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Wien: Das Ende des Wohnbaus (als Typologie)

BuchKartoniert, Paperback
240 Seiten
Deutsch
Arch+erschienen am11.08.2021Neuauflage
Wien: Das Ende des Wohnbaus (als Typologie)Text: Anh-Linh NgoWohnen - Wien - Rotes Wien. Dieser ebenso unvermeidliche wie redundante Dreiklang wird im Architekturdiskurs reflexartig aufgerufen, wenn wieder einmal händeringend nach Vorbildern für eine gelungene Wohnbaupolitik gesucht wird. Der Reflex beweist, wie rar solche Beispiele sind und wie stark der Mythos des Roten Wien immer noch nachwirkt. Dieser Erfolg verdankt sich in erster Linie einer erstaunlichen Kontinuität der politischen Einsicht der Wiener Kommune, dass Wohnen eine gesellschaftliche Aufgabe ist und nicht allein dem Markt überlassen werden darf. Im Laufe eines bewegten Jahrhunderts hat die Wiener Wohnbaupolitik trotz dieses Grundkonsenses viele Häutungen und Wandlungen durchlaufen. Dabei ist sie durchaus marktförmiger geworden, wie in dieser Ausgabe kritisch diskutiert wird. Doch zwei entscheidende Dinge hat sie nie aus dem Blick verloren: die Notwendigkeit des Aufbaus und Unterhalts eines Wohnraumbestands und seiner dauerhaften sozialen Bindung sowie die Bodenbevorratung. Wohnbau beginnt und endet mit der Bodenfrage. Und damit sind wir mitten im politischen Kern des Diskursraums Wohnen. Ohne die Verfügungsgewalt über den Boden hat kein Gemeinwesen, und sei es noch so gutmeinend, eine Gestaltungsmacht über den städtischen Raum und damit über Fragen der sozialen Teilhabe. Was wie eine Binsenweisheit klingt, ist jedoch die bittere Erkenntnis vieler deutscher Kommunen, die in den letzten Jahrzehnten ihre Wohnungsbestände und Liegenschaften durch Verkauf und Privatisierung massiv verringert haben. Mit der Folge, dass viele Kommunen unter dem derzeitigen politischen Druck, den elementaren Bedarf an Wohnraum überhaupt zu decken, unkritisch die Modelle der Vergangenheit wiederholen, anstatt zunächst zu fragen, ob der Wohnbau - unabhängig von der aktuellen Pandemie - als monofunktionale Typologie überhaupt noch zeitgemäß ist. Diese Ausgabe, entstanden in redaktioneller Kooperation mit dem Forschungsbereich Wohnbau und Entwerfen der TU Wien, hat daher auch zum Ziel, aus der vergleichsweise komfortablen Position des Wiener Wohnungsbaus heraus nach der Zukunftsperspektive des Wohnens allgemein zu fragen. Bevor wir jedoch die Zukunft des Wohnens behandeln, sollten wir zunächst klären, was das überhaupt ist: das Wohnen. Kurz gesagt, ein Paradoxon: ein Verb, das im engeren Wortsinn keine Tätigkeit bezeichnet . Daran erinnert die Kulturtheoretikerin Elke Krasny in ihrem Beitrag. Was also tun wir, wenn wir wohnen ? Die Vielzahl der Tätigkeiten, die wir unter diesem Begriff zusammenfassen, drücken Lebensnotwendigkeiten aus: schlafen, essen, kochen, sich waschen und sich erholen. Die moderne Ausdifferenzierung der Lebenswelt weist das Wohnen dem Bereich der Reproduktion zu, d. h. der Regenerierung der Arbeitskraft, während das Arbeiten, die Welt der Produktion, räumlich davon getrennt stattfindet. Die funktional-räumliche Trennung, die sich historisch im Zusammenhang mit der kapitalistischen Produktionsweise herausbildete, ging von Beginn an zu Lasten der sozialen und kulturellen Kohäsion der Stadt. Von den ökologischen Folgen, die immer deutlicher zu Tage treten, ganz zu schweigen. Entsprechend wird sie seit langem sowohl von konservativer als auch von progressiver Seite als Grund für den Niedergang der Urbanität beklagt. Doch während die Konservativen als Heilmittel eine sogenannte Stadtbaukunst propagieren und damit Fassaden­kosmetik meinen - sie hat den Vorteil, dass sich strukturell nichts ändern muss -, muss es bei dem Thema gesellschaftlich und ökonomisch ans Eingemachte gehen. In der funktionellen Stadt manifestieren sich gesellschaftliche Verhältnisse, die dringend revidiert werden müssen. Urbanität als gelingendes Zusammenleben in der Stadt lässt sich nicht mit vorgeklebten Fassaden - welcher Epoche auch immer - oder gar mit Begriffsnebel wie Schönheit erreichen. Wir kommen nicht umhin, die normative Ableitung des Lebens aus den monofunktionalen Architekturen des Wohnens und Arbeitens und die darin einbetonierten politischen und ökonomischen, habituellen und kulturellen, hierarchischen und geschlechterspezifischen Verhältnisse infrage zu stellen. Oder wie es der Philosoph Ludger Schwarte in seinem Essay Revolutionen des Wohnens formuliert hat: Der Kampf gegen die Verpflichtung der Frauen zur Sorge um das Wohnen und die Familie, der Kampf gegen die ausbeuterische Hausarbeit und die entfremdete Reproduktion muss auch eine Veränderung der Wohnungen implizieren. Und diese beginnt mit einer anderen Architektur. Hier nimmt Schwarte die Architektur für gesellschaftliche Veränderungen in die Pflicht, einen Anspruch, den sich die Profession selbst schon lange nicht mehr zu erheben getraut. Hat nicht bereits Friedrich Engels im Hinblick auf die Wohnungsfrage beschieden, die soziale Frage ließe sich weder architektonisch noch städtebaulich beantworten, sondern allein durch den Umsturz der herrschenden Verhältnisse? Allzu oft wurde diese Polemik gegen die Architektur ins Feld geführt, die vermeintlich nur zum bourgeoisen Reformismus tauge. Insofern ist es bemerkenswert, dass ausgerechnet ein Philosoph die Architektenschaft an ihre Handlungsmacht erinnert.Es kommt schließlich darauf an, was man mit einem Umsturz der herrschenden Verhältnisse meint, um die Rolle zu bestimmen, die die Architektur dabei spielen könnte. Der Berufsrevolutionär Engels versteht unter der Lösung der sozialen Frage die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, entsprechend kann die soziale Revolution nur in der Produktionssphäre angegangen werden. Dieses Maximalziel macht ihn betriebsblind gegenüber der Sphäre der Reproduktion, die zwar außerhalb des unmittelbaren Verhältnisses von Arbeit und Kapital stattfindet, aber eine Voraussetzung für das Funktionieren des kapitalistischen Systems darstellt. Die Privatisierung und Verhäuslichung der unbezahlten Reproduktionsarbeit (meist zu Lasten von Frauen) erlaubt im Kapitalismus letztlich die Externalisierung von Kosten. Auf diese Fehlstelle in Marx ökonomischer Analyse haben feministische Marxist*innen seit den 1970er-Jahren hingewiesen. Damit haben sie die Kapitalismuskritik vom Kopf auf die Füße gestellt - und der Architektur einen Weg aufgezeigt, wie sie gesellschaftlich wirksam werden kann, trotz der ausstehenden politischen Revolution. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wenn wir aus dieser treffenden Kritik in klassischer sozialistischer Manier die Organisationsform der Arbeiterschaft auf den Bereich der Care-Arbeit übertragen und sie in Form von Gemeinschaftsküchen und anderen kollektiven Einrichtungen sozialisieren würden. Das wäre bestenfalls eine kosmetische Antwort auf die existierenden, genderspezifischen Machtverhältnisse. Stattdessen muss die Schlussfolgerung lauten: Wenn die Trennung von Arbeit (Produktion) und Wohnen (Reproduktion) eine Voraussetzung für die kapitalistische Produktionsweise bildet, kann die Architektur nur einen Beitrag zu einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel jenseits der vordergründigen Verbesserung der Wohnverhältnisse leisten, indem sie diese Trennung aufhebt! Sie muss den Wohnbau in der Form, in der wir ihn als ausschließende Typologie seit Beginn der Moderne betreiben, beenden. Sie muss Wohnen als gesellschaftliche und damit städtische Funktion begreifen. Die Beispiele in dieser Ausgabe zeigen in nuce Aspekte eines solchen Umdenkens.Am radikalsten hat sich in diesem Zusammenhang der Wiener Architekt Werner Neuwirth formal und inhaltlich positioniert, mit seinem Projekt Atelierhaus C.21: Wir müssen verstehen, wie stark die modernistische Versteinerung des Arbeitens und Wohnens - bis in die arbeitsrechtlichen Dinge hinein - bis heute unser Leben bestimmt. Ich glaube aber, dass sich die Realität für viele weg von dieser starren Trennung bewegt hat und die Bautätigkeit, die wir heute praktizieren, an dieser gesellschaftlichen Verschiebung vorbeigeht. Vor diesem Hintergrund ist der Raum als reines Potential, als Kubatur, worin sich jemand verwirklichen kann, für mich zentral, um dieses Denkmuster zu überwinden. In dieser Lesart kann die reine Architektur, wer hätte das gedacht, eine Antwort auf eine der grundlegenden politischen Fragen unserer Zeit geben: und zwar indem sie das Denken in festgelegten Funktionen hinter sich lässt. Hier soll, wohlgemerkt, nicht der Fiktion einer Autonomie der Architektur das Wort geredet werden. Im Gegenteil. Es geht um nichts anderes als um die Befreiung des Raums aus seiner typologischen Gefangenschaft, mit anderen Worten: um die Entfunktionalisierung des Lebens. Oder, um Ludger Schwarte noch einmal zu zitieren und auf die Ausgangsfrage nach der Zukunfts­perspektive des Wohnens zurückzukommen: Zukünftige Architektur sollte es sich nicht mehr zur Aufgabe machen, soziale Rollen und Funktionen festzulegen und durchzusetzen, sondern von diesen zu befreien. Zu dieser Befreiung führt ihm zufolge nur ein Weg: Der Wohnbau als Typologie muss überwunden werden.In gleicher Weise argumentiert der Wiener Urbanist Andre Krammer, dessen These vom Ende des Wohnbaus wir für den Untertitel dieser Ausgabe übernommen haben: Paradoxerweise könnte das Ende des Wohnbaus als eine klar abgegrenzte Typologie mit vorgegebenem Formenrepertoire, seine Auflösung und sein Eingehen in eine kollektive Wunschprojektion, die Zukunft des sozialen Wohnens in Wien offenhalten. Im buchstäblichen Sinne hatte Engels am Ende nicht ganz unrecht: Die soziale Frage lässt sich in der Tat nicht mit Wohnbau beantworten - wenn wir ihn weiterhin im modernen Verständnis als Typologie begreifen, die ausschließlich der sozialen Reproduktion dient. Erst wenn Wohnbau im Stadtbau aufgeht, kann die soziale Revolution beim Wohnen beginnen. Und das ist eine durchaus politische Antwort der Architektur.DankFür die Initiative, dieses Heft als Forschungsprojekt und Gastredaktion durchzuführen, danke ich Michael Obrist, der seit der Übernahme der Professur für Wohnbau und Entwerfen das Fachgebiet auf vorbildliche Weise diskursiv ausgerichtet hat, sowie der Impulsgeberin Christina Lenart als auch Bernadette Krejs, die als Lehrende und Gastredakteur­innen wesentlich zum Erfolg des Projekts beigetragen haben. Mein Dank gilt auch der TU Wien, die das Projekt gefördert hat, sowie allen Kolleg*innen und Studierenden, die inhaltlich zum Diskursraum Wohnen Wien beigetragen haben, entweder als Gesprächspartner­*innen in der Forschungsphase oder als Autor*innen in dieser Ausgabe und online auf archplus.net. Und nicht zuletzt gilt mein Dank dem ARCH+ Team, allen voran Nora Dünser, Max Kaldenhoff, Markus Krieger und Goran Travar, und Meiré und Meiré, insbesondere Mike Meiré und Charlotte Cassel, die ARCH+ als Projekt möglich machen.mehr

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KlappentextWien: Das Ende des Wohnbaus (als Typologie)Text: Anh-Linh NgoWohnen - Wien - Rotes Wien. Dieser ebenso unvermeidliche wie redundante Dreiklang wird im Architekturdiskurs reflexartig aufgerufen, wenn wieder einmal händeringend nach Vorbildern für eine gelungene Wohnbaupolitik gesucht wird. Der Reflex beweist, wie rar solche Beispiele sind und wie stark der Mythos des Roten Wien immer noch nachwirkt. Dieser Erfolg verdankt sich in erster Linie einer erstaunlichen Kontinuität der politischen Einsicht der Wiener Kommune, dass Wohnen eine gesellschaftliche Aufgabe ist und nicht allein dem Markt überlassen werden darf. Im Laufe eines bewegten Jahrhunderts hat die Wiener Wohnbaupolitik trotz dieses Grundkonsenses viele Häutungen und Wandlungen durchlaufen. Dabei ist sie durchaus marktförmiger geworden, wie in dieser Ausgabe kritisch diskutiert wird. Doch zwei entscheidende Dinge hat sie nie aus dem Blick verloren: die Notwendigkeit des Aufbaus und Unterhalts eines Wohnraumbestands und seiner dauerhaften sozialen Bindung sowie die Bodenbevorratung. Wohnbau beginnt und endet mit der Bodenfrage. Und damit sind wir mitten im politischen Kern des Diskursraums Wohnen. Ohne die Verfügungsgewalt über den Boden hat kein Gemeinwesen, und sei es noch so gutmeinend, eine Gestaltungsmacht über den städtischen Raum und damit über Fragen der sozialen Teilhabe. Was wie eine Binsenweisheit klingt, ist jedoch die bittere Erkenntnis vieler deutscher Kommunen, die in den letzten Jahrzehnten ihre Wohnungsbestände und Liegenschaften durch Verkauf und Privatisierung massiv verringert haben. Mit der Folge, dass viele Kommunen unter dem derzeitigen politischen Druck, den elementaren Bedarf an Wohnraum überhaupt zu decken, unkritisch die Modelle der Vergangenheit wiederholen, anstatt zunächst zu fragen, ob der Wohnbau - unabhängig von der aktuellen Pandemie - als monofunktionale Typologie überhaupt noch zeitgemäß ist. Diese Ausgabe, entstanden in redaktioneller Kooperation mit dem Forschungsbereich Wohnbau und Entwerfen der TU Wien, hat daher auch zum Ziel, aus der vergleichsweise komfortablen Position des Wiener Wohnungsbaus heraus nach der Zukunftsperspektive des Wohnens allgemein zu fragen. Bevor wir jedoch die Zukunft des Wohnens behandeln, sollten wir zunächst klären, was das überhaupt ist: das Wohnen. Kurz gesagt, ein Paradoxon: ein Verb, das im engeren Wortsinn keine Tätigkeit bezeichnet . Daran erinnert die Kulturtheoretikerin Elke Krasny in ihrem Beitrag. Was also tun wir, wenn wir wohnen ? Die Vielzahl der Tätigkeiten, die wir unter diesem Begriff zusammenfassen, drücken Lebensnotwendigkeiten aus: schlafen, essen, kochen, sich waschen und sich erholen. Die moderne Ausdifferenzierung der Lebenswelt weist das Wohnen dem Bereich der Reproduktion zu, d. h. der Regenerierung der Arbeitskraft, während das Arbeiten, die Welt der Produktion, räumlich davon getrennt stattfindet. Die funktional-räumliche Trennung, die sich historisch im Zusammenhang mit der kapitalistischen Produktionsweise herausbildete, ging von Beginn an zu Lasten der sozialen und kulturellen Kohäsion der Stadt. Von den ökologischen Folgen, die immer deutlicher zu Tage treten, ganz zu schweigen. Entsprechend wird sie seit langem sowohl von konservativer als auch von progressiver Seite als Grund für den Niedergang der Urbanität beklagt. Doch während die Konservativen als Heilmittel eine sogenannte Stadtbaukunst propagieren und damit Fassaden­kosmetik meinen - sie hat den Vorteil, dass sich strukturell nichts ändern muss -, muss es bei dem Thema gesellschaftlich und ökonomisch ans Eingemachte gehen. In der funktionellen Stadt manifestieren sich gesellschaftliche Verhältnisse, die dringend revidiert werden müssen. Urbanität als gelingendes Zusammenleben in der Stadt lässt sich nicht mit vorgeklebten Fassaden - welcher Epoche auch immer - oder gar mit Begriffsnebel wie Schönheit erreichen. Wir kommen nicht umhin, die normative Ableitung des Lebens aus den monofunktionalen Architekturen des Wohnens und Arbeitens und die darin einbetonierten politischen und ökonomischen, habituellen und kulturellen, hierarchischen und geschlechterspezifischen Verhältnisse infrage zu stellen. Oder wie es der Philosoph Ludger Schwarte in seinem Essay Revolutionen des Wohnens formuliert hat: Der Kampf gegen die Verpflichtung der Frauen zur Sorge um das Wohnen und die Familie, der Kampf gegen die ausbeuterische Hausarbeit und die entfremdete Reproduktion muss auch eine Veränderung der Wohnungen implizieren. Und diese beginnt mit einer anderen Architektur. Hier nimmt Schwarte die Architektur für gesellschaftliche Veränderungen in die Pflicht, einen Anspruch, den sich die Profession selbst schon lange nicht mehr zu erheben getraut. Hat nicht bereits Friedrich Engels im Hinblick auf die Wohnungsfrage beschieden, die soziale Frage ließe sich weder architektonisch noch städtebaulich beantworten, sondern allein durch den Umsturz der herrschenden Verhältnisse? Allzu oft wurde diese Polemik gegen die Architektur ins Feld geführt, die vermeintlich nur zum bourgeoisen Reformismus tauge. Insofern ist es bemerkenswert, dass ausgerechnet ein Philosoph die Architektenschaft an ihre Handlungsmacht erinnert.Es kommt schließlich darauf an, was man mit einem Umsturz der herrschenden Verhältnisse meint, um die Rolle zu bestimmen, die die Architektur dabei spielen könnte. Der Berufsrevolutionär Engels versteht unter der Lösung der sozialen Frage die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, entsprechend kann die soziale Revolution nur in der Produktionssphäre angegangen werden. Dieses Maximalziel macht ihn betriebsblind gegenüber der Sphäre der Reproduktion, die zwar außerhalb des unmittelbaren Verhältnisses von Arbeit und Kapital stattfindet, aber eine Voraussetzung für das Funktionieren des kapitalistischen Systems darstellt. Die Privatisierung und Verhäuslichung der unbezahlten Reproduktionsarbeit (meist zu Lasten von Frauen) erlaubt im Kapitalismus letztlich die Externalisierung von Kosten. Auf diese Fehlstelle in Marx ökonomischer Analyse haben feministische Marxist*innen seit den 1970er-Jahren hingewiesen. Damit haben sie die Kapitalismuskritik vom Kopf auf die Füße gestellt - und der Architektur einen Weg aufgezeigt, wie sie gesellschaftlich wirksam werden kann, trotz der ausstehenden politischen Revolution. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wenn wir aus dieser treffenden Kritik in klassischer sozialistischer Manier die Organisationsform der Arbeiterschaft auf den Bereich der Care-Arbeit übertragen und sie in Form von Gemeinschaftsküchen und anderen kollektiven Einrichtungen sozialisieren würden. Das wäre bestenfalls eine kosmetische Antwort auf die existierenden, genderspezifischen Machtverhältnisse. Stattdessen muss die Schlussfolgerung lauten: Wenn die Trennung von Arbeit (Produktion) und Wohnen (Reproduktion) eine Voraussetzung für die kapitalistische Produktionsweise bildet, kann die Architektur nur einen Beitrag zu einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel jenseits der vordergründigen Verbesserung der Wohnverhältnisse leisten, indem sie diese Trennung aufhebt! Sie muss den Wohnbau in der Form, in der wir ihn als ausschließende Typologie seit Beginn der Moderne betreiben, beenden. Sie muss Wohnen als gesellschaftliche und damit städtische Funktion begreifen. Die Beispiele in dieser Ausgabe zeigen in nuce Aspekte eines solchen Umdenkens.Am radikalsten hat sich in diesem Zusammenhang der Wiener Architekt Werner Neuwirth formal und inhaltlich positioniert, mit seinem Projekt Atelierhaus C.21: Wir müssen verstehen, wie stark die modernistische Versteinerung des Arbeitens und Wohnens - bis in die arbeitsrechtlichen Dinge hinein - bis heute unser Leben bestimmt. Ich glaube aber, dass sich die Realität für viele weg von dieser starren Trennung bewegt hat und die Bautätigkeit, die wir heute praktizieren, an dieser gesellschaftlichen Verschiebung vorbeigeht. Vor diesem Hintergrund ist der Raum als reines Potential, als Kubatur, worin sich jemand verwirklichen kann, für mich zentral, um dieses Denkmuster zu überwinden. In dieser Lesart kann die reine Architektur, wer hätte das gedacht, eine Antwort auf eine der grundlegenden politischen Fragen unserer Zeit geben: und zwar indem sie das Denken in festgelegten Funktionen hinter sich lässt. Hier soll, wohlgemerkt, nicht der Fiktion einer Autonomie der Architektur das Wort geredet werden. Im Gegenteil. Es geht um nichts anderes als um die Befreiung des Raums aus seiner typologischen Gefangenschaft, mit anderen Worten: um die Entfunktionalisierung des Lebens. Oder, um Ludger Schwarte noch einmal zu zitieren und auf die Ausgangsfrage nach der Zukunfts­perspektive des Wohnens zurückzukommen: Zukünftige Architektur sollte es sich nicht mehr zur Aufgabe machen, soziale Rollen und Funktionen festzulegen und durchzusetzen, sondern von diesen zu befreien. Zu dieser Befreiung führt ihm zufolge nur ein Weg: Der Wohnbau als Typologie muss überwunden werden.In gleicher Weise argumentiert der Wiener Urbanist Andre Krammer, dessen These vom Ende des Wohnbaus wir für den Untertitel dieser Ausgabe übernommen haben: Paradoxerweise könnte das Ende des Wohnbaus als eine klar abgegrenzte Typologie mit vorgegebenem Formenrepertoire, seine Auflösung und sein Eingehen in eine kollektive Wunschprojektion, die Zukunft des sozialen Wohnens in Wien offenhalten. Im buchstäblichen Sinne hatte Engels am Ende nicht ganz unrecht: Die soziale Frage lässt sich in der Tat nicht mit Wohnbau beantworten - wenn wir ihn weiterhin im modernen Verständnis als Typologie begreifen, die ausschließlich der sozialen Reproduktion dient. Erst wenn Wohnbau im Stadtbau aufgeht, kann die soziale Revolution beim Wohnen beginnen. Und das ist eine durchaus politische Antwort der Architektur.DankFür die Initiative, dieses Heft als Forschungsprojekt und Gastredaktion durchzuführen, danke ich Michael Obrist, der seit der Übernahme der Professur für Wohnbau und Entwerfen das Fachgebiet auf vorbildliche Weise diskursiv ausgerichtet hat, sowie der Impulsgeberin Christina Lenart als auch Bernadette Krejs, die als Lehrende und Gastredakteur­innen wesentlich zum Erfolg des Projekts beigetragen haben. Mein Dank gilt auch der TU Wien, die das Projekt gefördert hat, sowie allen Kolleg*innen und Studierenden, die inhaltlich zum Diskursraum Wohnen Wien beigetragen haben, entweder als Gesprächspartner­*innen in der Forschungsphase oder als Autor*innen in dieser Ausgabe und online auf archplus.net. Und nicht zuletzt gilt mein Dank dem ARCH+ Team, allen voran Nora Dünser, Max Kaldenhoff, Markus Krieger und Goran Travar, und Meiré und Meiré, insbesondere Mike Meiré und Charlotte Cassel, die ARCH+ als Projekt möglich machen.
Details
ISBN/GTIN978-3-931435-67-7
ProduktartBuch
EinbandartKartoniert, Paperback
Verlag
ErscheinungsortBerlin
ErscheinungslandDeutschland
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum11.08.2021
AuflageNeuauflage
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Gewicht930 g
Illustrationenzahlreiche farb. Abbildungen
Artikel-Nr.50002704
Rubriken

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
01EditorialAnh-Linh Ngo04Diskursraum Wohnbau WienBernadette Krejs, Christina Lenart, Michael Obrist20Das Ende des Wohnbaus22Revolutionen des WohnensLudger Schwarte26 Die Wohnung , das Büro - â¨das sind Begriffe, die nur in den â¨Vorstellungen von Möbelhändlern â¨und Werbeagenturen â¨existieren. Robert Hahn und Werner Neuwirth â¨im Gespräch mit Anh-Linh Ngo34Atelierhaus C.21Werner Neuwirth40Die Stadt in der StadtAndre Krammer52Die WohnfrageElke Krasny56Modell Wien58GemeindebaumatrixGrafik: Aline Eriksson, Maria Groiss, â¨Antonia Löschenkohl, Lukas Spreitzer60Zwischen Vorwärts! und den Versprechen â¨der VergangenheitMichael Klein72Timeline: Wiens StadtentwicklungGrafik: Veronika Wladyga, Maria Groiss, â¨Christina LenartGastredaktion / Wohnbau und Entwerfen / TU Wien74Timeline: Steuerungselemente â¨der Wiener WohnbaupolitikGrafik: Veronika Wladyga, Maria Groiss, â¨Christina LenartGastredaktion / Wohnbau und Entwerfen / TU Wien76Timeline: ArchitekturGrafik: Veronika Wladyga, Maria Groiss, â¨Christina LenartGastredaktion / Wohnbau und Entwerfen / TU Wien⥠ONLINE: Wiener Wohnbau als Big DataGrafik: Oliver Alunovic, Ben JamesText: Christina Lenart78Das eingerichtete LebenIrene Nierhaus84(Gegen)hegemoniale Bildpolitiken â¨im aktuellen Wiener WohnbauBernadette Krejs88Das Wiener Wohnungssystem jenseits â¨des sozialen WohnbausJustin Kadi⥠ONLINE: Gentrifizierung und â¨WohnungspolitikHannah Luca Kögler, Marek Nowicki, â¨Veronika Wladyga, Diego Martínez⥠ONLINE: Zwischen Leerstand, Spekulation â¨und RenditeSophia Thoma⥠ONLINE: Finden und gefunden werdenAlina Schönhofer92Wer darf wo wohnen?Mara VerliÄ⥠ONLINE: Zur Situation von Frauen â¨am Wiener WohnungsmarktSabina Riß94Social(ist) HousingGabu Heindl100Von Wohnbau zu Stadtbau102StadtentwicklungsprojekteGrafik & Zusammenstellung: Paul Sebesta, â¨Veronika Wladygaâ¨Gastredaktion / Wohnbau und Entwerfen / TU Wien104Rainbow WarriorsBenni Eder, Andreas Rumpfhuber112Never change a running system?!Peter Bauer, Bettina Götz und Richard Manahl, â¨Michaela Mischek-Lainer, Senka Nikolic â¨und Rudolf Scheuvens im Gespräch â¨mit Bernadette Krejs, Christina Lenart â¨und Michael Obrist⥠ONLINE: Wege der Wohnbauförderung - Der Blick auf den FinanzhaushaltText: Christina Lenart, Veronika WladygaGrafik: Caroline Faber, Roswitha Goy, Julia Maretzki, â¨Theresa Reiter mit Veronika WladygaGastredaktion / Wohnbau und Entwerfen / TU Wien ⥠ONLINE: Wege der Wohnbauförderung - Der Blick auf die WohnungText: Christina Lenart, Veronika WladygaGrafik: Veronika WladygaGastredaktion / Wohnbau und Entwerfen / TU Wien 116In der Wiesen SüdARTEC Architekten / Gesamtprojekt â¨mit Dietrich | Untertrifaller ArchitektenBernadette Krejs120Young Living in Neu Leopoldaufeld72Max Utech124ASP Holzwohnbauquerkraft architekten, â¨Berger+ParkkinenMaik Novotny128J5A Lakesidequerkraft architektenHelmut Schramm132KapellenhofAllesWirdGut Architektur, feld72Maik Novotny136Wiener VerhältnisseLina Streeruwitz, Bernd Vlay und Robert Temel â¨im Gespräch mit Christina Lenart144Diskursraum Nordbahn-HalleEinführung: Christina LenartMit Statements von Silvia Forlati, Peter Fattinger, â¨Florentina Dohnalik, Mara Reinsperger, Mariana â¨Gutierrez Castro, Beatrix Rauscher, Angelika Fitz, â¨Lina Streeruwitz, Bernd Vlay, Julian Junker â¨und Christoph Laimer148Der Stoff, aus dem â¨die Wiener Wohnungen sindGrafik: Carina Bliem, Aline Eriksson, Maria Groiss, Nina HaiderText: Bernadette Krejs152Die neue soziale Frage154Mama WienGrafik: Carina Bliem, Aline Eriksson, Maria Groiss, Nina HaiderText: Christina Lenartâ¨Gastredaktion / Wohnbau und Entwerfen / TU Wien156 Wien bräuchte mehr Unordnung. Christoph Reinprecht im Gespräch mit Bernadette Krejs, Christina Lenart und Michael Obrist160Über die Möglichkeit von â¨Public-Commons-PartnerschaftenStefan Gruber166Haus am Parkfeld72Ernst Gruber170Stadtelefantâ¨Franz&SueErnst Gruber174 Genossenschaften Ernst Gruber176MIOStudioVlayStreeruwitzErnst Gruber180In der Wiesen OstM&S Architekten, SuperblockMax Utech184Experimentierfeld BaugruppenAndrej Holm, Christoph Laimer192Gleis 21einszueins architekturPatrick Herold, Veronika Felber196Baugruppe LiSAWUP architekturHelmut Schramm200My Home is my FuturePeter Mörtenböck, Helge Mooshammer208magdas HotelAllesWirdGut ArchitekturAntonietta Putzu⥠ONLINE: Ansätze der Obdach- â¨und WohnungslosenhilfeHelena Bernhardt, Christoph Singelmann212Das Recht auf Wohnen in WienText & Grafik: Jakob Holzer, Constanze Wolfgring214GlossarChristina Lenart mit Aline Eriksson, Carina Bliem, Maria Groiss, Nina Haider218Autor*innen224Impressummehr
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Die Wohnfrage Von den Maßstäben der SorgeText: Elke Krasny Der erste Schritt beim Herantreten an die bestimmten konkreten Verhältnisse der Gesellschaft besteht doch wohl darin, dass man sie kennenlernt, dass man sie nach ihrem bestehenden ökonomischen Zusammenhang untersucht. - Friedrich Engels1Wohnen ist für das menschliche Leben unerlässlich. Dabei bezeichnet das Verb wohnen im engeren Wortsinn keine Tätigkeit, und es würde vielen wahrscheinlich sogar ziemlich schwer fallen, geeignete Worte zu finden, um all das zu fassen, was sie eigentlich tun und womit sie beschäftigt sind, wenn sie wohnen. Es besteht ein Bewusstsein dafür, dass das Wohnen eine Vielzahl von verschiedenen Tätigkeiten beinhaltet, die zur alltäglichen Aufrechterhaltung des menschlichen Lebens notwendig sind. Dieses Bewusstsein hat nicht zuletzt auch Eingang in die 1948 von den Vereinten Nationen formulierten Menschenrechte gefunden: Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung ⦠2 (⥠Beitrag Jakob Holzer / Constanze Wolfgring). Über eine Wohnung zu verfügen und wohnen zu können, gilt daher als eines der menschlichen Grund-bedürfnisse und wird in rechtlicher, rechtsphilosophischer und ethischer Hinsicht als Daseinsnotwendigkeit aufgefasst. Grundbedürfnis und Daseinsnotwendigkeit sind hehre Begriffe für all jene Tätigkeiten und Aktivitäten, die im Alltag eher als repetitiv, selbstverständlich, mitunter auch banal wahrgenommen werden. In den als die eigenen vier Wände bezeichneten Räumen wird das Grundbedürfnis gelebt, das Daseinsnotwendige verrichtet. Dazu zählen etwa Schlafen, Kochen, Essen und Körperreinigung. Im allgemeinen Sprachgebrauch erscheint es selbstverständlich, dass mit wohnen nicht nur all das mitgemeint ist, sondern auch die Orte, die diese Tätigkeiten räumlich organisieren und vor allem deren Ausübung überhaupt erst möglich machen: die Wohnungen und Häuser. In den Jahren 1872/73, zu einem Zeitpunkt, in dem der koloniale Industriekapitalismus zu rapidem städtischen Wachstum führte und das Leben der Großstädter--*innen, die in Fabriken oder bürgerlichen Haushalten ihrer Arbeit nachgingen, von eklatanter Wohnungsnot gezeichnet war, legte Friedrich Engels seine Abhandlung Zur Wohnungsfrage vor3. Für den kritischen politischen Wohndiskurs im Sozialismus, in der kritischen Linken sowie in sozialen Bewegungen, aber auch im Feminismus, vor allem für den Wohndiskurs, der die politische Ökonomie in den Vordergrund stellt, ist diese Schrift bis heute ein zentraler Bezugspunkt. In der Rezeption dieser Schrift wird im kritischen politischen Wohndiskurs der Fokus auf die Produktion von Wohnraum unter den Bedingungen des Kapitalismus gerichtet. Der Begriff -Wohnungsfrage macht es jedoch auch möglich, eine engere Verbindung zwischen der Produktion von Wohnraum und den Grundbedürfnissen, die das Wohnen erfüllt, zu denken und somit anhand der von Engels in den Diskurs eingebrachten Wohnungsfrage auch die Wohnfrage zu stellen. Deren Ausformulierung ist für die Weiterentwicklung des Diskursraums, der sich zwischen Architektur, Stadtentwicklung, Politik, Ökonomie und Alltag rund um den Wohnbau aufspannt, entscheidend. Wie wohnt die Stadt? Für die kompetitive Standortpolitik von Städten, aber auch für das Verstehen alltagsgeschichtlich gelebter Mentalitätslagen ist die Wohnungsfrage auf das Engste verschränkt mit der Wohnfrage zu stellen. Für das historische Selbstnarrativ der Stadt Wien ist die Erinnerung an die monumentale Lösung der Wohnungsfrage durch die Superblocks des städtischen Gemeindebaus in der Zeit des Roten Wien entscheidend. Mit diesen Monumenten der sozialen Lösung der Wohnungsfrage haben sich kollektive Narrative der städtischen Wohnungsfürsorge im historischen Erfolg eingerichtet. Zugleich wird mit dem Erbe dieser Erfolgsgeschichte heute stadtpolitisch bei der (wohnenden und wählenden) Stadtbevölkerung um ihre Gunst geworben. Dieser Essay führt an einem Beispiel gegenwärtiger öffentlicher städtischer Darstellungspolitik aus, wie die Wohnfrage im Stadtraum von Wien in Plakaten ins Bild gesetzt und welche normativen gesellschaftlichen Vorstellungen, die durch das Wohnen verkörpert werden, hier vermittelt werden. Zum anderen wird die Zentralität der Wohnungsfrage, die für das Verständnis politisch repräsentativer Narrative im Selbstbild von Wien als gut wohnender Stadt wesentlich sind, aufgegriffen, um die in der Wohnungsfrage oft versteckt bleibende Dimension der Wohnfrage in allgemeiner Hinsicht zu erörtern. Sorge zeigenWie lässt sich das verantwortungsvolle Handeln der öffentlichen Hand für den sozialen Wohnungsbau plakativ zeigen? Wie lässt sich vermitteln, dass die öffentliche Hand für das Wohnen der Stadtbewohner--*innen Sorge trägt? Wie lässt sich Wohnen ins Bild setzen? Und auf welchem Maßstab der Sorge beruhen die öffentlichen Darstellungspolitiken? Eine Werbekampagne von Wiener Wohnen aus dem Jahr 2014 schien darauf Antworten zu geben. Auf einem der Plakate war ein lachendes, kleines Kind zu sehen. Es ist in einem Alter, in dem Kinder noch nicht ohne Hilfe stehen oder gehen können. Hinter ihm sitzt eine ebenfalls lachende junge Frau, wahrscheinlich seine Mutter, die das Kind an den Händen hält. Die beiden sind zu Hause - das ist unschwer zu erkennen. Hinter einer Glastür im Hintergrund deutet sich eine grüne Wiese an. Ein anderes Plakat zeigt ein Kind im Volksschulalter mit einem Ball. Das Kind lacht und wird von einem jungen Mann, wahrscheinlich seinem Vater, kopfüber in die Luft gehalten, der dabei ebenso lacht. Die beiden stehen auf einem gut gepflegten grünen Rasen, der von Bäumen gesäumt wird. Dahinter ist eine Hausfassade zu sehen, die in Wien lebende Menschen unschwer als die eines typischen Gemeindebaus identifizieren können. Es ist wesentlich, diese beiden Plakate zusammen zu lesen: eine Familiensituation, zwei Elternteile, zwei Kinder. Es könnte sich um eine Familie handeln, bei der die Mutter mit dem kleineren Kind in der Wohnung gezeigt wird, während der Vater mit dem älteren beim Sport im Freiraum der Wohnumgebung abgebildet wird. Die biopolitisch erwünschte Normfamilie, gekennzeichnet durch mehrheitsösterreichisch kompatibles Aussehen, reproduziert die Stadt, die sie wählt. Der heteronormative Wohnentwurf ist Lebensentwurf. Die Aufteilung der Sorgearbeit, der Care Gap, der zwischen Männern und Frauen weiterhin besteht, wird durch die Zuteilung von Außenraum (Spiel), und Innenraum (Notwendigkeit), mehr als nur angedeutet, vielmehr normalisiert. Im visuellen Aufmerksamkeitszentrum der Plakate, die für das Wohnen im Gemeindebau und den sozialen Wohnungsbau an sich werben, ist jeweils die folgende Wort-Bild-Kombination platziert: Auf einem roten Herz auf Brusthöhe des blonden Kleinkinds, das mit einem weißen Unterwäscheeinteiler bekleidet ist, prangt in weißen Großbuchstaben das Wort MEIN. Auf dem weißen Ball, den der blonde Junge in den Händen hält, ist ebenfalls das rote Herz mit dem in weißen Großbuchstaben geschriebenen MEIN zu sehen. Links oberhalb des Herzen steht in kleineren roten Buchstaben Mein. Rechts von dem weißen MEIN und links von dem weißen Mein stehen in roten Großbuchstaben GE und DEBAU. Mein Gemeindebau ist die zentrale Botschaft. Rot und Weiß sind die Landesfarben der Fahne von Wien. Rot ist die Farbe des Sozialismus. Das rote Herz ist das Symbol der Liebe. Zusammengenommen Wien, Sozialismus, Liebe. Zusammengenommen öffentliche Hand, Parteipolitik, Familien. Am unteren Rand dieser beiden Plakate steht der Slogan Liebenswert lebenswert , ergänzt mit dem Nachsatz Faire Mieten und hoher Mieterschutz für mehr Sicherheit im Leben bzw. Gepflegte Grün- und Spielflächen für mehr Spaß und Lebensqualität. Gestaltet wurde die Kampagne von der Agentur Demner, Merlicek & Bergmann. Diese Plakate verdeutlichen, dass nicht die allgemeine Lösung der Wohnungsfrage als soziale Frage, als Frage des städtischen Zusammenlebens, bildpolitisch zelebriert wird. Vielmehr wird der neoliberale Subjektentwurf - für den das eigene Erreichte stets der Erfolgsmaßstab ist - als Maßstab wohnender städtischer Subjekte angelegt. Ihr ureigener Wohnerfolg, das erreichte eigene Heim, wird metonymisch auf die Partei, der es die Stimme dafür zu geben gilt, projiziert. Im visuell hervorgehobenen Pronomen mein wird der eigene Besitzanspruch anstelle der kollektiven Errungenschaft der allgemeinen Versorgung gefeiert. Das gute Wohnen, das auf den Plakaten gezeigt wird, steht für das gute Leben, das die Einzelnen in der Lage sind zu verwirklichen. Das gute Wohnen verspricht das gute Leben. Das gute Wohnen entspricht dem guten Leben. Aktivitäten des Wohnens, die Wohnfrage, nicht der Wohnbau oder die Wohnungsfrage, bestimmen das werbende Bild vom guten Leben in der Stadt Wien. Dies macht es notwendig, genauer zu untersuchen, was es mit der Wohnfrage auf sich hat. Die Wohnfrage stellenWonach fragt die Wohnfrage? Inwiefern geht die Wohnfrage über die Wohnungsfrage hinaus und inwiefern schafft sie es, produktiv daran anzuknüpfen? Auf die bereits genannten, dem Wohnen zutiefst eingeschriebenen Tätigkeiten, die der Aufrechterhaltung des menschlichen Lebens, aber auch dem Wohlbefinden im Alltag dienen, sind feministische Marxistinnen wie Mariarosa Dalla Costa, Silvia Federici, -Leopoldina Fortunati oder Selma James in ihrem aktivistischen Schreiben eingegangen. Alle vier waren von der politischen Bewegung und den Denktraditionen der autonomen Linken in Italien geprägt und insistierten in diesen Zusammenhängen auf die Entwicklung neuer, feministischer Perspektiven. Dabei arbeiteten sie heraus, dass das Problem der Ausbeutung von arbeitenden Menschen unter dem -System des Kapitalismus nicht nur, wie Karl Marx es aufgezeigt hatte, darin bestand, dass die Arbeiter--*innen ihre Arbeitskraft zur Ware machen und an Produktionsmitteln einsetzen mussten, über die nicht sie, sondern die Klasse der Kapitalist--*innen verfügten - wodurch diese vom durch die Arbeiter--*innen erarbeiteten Mehrwert profitierten. Das Betriebsgeheimnis der kapitalistischen Ausbeutung lokalisierten sie vielmehr darin, dass all die Tätigkeiten, die menschliche Daseinsnotwendigkeit sind - also die Nahrungszubereitung, die Kleider-reinigung, aber auch das Instandhalten und Aufräumen des Wohnraums, damit Menschen ihre Lebens- und Arbeitskraft gut erhalten können - eine Form unbezahlter Arbeit darstellen. Diese bis heute zumeist von Frauen verrichteten Tätigkeiten werden oft als unsichtbare Arbeit oder dirty work, Drecksarbeit, bezeichnet. Die feministischen Marxistinnen und andere Kämpfer--*innen und Denker--*innen, die mit der internationalen Kampagne Wages for Housework in Verbindung standen, benannten sie mit dem Begriff der reproduktiven Arbeit.4Betrachtet man die dem Wohnen ursächlich eingeschriebenen Tätigkeiten unter dieser Perspektive, ließe sich Folgendes postulieren: Die Geschichte des Wohnens ist die Geschichte der sozialen Reproduktion. Treten wir, wie Friedrich Engels es vorgeschlagen hat, an die konkreten Verhältnisse des Wohnens heran und versuchen, diese in ihrem bestehenden ökonomischen Zusammenhang zu erfassen, dann muss die Analyse der Ökonomie der sozialen Reproduktion unsere Untersuchung leiten. Wenn wir nun des Weiteren die von Engels aufgeworfene Wohnungsfrage, die das Augenmerk auf die Bedingungen der Produktion von Wohnraum gelenkt hat, und die Wohnfrage, die das zentrale Interesse auf die Bedingungen des Wohnens als soziale Reproduktion richtet, miteinander verschränken, dann eröffnet sich dadurch das Potential eines Diskursraums. Dieser birgt für die Auseinandersetzung mit Architektur und Stadt in historisch-materialistischer und theoretisch-politischer Hinsicht durchaus entscheidende Veränderungen und könnte vor allem zukunftsweisende Perspektiven aufmachen, die für die Konzeption des Wohnbaus möglicherweise entscheidend sind. Es leuchtet sofort ein, wie hier dargelegt wurde, dass die Geschichte des Wohnens die Geschichte der sozialen Reproduktion miteinschließt. Dennoch unterscheiden sich die Werkzeuge und die Begriffe von Architektur und Stadtplanung, durch welche die Geschichte des Wohnens als gebauter Raum bestimmt wird, grundlegend von jenen, mit denen die Geschichte des Wohnens als soziale Reproduktion erzeugt wird. Wohnen, verstanden als Architektur, verstanden als Baustein der Urbanisierung seit der Moderne, prägt das Antlitz der Städte. Welche Lösungen zu bestimmten Zeiten für die Wohnungsfrage gefunden wurden und werden, ist für das urbane Erscheinungsbild konstitutiv. Diese Geschichte des Wohnens, die Häuser, Fassaden und Wohnbauten, sind für alle, die sich durch eine Stadt bewegen, sichtbar. Wohnen, verstanden als die Abdeckung der menschlichen Grundbedürfnisse durch soziale Reproduktion, prägt zwar auf das Entscheidendste die Existenz und die Lebensverhältnisse der Einzelnen, bleibt jedoch den Augen der Allgemeinheit verborgen. Welche Lösungen zu bestimmten Zeiten für die Wohnfrage gefunden wurden, bleibt daher für die städtische Öffentlichkeit unsichtbar. Es gilt das Verhältnis zwischen Wohnungsfrage und Wohnfrage, Wohnraum und Wohnen, vor allem im Wohnbau neu zu bestimmen. Dabei ist der Fokus darauf zu lenken, wie Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit neu zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Außerdem stellt sich die Frage, wie das, was das Wohnen zum Grundbedürfnis, zur Daseinsnotwendigkeit, macht und durch die Verrichtung aller Tätigkeiten der reproduktiven Arbeit gewährleistet wird, das zentrale Anliegen des Wohnbaus sein kann. Wie aber können Werkzeuge und Begriffe, mit denen Architektur und Stadtplanung zu operieren gewohnt sind, näher mit denen verknüpft werden können, die für ein kritisches Nachdenken über die Zusammenhänge der sozialen Reproduktion in der feministischen Theoriebildung vorgelegt worden sind? Der folgende Abschnitt entwickelt Maßstäbe der Sorge und leistet damit Begriffsarbeit für die Verknüpfung der Wohnungsfrage und der Wohnfrage für ein kritisches politisches Verständnis von Wohnen als sozialer Reproduktion. Maßstäbe der SorgeWas feministische Marxist--*innen als reproduktive Arbeit bezeichneten, wird von verschiedenen politischen Theoretiker--*innen, Philosoph--*innen und Soziolog--*innen vor allem im englischen Sprachraum mit dem Begriff care work, zu deutsch Sorgearbeit, benannt. Während der Terminus der reproduktiven Arbeit die marxistische Analyseherkunft und die politische Orientierung in den Vordergrund rückt, spannt Sorge vor allem den ethischen Bezugsrahmen auf. Er verdeutlicht auch die emotionalen und affektiven Dimensionen sorgender Arbeit, die immer von Relationen der Verantwortung und der wechselseitigen Abhängigkeit, der Interdependenz, gekennzeichnet sind. Der Begriff der Sorge wird nun im Folgenden deshalb für das weitere Nachdenken über Wohnen als soziale Reproduktion verwendet, weil Sorge und Sorgetragen ein weitaus größeres semantisches Einzugsgebiet umfassen als reproduktive Arbeit. Der Gegenstand der Sorge ist auf unterschiedlichsten Maßstabsebenen denkbar, vom Individuellen bis zum Planetarischen, aber auch in unterschiedlichsten Bezugssystemen, auf der Ebene des Raumpolitischen ebenso wie auf der Ebene einer politischen Ethik, auf der Ebene des Raumökonomischen wie auf der Ebene der feministischen Kapitalismuskritik. Der komplexe Diskursraum, der hier durch die Einführung des Maßstabs der Sorge geöffnet wird, leistet einen Beitrag zu einem avancierten Wohndiskurs, der Räumliches und Handlungsorientiertes, Wohnung und Wohnen, aufeinander bezieht. Für die Architektur ebenso wie für die Stadtplanung ist der Maßstab ein geläufiges Werkzeug, das der Darstellung und der Übersetzung von Größenrelationen dient. Der Maßstab wird zur Wirklichkeitsvermessung in Plänen eingesetzt und bestimmt und artikuliert gleichermaßen architektonisches und planerisches Denken. Architektur und Stadtplanung stellen mit ihren Plänen den physischen Raum maßstabsgetreu dar. Räumlich ist das Wohnen auf den Maßstäben individueller Wohnungen ebenso zu denken wie auf der Maßstabsebene von Stadtentwicklungen und urbanen Transformationsprozessen. So betrachtet, ist der Maßstab, der das Wohnen definiert, ebenso entscheidend für Städtebau und die Stadtentwicklung wie für die alltäglichen Lebensrealitäten. Der Maßstab des Wohnens ist folglich ebenso Stadt- wie Lebensgrundlage. Der Maßstab bezeichnet aber nicht nur ein Werkzeug, das es erlaubt, nachgebildete Größen zueinander in Beziehung zu setzen und zur Darstellung zu bringen. Maßstab hat auch die Bedeutung einer als vorbildlich verstandenen Norm, anhand derer das Handeln beurteilbar wird. Gemeinsam produzieren diese zwei unterschiedlichen Bedeutungen des Maßstabs eine kritische Erweiterung des Diskursraums Wohnbau. An den Maßstab der Sorge, verstanden als die Art und Weise, wie der architektonische Entwurf und die städtebauliche Planung von Wohnungen und von Wohnbauten die verschiedensten Tätigkeiten der Arbeit der sozialen Reproduktion ermöglicht und organisiert, lässt sich der Maßstab der Sorge, verstanden als Norm, als Beurteilung der Art und Weise, wie für die soziale Reproduktionsarbeit räumlich Sorge getragen wird, anlegen. So würden Entwerfen und Planen an der Wohnfrage orientiert und die Probleme der Wohnungsfrage zu lösen beginnen. Dann gälte, real-utopisch gesprochen, nicht mehr der Maßstab des Kapitals für die räumliche Organisation des Daseinsnotwendigen, sondern der Maßstab der Sorge, den die öffentliche Hand anzulegen hat, die in Wien den sozialen Wohnungsbau verantwortet. Die Maßstäbe der Sorge, die auf den Plakaten darstellungspolitisch auszumachen waren, setzen die Wohnfrage mit Sorgenfreiheit, mit Sorglosigkeit gleich. So wie Eltern für ihre Kinder sorgen, sorgt die Stadt für ihre Bürger--*innen. Zugleich sorgen Eltern für städtischen Nachwuchs. Wiewohl diese biopolitische Dimension in den Plakaten angelegt ist, wird sie von der Botschaft überlagert, dass das gute Wohnen das gute Leben für die Einzelnen, in ihren Familienkonstellationen, verspricht. Während eine Ethik der Sorge von Interdependenz, von der Wechselseitigkeit der Relationen ausgeht, geht die Darstellungspolitik der Sorge von abhängigen Subjekten aus, deren Herz, genau in dieser Abhängigkeit, für das, was sie neoliberal-possessiv als Mein ansehen, zu schlagen lernt. Während Wohnen als soziale Reproduktion den Blick für die Daseinsnotwendigkeit schärft, vermitteln die Plakate, dass Wohnen sich wie Arbeit aus Liebe anfühlt. Die Suggestion von Sorglosigkeit verfehlt die Maßstäbe der Sorge, in denen der Diskursraum die Wohnungsfrage und die Wohnfrage radikal zueinander öffnet. Nur wenn jene unsichtbare Arbeit, die aus den werbenden Plakaten verbannt wurde, für die Zukunft der Reproduktion der Stadt ernst genommen wird, kann mit neuen Maßstäben Wohnungsbau betrieben werden. 1Friedrich Engels: Zur Wohnungsfrage , (1872/73), in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Band 18, Berlin 1973, S. 209-287, hier S. 285 f.2Vereinte Nationen: Resolution der General-versammlung - Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 25 (1), 10.12.1948, www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (Stand: 4.5.2021)3Friedrich Engels behandelte in einer Reihe von Artikeln die Wohnungsfrage. Sie wurden 1872 und 1873 in der Parteizeitschrift Der Volksstaat der Sozial-demo-kratischen Arbeiterpartei in Deutschland veröffentlicht. Siehe Friedrich Engels: Zur Wohnungsfrage , in: Der Volksstaat, Leipzig 1872, Nr. 51-53, 103 und 104; sowie 1873, Nr. 2, 3, 12, 13, 15, 16. Bis heute wird die von Engels vorgelegte Analyse im Zusammenhang mit Kämpfen um Wohnraum als Instrument der politischen Bewusstseinsbildung eingesetzt. Oft wird sie zur Formulierung von neuen Slogans oder anti-kapitalistischen Forderungen herangezogen, beispielsweise in den USA von der Liberation School der Party for Socialism and Liberation. Siehe Liberation School: Study guide - The housing question , in: The Liberation School, 26.3.2020, liberationschool.org/study-guide-the-housing-question (Stand: 5.5.2021) 4Siehe unter anderem: Silvia Federici: Aufstand aus der Küche - Reproduktions-arbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution, Münster 2012, Wiederabdruck in: ARCH+ 231: The Property Issue - Von der Bodenfrage und neuen Gemeingütern (Frühjahr 2018), S. 142-147; Mariarosa Dalla Costa, Selma James: Women and the Subversion of the Community , in: dies.: The Power of Women and the Subversion of the Community (1971), Bristol 1975, S. 21-56mehr