Machmûd geheiratet habe; ein in sich gekehrter Mann, viel wüssten sie nicht über ihn.

Ich weiss nicht genau, was mich neugierig machte, aber ich erinnerte mich, dass er am Tag meiner Ankunft recht schweigsam gewesen war. Jeder hatte mich ausgefragt, und ich hatte sie ausgefragt. Sie stellten mir Fragen über Europa: Sind die Leute wie wir oder unterscheiden sie sich von uns? Ist das Leben teuer oder billig? Was machen die Menschen im Winter? Es heisst, die Frauen seien unverschleiert und tanzten in aller Öffentlichkeit mit den Männern. Stimmt es , fragte mich Wadd al-Rajjis, dass sie nicht heiraten, aber Mann und Frau in Sünde zusammen leben?

Fragen über Fragen, die ich beantwortete, so gut ich konnte. Sie waren ganz überrascht, als ich ihnen sagte, die Europäer seien, von geringfügigen Unterschieden abgesehen, genauso wie wir; sie heirateten und erzögen ihre Kinder nach Traditionen und Prinzipien, hätten Anstand und Moral und seien im Grossen und Ganzen gutherzige Leute.

Machdschûb fragte: Gibt es bei ihnen Landwirte?

O ja , antwortete ich, bei ihnen gibt es Landwirte und auch sonst alles. Sie sind Arbeiter, Ärzte, Bauern und Lehrer, genau wie wir. Ich zog es vor, das übrige, was mir dazu noch einfiel, nicht auszusprechen: genauso wie wir werden sie geboren und sterben, und auf der Reise von der Wiege zum Grab hegen sie Träume, von denen sich einige erfüllen und andere scheitern. Sie fürchten sich vor dem Unbekannten, sehnen sich nach Liebe und suchen Geborgenheit bei Weib und Kind. Unter ihnen gibt es Mächtige, und es gibt Unterdrückte, den einen schenkt das Leben mehr, als sie verdienen, und den anderen versagt es alles. Doch die Unterschiede gleichen sich aus, und die meisten Elenden sind gar nicht mehr so elend. All das habe ich Machdschûb nicht gesagt; hätte ich es doch getan, er war gescheit genug. In meinem Dünkel fürchtete ich, er würde es nicht verstehen.

Bint Madschsûb rief lachend: Wir hatten schon Angst, dass du eine unbeschnittene Christin mitbringst!

Nur Mustafa sagte nichts. Er hörte schweigend zu und lächelte manchmal, ein Lächeln, das mir jetzt, in der Erinnerung, geheimnisvoll erscheint, wie wenn einer mit sich selber redet.

Danach vergass ich Mustafa, ich begann meine Beziehung zu den Menschen und Dingen im Dorf wieder neu zu knüpfen. In jenen Tagen war ich glücklich wie ein Kind, das sein Gesicht zum ersten Mal im Spiegel erblickt. Meine Mutter war unermüdlich um mich besorgt. Sie berichtete mir, wer gestorben war, damit ich kondolieren ginge, und teilte mir mit, wer geheiratet hatte, damit ich ihnen gratulierte.

Kondolierend und gratulierend zog ich kreuz und quer durch das Dorf. Eines Tages begab ich mich zu meinem Lieblingsplatz am Stamm einer Gummiakazie am Flussufer. Wie viele Stunden hatte ich in meiner Kindheit unter diesem Baum damit verbracht, Steine in den Fluss zu werfen, vor mich hin zu träumen und meine Phantasie in weite Fernen schweifen zu lassen! Ich lauschte dem Knarren der Wasserräder am Fluss, den Rufen der Leute auf den Feldern, dem Brüllen eines Bullen oder dem Iahen eines Esels. Manchmal hatte ich Glück, und ein Dampfer tuckerte flussauf oder flussab an mir vorbei. Von meinem Platz unter dem Baum aus beobachtete ich, wie sich die Landschaft allmählich veränderte. Die Schöpfräder verschwanden, dann standen Pumpen am Nilufer; jede Maschine leistete die Arbeit von hundert Wasserrädern. Jahr für Jahr sah ich das Ufer unter den Schlägen des Wassers zurückweichen, während sich auf der anderen Seite das Wasser vom Ufer zurückzog. Bisweilen gingen mir seltsame Gedanken durch den Sinn. Wenn ich beobachtete, wie die Ufer an einer Stelle zusammen kamen und an einer anderen auseinander traten, dachte ich bei mir, dass es im Leben genauso sei; mit einer Hand gibt es, mit der anderen nimmt es. Vielleicht habe ich diese Maxime aber erst später begriffen. Heute ist sie mir jedenfalls bewusst, wenn auch nur mit dem Verstand, denn die Muskeln unter meiner Haut sind geschmeidig und fügsam, und mein Herz ist optimistisch. Ich will mir mein Recht vom Leben erzwingen, ich will grosszügig sein, ich möchte, dass mein Herz so voller Liebe ist, dass sie überquillt und Früchte trägt. Es gibt noch viele Horizonte, die aufgesucht werden müssen, es gibt Früchte, die zu pflücken, so viele Bücher, die zu lesen sind, und weisse Seiten im Register des Lebens gibt es, auf die ich klare Sätze mit kühnem Schriftzug eintragen werde! Ich schaue auf den Fluss, dessen Wasser sich vom Nilschlamm zu trüben beginnt - bestimmt hat es in den Abessinischen Bergen in Strömen geregnet -, und hinüber zu den Männergestalten, die sich auf die Pflüge stützen oder über den Feldhacken krümmen. Meine Augen sind erfüllt von den weiten Feldern, die sich wie eine flache Hand bis an den Saum der Wüste erstrecken, wo die Häuser stehen. Ich höre einen Vogel zwitschern, einen Hund bellen oder eine Axt ins Holz schlagen - und ich spüre, dass ich zur Ruhe gekommen bin. Ich fühle, dass ich wichtig bin, von Dauer und Wert. Nein, ich bin nicht der Stein, der ins Wasser geworfen wird, sondern das Samenkorn, das im Feld ausgesät wird. Wenn ich meinen Grossvater aufsuche, erzählt er mir vom Leben vor vierzig Jahren, vor fünfzig, ja sogar vor achtzig Jahren, und ich fühle mich noch geborgener. Ich liebe meinen Grossvater, und anscheinend hat auch er eine Zuneigung für mich. Ein Grund für meine Freundschaft mit ihm ist vielleicht, dass Geschichten über die Vergangenheit meine Phantasie schon von klein auf beflügelt haben, und mein Grossvater redete so gern darüber. Nachdem ich weggegangen war, fürchtete ich, er könne in meiner Abwesenheit sterben. Wenn mich das Heimweh nach meiner Familie packte, sah ich ihn in meinen Träumen. Als ich es ihm erzählte, sagte er lachend: In jungen Jahren hat mir ein Wahrsager prophezeit: wenn ich nur erst einmal das Lebensalter des Propheten überschritten hätte, das heisst sechzig Jahre, dann würde ich die Hundert erreichen! Wir errechneten sein Alter - er und ich - und fanden heraus, dass ihm noch ungefähr zwölf Jahre blieben.

Mein Grossvater erzählte mir gerade von einem despotischen Herrscher, der die Region zur Türkenzeit einst regierte. Ich weiss nicht, weshalb mir Mustafa in den Sinn kam, aber plötzlich fiel er mir ein. Ich werde den Grossvater nach ihm fragen, dachte ich, er weiss ja bei jedem im Dorf über Abstammung und Herkunft bestens Bescheid, sogar über die südlich und nördlich, flussauf und flussab verstreuten Ursprünge und Verwandtschaften. Doch mein Grossvater schüttelte den Kopf und gestand, er wisse nichts weiter von ihm, als dass er aus der Gegend um...
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Autor

Tajjib Salich, geboren 1929 im Norden des Sudan. Nach Studien in Khartum und London arbeitete er viele Jahre beim arabischen Dienst der BBC, danach als Berater bei der UNESCO. "Zeit der Nordwanderung", sein erster Roman, machte ihn über Nacht berühmt und wurde zum Kultbuch der arabischen Intellektuellen. Die Werke - Romane und Erzählungen - des bis zuletzt in London lebenden Schriftstellers wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt. Tajjib Salich starb 2009 in London.