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Klappentext»Fremd im eigenen Land« - so beschreiben viele Sinti ihre Situation im Nachkriegsdeutschland. Die Sinti und Roma, die den Holocaust in Niedersachsen überlebt hatten oder nach Niedersachsen als ihrer alten Heimat zurückgekehrt waren oder hier eine neue Heimat gefunden hatten, erlebten, dass die Diskriminierung und Ausgrenzung durch die Behörden und die Bevölkerung und die oft willkürliche und demütigende Behandlung durch die Polizei und die Ordnungsämter weiter bestand. Erst ab den 1970er Jahren - unterstützt durch die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma und durch das zivilgesellschaftliche Engagement bürgerlicher Gruppen - besserte sich allmählich ihre rechtliche und gesellschaftliche Position, während ihre wirtschaftliche Situation weiterhin prekär blieb.Diese Entwicklung wird am Beispiel der Sinti-Gemeinschaften in Hildesheim, Stade, Braunschweig, Leer und weiteren niedersächsischen Orten nachgezeichnet. Das Buch ist die erste zusammenfassende Darstellung der Geschichte der Sinti und Roma eines Bundeslandes vom Ende der NS-Zeit bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts.
ZusatztextAus dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Niedersachsen waren seit 1940 etwa eintausend Sinti und Roma deportiert worden. Nur etwa jeder Zehnte von ihnen überlebte den Völkermord. Die Zurückgekehrten begannen die mühsame ? und meist vergebliche ? Suche nach Familienmitgliedern. Doch ihre Diskriminierung endete nicht mit dem Tag der Befreiung. Wanderausstellung und der nun vorliegende Begleitkatalog betreten Neuland: Erstmals wird am Beispiel eines Bundeslandes die Nachkriegsgeschichte der Sinti und Roma in (West)Deutschland geschrieben.'Fremd im eigenen Land' ? so bringen noch heute viele Sinti ihre Situation in Deutschland auf den Begriff. Überlebende standen in der unmittelbaren Nachkriegszeit als NS-Verfolgte unter dem Schutz der Besatzungsmächte, was in vielen Schriftstücken deutscher Behörden recht unverblümt beklagt wurde. Nach Gründung der Bundesrepublik entspann sich bis in die 1960er Jahre eine juristische Auseinandersetzung um die Interpretation ihrer Verfolgung im Nationalsozialismus, die für die Fragen einer individuellen Entschädigung ('Wiedergutmachung') höchst praktische Folgen hatte. Urteile bis hinauf zum Bundesgerichthof (BGH) bestritten entweder eine NS-Verfolgung der Sinti und Roma aus 'Gründen der Rasse' oder sahen diese allenfalls ab dem Beginn der Auschwitz-Deportationen am 1. März 1943 als gegeben an. Diese Entscheidungen wurden von Richtern gefällt, die selber verbal (wie wohl auch mental) in der Tradition nationalsozialistischer 'Zigeunerpolitik' standen: Berüchtigt der Spruch des BGH aus dem Jahre 1956, der Sinti und Roma pauschal als 'asozial' und zum Verbrechen neigend qualifizierte und behauptete, ihnen sei 'wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen'. Die Publikation belegt mit vielen persönlichen Beispielen aus Niedersachsen, was diese Fortdauer antiziganistischer Stereotype für die Betroffenen im Kampf mit Ämtern und Gerichten bedeutete.Die gleichen Traditionslinien zeichnet der Band mit vielen Belegen für die Bereiche der Polizei, Gemeinden und Landkreise Niedersachsens nach. Bereits wenige Monate nach der Befreiung von der NS-Herrschaft stößt die Kriminaldirektion Hannover in einem Schreiben an den Oberpräsidenten der Provinz Hannover 'Zigeuner' in bewährter Manier aus der 'Volksgemeinschaft' aus: Ihre gesamte Lebensauffassung, Sitten und Gebräuche liefen denen des 'Gastlandes' völlig zuwider. Diese Politik wurde auf lokaler und regionaler Ebene bis weit in die 1960er Jahre in Form von Diskriminierungen und Schikanen exekutiert, ausgetauscht wurden allenfalls die Begriffe: Aus dem 'Zigeunerproblem' wurde ein 'Landfahrerproblem'. Drei Veranstaltungen ? davon zwei auf dem Gebiet Niedersachsens ? stehen für ein neues gesellschaftliches Klima und den Beginn einer autonomen Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma: Während der Gedenkfeier der Gedenkstätte Bergen-Belsen im Oktober 1979 wurde in Anwesenheit von etwa 500 Sinti und Roma aus ganz Europa an den Völkermord an ihrem Volk erinnert. Hinter der Hauptrednerin und Präsidentin des Europa-Parlaments Simone Veil, selber Überlebende des KZ Bergen-Belsen, war ein Spruchband mit folgender Aufschrift angebracht: 'Schluss mit Polizeirazzien. Ungehinderte Reise für alle Roma'. Im April 1980 traten Sinti auf dem Gelände der Gedenkstätte Dachau in einen unbefristeten Hungerstreik, um u.a. gegen die Weiterverwendung von NS-'Zigeunerakten' durch die bayrische 'Landfahrerzentrale' zu protestieren. Als Vermittler schaltete sich der damalige Bundesjustizminister (und spätere Gründungsvorsitzende von 'Gegen Vergessen ? Für Demokratie') Hans-Jochen Vogel ein. In Göttingen führte der Verband deutscher Sinti gemeinsam mit der Gesellschaft für bedrohte Völker im Mai 1981 den dritten internationalen Welt-Roma-Kongress durch.Ein weiter Teil des Katalogs widmet sich regionalen Schwerpunkten von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart: ausführlicher für Hildesheim und Stade, kürzer für Osnabrück, Leer, Braunschweig und Hannover. Hildesheim wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch Zuzug zu einem Zentrum der Sinti in Niedersachsen. Sehr instruktiv werden an seinem Beispiel die Erfolge, aber auch Dilemmata einer Integrationspolitik beschrieben, die aus kirchlicher Initiative Mitte der 1960er Jahre als 'Zigeunerhilfe' begann: Wie kann u.a. durch Verbesserung der Wohnverhältnisse und der Schul- und Ausbildungssituation die Kluft zur Mehrheitsgesellschaft geschlossen werden, ohne eine besondere Kultur mit ihren Traditionen und Überlieferungen (endgültig) zum Verschwinden zu bringen?Der Katalog bildet die gleichnamige Ausstellung nicht ab, sondern erweitert viele Texte und genügt mit Nachweisen von Zitaten und einer Literaturliste wissenschaftlichen Standards. Vollkommen neu hinzugekommen ist das umfangreiche Kapitel zu Roma in Niedersachsen: 'Eine Minderheit zwischen Duldung und Abschiebung'. Den Beiträgen des Bandes ist anzumerken, dass seine Autoren ihrem Thema nicht äußerlich gegenüber stehen. Ihr Informationsreichtum und insbesondere die hervorragende Ausstattung mit Fotodokumenten oft aus Privatbesitz waren nur möglich durch langjährige und engagierte Kontakte sowohl zu Organisationen als auch mit Familien und Einzelpersonen der niedersächsischen Sinti und Roma. Hinzu kam ? dies zeigt die große Zahl abgedruckter historischer Dokumente ? ein gerüttelt Maß an Archivarbeit.Die dem Katalog beiliegende DVD enthält fünf filmische Zeitzeugeninterviews durch Schülerinnen und Schüler der KGS Hemmingen, des Gymnasiums Burgdorf und der IGS Roderbruch, Hannover. Sie wurden produziert vom Medienzentrum der Region Hannover. Diese Videos bieten sich besonders auch für den Einsatz im Schulunterricht an.Michael Pechel, in: Gegen Vergessen ? Für Demokratie 71, 2012
Details
ISBN/GTIN978-3-89534-789-4
ProduktartBuch
EinbandartGebunden
FormatPappband
ErscheinungsortBielefeld
ErscheinungslandDeutschland
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum26.01.2012
SpracheDeutsch
Gewicht955 g
Illustrationen91 s/w Abbildungen, 112 farbige Abbildungen
Artikel-Nr.16499516
Rubriken
GenreGeschichte/Politik