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Herrschaftsfreie Institutionen

Texte zur Stabilisierung staatsloser, egalitärer Gesellschaften
BuchKartoniert, Paperback
244 Seiten
Deutsch
Graswurzelrevolutionerschienen am28.06.2019Durchges. Neuaufl.
Sind stabile herrschaftsfreie Gesellschaften denkbar? Haben staatslose Gesellschaften Jahrzehnte und länger überdauert und existieren sie noch immer?In den Sozialwissenschaften herrscht die Tendenz vor, »Regulierten Anarchien« entweder keinen politischen Stellenwert beizumessen oder ihnen doch eine verborgene Herrschaftlichkeit zu unterstellen. Mit beiden (ethnologischen bzw. historischen) Argumenten lässt sich die angebliche Unmöglichkeit von Herrschaftsabbau heute behaupten. Die Beiträge dieses hier in zweiter, durchgesehener Auflage vorliegenden Bandes setzen sich kritisch mit dieser Auffassung auseinander und zeigen an Beispielen wie Verwandtschaftsstruktur, Architektur und Spiel sowie dem altisraelitischen Glaubenssystem: Gerade "primitive" Gesellschaften besaßen eine erstaunliche institutionelle Phantasie, um Herrschaftsfreiheit und egalitäre Verhältnisse dauerhaft sicherzustellen. Die beiden Verfasser Rüdiger Haude und Thomas Wagner sind Kulturwissenschaftler. "Die Aufsätze von Haude und Wagner sind ein bedeutender Beitrag zur Weiterentwicklung der vorliegenden Anarchie-Theorien" (aus dem Vorwort von Christian Sigrist).mehr

Produkt

KlappentextSind stabile herrschaftsfreie Gesellschaften denkbar? Haben staatslose Gesellschaften Jahrzehnte und länger überdauert und existieren sie noch immer?In den Sozialwissenschaften herrscht die Tendenz vor, »Regulierten Anarchien« entweder keinen politischen Stellenwert beizumessen oder ihnen doch eine verborgene Herrschaftlichkeit zu unterstellen. Mit beiden (ethnologischen bzw. historischen) Argumenten lässt sich die angebliche Unmöglichkeit von Herrschaftsabbau heute behaupten. Die Beiträge dieses hier in zweiter, durchgesehener Auflage vorliegenden Bandes setzen sich kritisch mit dieser Auffassung auseinander und zeigen an Beispielen wie Verwandtschaftsstruktur, Architektur und Spiel sowie dem altisraelitischen Glaubenssystem: Gerade "primitive" Gesellschaften besaßen eine erstaunliche institutionelle Phantasie, um Herrschaftsfreiheit und egalitäre Verhältnisse dauerhaft sicherzustellen. Die beiden Verfasser Rüdiger Haude und Thomas Wagner sind Kulturwissenschaftler. "Die Aufsätze von Haude und Wagner sind ein bedeutender Beitrag zur Weiterentwicklung der vorliegenden Anarchie-Theorien" (aus dem Vorwort von Christian Sigrist).
ZusammenfassungHaude und Wagner rufen in Erinnerung, dass es in der Geschichte und bis heute nicht-staatlich organisierte Gesellschaften in allen Erdteilen gibt, die egalitär sind. Sie existieren oft über mehrere Jahrzehnte hinweg und bilden ihre eigenen stabilisierenden, herrschaftsfreien Institutionen aus. Über diese Institutionen informiert das Buch anhand von praktischen Beispielen wie besonderer Haus- und Dorf-Architektur, ihrer Reproduktionsformen oder auch Alltagspraxen in Form von nivellierenden Spielen.
Details
ISBN/GTIN978-3-939045-37-3
ProduktartBuch
EinbandartKartoniert, Paperback
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum28.06.2019
AuflageDurchges. Neuaufl.
Seiten244 Seiten
SpracheDeutsch
Gewicht344 g
Illustrationenm. 12 Abb.
Artikel-Nr.46765830
Rubriken

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
InhaltZur zweiten AuflageVorwort von Christian SigristEinleitungKapitel 1Rüdiger Haude/Thomas Wagner:Herrschaftsfrohe Diskurse: Strategien und Tendenzen sozialwissenschaftlicher Anarchieverdrängung1. Institutionalismus oder Anti-Institutionalismus?2. Herrschaftsfixierung in der politischen Philosophie3. Herrschaftsfreiheit: ein Thema der frühen Sozialwissenschaft4. Liberale Tautologien und Widersprüche5. Ethnologische Ungereimtheiten6. Herrschaft ohne Politik 7. Institutionenanalytische Defizite bei sozialwissenschaftlichen Evolutionisten8. SchlussKapitel 2Rüdiger Haude/Thomas Wagner:Von der Utopie zur Wissenschaft: Politische Grundbegriffe im Hinblick auf herrschaftsfreie Gesellschaften1. Zwang2. Macht3. Herrschaft4. Autorität, Prestige, Führung5. Herrschaftsfreie Gesellschaft/Anarchie6. Egalitäre Gesellschaft7. SchlussKapitel 3Rüdiger Haude:Anarchie und Chaos: Fraktale Gesellschaften1. Soziologie und Fraktale2. Begriffsvorschlag: Fraktale Gesellschaften3. Die Dynamik fraktaler Gesellschaften4. Skaleninvarianz5. Fraktale Genealogie als Fiktion6. SchlussKapitel 4Thomas Wagner:An-architektur: Politische Aspekte der Siedlungsformen primitiver Gesellschaften1. Zur theoretischen Marginalisierung primitiver Architektur2. Kennzeichen egalitären Bauens3. Anthropomorphe Symbolik4. Grundmodelle staatsfeindlichen Bauens- Die Kreissiedlung- Die gestreute Gehöftsiedlung- Das irokesische Langhaus als egalitäres Wohnmodell und föderative Leitidee- Gemeinschafts- und Versammlungshäuser- Das Männerhaus: Männerherrschaft oder Geschlechtersymmetrie?5. Architektonischer Wandel durch Herrschaftsüberlagerung6. Einige Thesen zur Theorie egalitärer ArchitekturKapitel 5Thomas Wagner: Anarchistische Gleichmacher - Institutionelle Aspekte des Spiels in egalitären Gesellschaften1. Zur Institutionalität des Spiels2. Spiele und Egalität3. Zur Kategorisierung des Spiels4. Spiele in egalitären Gesellschaften5. ZusammenfassungKapitel 6Thomas Wagner:Casino Egalité: Glücksspiele und Wetten in herrschaftsfreien Gesellschaften1. Vorspiel2. Zufallsentscheidungen3. Traditionelle Gleichmacher 4. Karten- und Würfelspiele in Australien und Papua-Neuguinea5. Das Glücksspiel als Integrationsmechanismus6. Nachspiel: Das Glücksspiel als egalisierende InstitutionKapitel 7Rüdiger Haude:Das richterzeitliche Israel: eine anarchistische Hochkultur1. Entwicklung des antistaatlichen Paradigmas2. Ideologien der israelitischen Staatsfeinde3. Exkurs: Geschlechterverhältnis4. Entstehung des Staats und fortwährender Kampf gegen ihn5. War die Regulierte Anarchie Israels eine primitive Gesellschaft?Literaturverzeichnis Zur zweiten Auflage Literaturverzeichnis Herrschaftsfreie Institutionen PersonenverzeichnisVerzeichnis der Ethnien und geographischen Begriffemehr
Vorwort
EinleitungIn der Frühphase der spanischen Conquista in Mittelamerika referierte der Bakkalaureus Fernandez de Encisa die Antwort zweier Kaziken auf seine obligatorische Verlesung des Requerimiento, jenes Papiers, mit dem die Spanier den Eingeborenen ihren Herrschaftsanspruch erklärten und deren Unterwerfung einforderten: [Auf meine Ausführungen], daß es nicht mehr als einen Gott gebe und daß er über Himmel und Erde regiere und der Herr aller sei, sagten sie, das erscheine ihnen richtig und müsse wohl so sein; was aber den Papst betraf, daß er an Stelle Gottes Herr des ganzen Universums sei und den König von Kastilien mit diesen Ländern hier belehnt habe, dazu meinten sie, der Papst müsse besoffen gewesen sein, als er dies tat; denn er verteilte, was ihm nicht gehörte, und der König, der das Lehen erbeten und angenommen habe, müsse ein Narr sein, denn er fordere etwas, was anderen gehöre; er solle nur hierherkommen, um es in Besitz zu nehmen: dann würden sie seinen Kopf auf einen Pfahl stecken (Zitiert nach Engl/Engl 1991: 64).Der absurden Anmaßung des Abkömmlings europäischer Zivilisation antworten die Barbaren mit kausalen Deduktionen von logischer Stringenz. Ihr fröhliches Selbstbewusstsein verkennt freilich, dass die frühen Conquistadoren zwar nicht unbedingt Meister im Felde der Herrschaftslegitimation waren, dieses Defizit jedoch durch die Brachialität ihres Terrors mehr als aufzuwiegen verstanden. So wie Fernandez de Enciso an die Evidenz des von ihm vorgetragenen Requerimientos geglaubt haben mag, so hat man es auch heute - nicht zuletzt in sozialwissenschaftlichen Diskursen - oft mit Scheinevidenzen zu tun, wenn es um die Frage der Möglichkeit herrschaftsfreien Zusammenlebens geht: Herrschafts-Ontologisierung sitzt tief - Jahrtausende tief (vgl. vor allem Kap. 1). Was wir in diesem Buch unternehmen, ist der Versuch, sozusagen die Rolle der beiden Kaziken zu übernehmen und einige eingeschliffene Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen. Von barbarischen , wilden bzw. primitiven Völkern können wir dabei nicht nur einen vom Ballast jahrtausendelanger abendländischer politischer Philosophie unbeschwerten (und, wie wir im einleitenden Zitat gesehen haben: realitätstüchtigeren) Blick auf Fragen des Machtumgangs lernen, sondern auch eine faszinierende Kreativität institutioneller Lösungen des Problems ablesen, herrschaftsfreie Gesellschaften zu stabilisieren. Wenn wir uns in den Kapiteln 3-7 einigen dieser Lösungsmechanismen zuwenden, so soll dies nicht nur ein exotisches Unterfangen sein; es geht uns vielmehr um die Anregung von Phantasie im Hinblick auf die Frage, wie in unseren gegenwärtigen Gesellschaften der Abbau von Herrschaft ermöglicht werden kann. Dabei handelt es sich schon deshalb nicht um ein plattes Zurück-zur-Natur -Programm, weil wir eben durchgängig kulturelle Phänomene in den Blick nehmen. Und überdies ist kein Zurück in dem Sinne intendiert, dass nun irgendeine institutionelle Struktur eins zu eins auf nachindustrielle Gesellschaften applizierbar wäre. Aber das Mindeste, was zu leisten ist, ist der empirische Nachweis der anthropologischen Möglichkeit herrschaftsfreien Zusammenlebens. Inwiefern einzelne Mechanismen aus primitiven Gesellschaften Lösungen in modernen, hochkomplexen Gesellschaften anregen können, mag sich am Ende unseres Unternehmens klarer zeigen, von dessen Anfangsphase dieses Buch Rechenschaft ablegt. Wenn wir die Suche nach institutionellen Lösungen für das Ziel einer Minimierung von Herrschaft in unserer eigenen Gesellschaft unterstützen wollen, dann wäre es jedenfalls töricht, den reichhaltigen Fundus bereits durchgespielter Lösungen mit dem bloßen Hinweis auf deren Primitivität vom Tisch zu wischen. Mit Gewissheit können wir vielmehr einiges über die Bedingungen lernen, die erfüllt sein müssen, um die zur Herrschaft tendierende Macht institutionell zu bändigen. Es ist auch nicht ausgemacht, ob nicht einzelne Mechanismen etwa im Eigentumsrecht - der Pfeiltausch der wildbeutenden San (vgl. Luig 1995: 107); die systematische Deflation durch das israelitische Jubeljahr - unsere Phantasie auch konkret anregen dürften. Die fraktale politische Struktur typischer segmentärer Gesellschaften z.B. (Kap. 3) wäre, losgelöst vom verwandtschaftlichen Generierungsprinzip, durchaus erwägenswert für moderne politische Lösungen des Herrschaftsverhinderungsproblems. Aber primär geht es uns darum zu zeigen, dass es überhaupt lohnt, sich diesem Problem zu stellen und damit dem allseits grassierenden Fatalismus zu entgehen. Auch insoweit ist es motivierend festzustellen, dass der Geist jener zwei panamaischen Kaziken offenbar auch nach jahrhundertelanger herrschaftlicher Überformung noch gegebenenfalls aktualisierbar ist. Denn manche antikolonialistischen Befreiungsbewegungen der jüngeren Vergangenheit zeigten, dass traditionelle Formen radikaler Demokratie mit modernen Emanzipationsbewegungen fruchtbare Verbindungen eingehen können. So macht seit 1994 mit der zapatistischen EZLN im mexikanischen Chiapas eine indigene Demokratiebewegung auf sich aufmerksam, die gerade auch durch ihr explizites Anknüpfen an radikaldemokratische Formen indianischer Dorfgemeinden mehr zum Aufbrechen der bürokratisch gestützten Klassenstrukturen beiträgt als die seit einem Dreivierteljahrhundert regierende Partei der institutionalisierten Revolution . Angesichts dieser sozialen Realitäten ist es schwer erträglich, immer wieder zu erfahren, welche anthropologischen Schludrigkeiten sich sozialwissenschaftliche Autoren erlauben, die eigentlich eine emanzipatorische Zielsetzung verfolgen. Wenn man etwa, wie Horkheimer und Adorno (1981: 98) vom Schlagen und Beißen beim Geschlechtsakt der australischen Wilden schreibt, welches noch in der sublimiertesten Zärtlichkeit durchscheine, dann ist es freilich verständlich, dass man am Streben nach menschlicher Autonomie desperat wird. Nur ist eine solche Unterstellung bezüglich der Australier eben kaum empiriehaltig, ebenso wenig wie Freuds hobbistische Urhorde , an die sie wahrscheinlich anknüpft. Die Primitiven mögen (teilweise) Barbaren im Sinne des Evolutionismus Morganscher Spielart gewesen sein; Barbaren im Sinne der Dialektik der Aufklärung waren sie kaum. Uns scheint eher, dass Pierre Clastres Projekt einer kopernikanischen Wende den Versuch lohnt, wonach in der Anthropologie nicht mehr alle Kulturen um das moderne europäische Gesellschaftsmodell kreisen sollen wie die Himmelskörper um die Erde im vorkopernikanischen Weltbild; sondern es vielmehr an der Zeit sei, eine andere Sonne zu suchen und sich in Bewegung zu setzen (Clastres 1976: 26).Ein solcher Perspektivenwechsel ist mit der Gefahr verbunden, seinerseits projektiv einem pauschal verworfenen und abstrakt negierten Modell der eigenen Gesellschaftsform den Edlen Wilden als das fiktive Idealbild gewaltlos gelungenen Lebens (Fink-Eitel 1994: 9) entgegenzuhalten. Gerade die Fokussierung aber auf jene institutionellen Regulierungen, die egalitäre Verhältnisse stabilisieren helfen, zeigt deutlich, dass auch in solchen Anarchien mitunter einschneidende Zwangsmechanismen zur Geltung kommen. Die Einsicht in die von Sigrist beschriebenen Effekte des Hexereikomplexes oder Clastres Schilderung von Tatauierungspraktiken, die der schmerzhaften Einschreibung von egalitären Normen dienen, kann so als Korrektiv wirken gegen die Gefahr falscher Idyllisierungen. Jedoch bedeutet gerade hinsichtlich derartiger Phänomene (Hexerei; Initiation) das Auftauchen des Staates alles andere als einen Fortschritt. Die Herrschaftszumutung ist nicht der nolens volens zu entrichtende Preis für Zivilisierung. Insofern nehmen wir den eventuellen Vorwurf eines umgekehrten Ethnozentrismus gelassen entgegen.Gewiss ist es nicht so, dass wir mit diesem unserem Vorhaben regelrechte Pionierarbeit leisteten. Als Soziologen ohne ethnologische Felderfahrung sind wir in hohem Maße auf die Arbeiten von Ethnographen angewiesen, die wir einer sekundären Auswertung unterziehen. Und auch die theoretische Reflexion über herrschaftsfreie Vergesellschaftungsformen hat eine Tradition, an die wir anknüpfen. Für uns wichtig sind hier die Arbeiten von Pierre Clastres (vor allem die Staatsfeinde), insbesondere durch die strukturalistische Theorie des ohnmächtigen Häuptlingstums der Indianer. Danach ist das Häuptlingstum bei den südamerikanischen Tiefland-Indianern so institutionalisiert, dass in jeder Kommunikationssphäre (nämlich hinsichtlich des Austauschs von Gütern, von Worten und von Heiratspartnern) dem Häuptling die Reziprozität verweigert wird - er muss großzügig sein; er hat unausgesetzt unschuldige Reden zu halten; und er genießt das Privileg der Polygynie. Durch die Verweigerung des Tauschs in allen drei Sphären wird der politische Bereich , wie Clastres sagt, außerhalb der Gruppe institutionalisiert, von wo er keinen Einfluss auf die soziale Struktur nehmen kann (Clastres 1976: 43): daher die auffallende Machtlosigkeit indianischer Häuptlinge. Zur Absicherung der herrschaftsfreien Gesellschaftsstruktur tragen u.a. - von Clastres eindringlich geschilderte - institutionalisierte Teilzwänge im ökonomischen Bereich und egalitäre Subjektformierung im Prozess der Sozialisation bei.Als noch entscheidendere Anregung unserer Untersuchungen erwies sich die Theorie der Regulierten Anarchie, die Christian Sigrist erstmals 1967 als Auswertung der klassischen Studien von Evans- Pritchard, Fortes u.a. über afrikanische staatslose Ethnien vorlegte (Sigrist 1994). In diesen segmentären Gesellschaften tritt die gesellschaftliche Integration durch genealogische Abstammungs-Erzählungen an die Stelle der Integration durch herrschaftliche Zentralinstanzen. Sigrist zeigt, dass die Existenz politischer Spezialisten (analog zu den Häuptlingen bei Clastres), die er Instanzen nennt, durchaus mit dem Phänomen der Herrschaftsfreiheit kompatibel ist, sofern kein Erzwingungsstab die Durchsetzung von Befehlen bewirken kann. Als weitere Determinanten der Herrschaftsfreiheit stellt er vor allem das ausgeprägte Gleichheitsbewusstsein der Gesellschaftsmitglieder sowie Mechanismen der institutionellen Bändigung von Ungleichheitspotentialen (im ökonomischen Bereich etwa: die Eigentumsstreuung durch den Ausschluss der Bevorzugung eines Erben) heraus.Mit Sigrist verbindet uns seit einiger Zeit ein Gedankenaustausch, und wir sind ihm für mannigfaltige Anregungen, Kritik und Hilfestellung zu Dank verpflichtet.Auf die Beschäftigung mit Regulierten Anarchien stießen wir jedoch aus einer anderen Richtung: der Institutionentheorie. Von 1992 bis 1995 arbeiteten wir zusammen in dem von Karl-Siegbert Rehberggeleiteten DFG-Projekt Unverfügbarkeit und Reflexivität: Eine theoretische Analyse hochkultureller Formveränderungen von Institutionen , worin eine Anwendung und Präzisierung von Rehbergs Ansatz einer Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM) intendiert war. Die TAIM legt besonderes Gewicht auf die Analyse der symbolischen Darstellung institutioneller Ordnungen , wie sie sich typischerweise in ihren Leitideen verdichtet. Diese Dimension der Symbolizität wie auch jene der institutionellen Machtstrukturen werden nicht als statisch aufgefasst, sondern vor allem in ihren Phasen der Genese, Transformation und Deinstitutionalisierung untersucht. Dabei zeigt sich, dass institutionelle Mechanismen (wie Geltungsakkumulation, Autonomisierung oder Transzendierungsprozesse) nicht nur dort sich vollziehen, wo im traditionellen Verständnis Institutionen vorliegen (also etwa im Staat oder in einer Kirche), sondern in jeder Form menschlicher Interaktion zu beobachten sind. (6)Die Beschäftigung mit frühen Staaten zeigte nun, dass diese Gesellschaftstypen durch Abgrenzungen ebenso wie durch Relikte auf die vorangegangenen Formen (7) verweisen - eben auf vorstaatliche Gesellschaften, die ihrerseits eine Fülle institutioneller Lösungen zur Stabilisierung ihrer herrschaftsfreien Strukturen aufwiesen. Und hier erwies sich, dass die Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen zur Untersuchung herrschaftsfreier Gesellschaften ein sehr brauchbares Instrumentarium bereithält, weil sie sich von vornhereindarum bemühte, einen Kurzschluss von Herrschaftsinstitutionen aufs Institutionelle schlechthin zu vermeiden. Aber sind herrschaftsfreie Institutionen denkbar? Knüpft man an die Erkenntnis der Philosophischen Anthropologie an, wonach die Menschen infolge ihrer Instinktentbundenheit notwendig auf die Orientierungsfunktionen von Institutionen angewiesen und daher von Natur aus ... Kulturwesen (Gehlen) sind, so besteht die Gefahr, auch den institutionalistischen Schluss mitzuvollziehen, dass diese Institutionen notwendig Herrschaftsgebilde sein müssten. So hat Karl Markus Michel, als er 1969 die Institutionenkritik der APO resümierte, quasi schulterzuckend bemerkt, alle Entwürfe repressionsfreier Institutionen enthielten Prämissen, die ihrerseits Zwang implizierten (1969: 174). Aber diese Einsicht ist tautologisch. Zwang ist das Wesen von Institutionen - nicht jedoch Repression. Es mag nämlich auch institutionelle Zwänge geben, die gerade zum Verzicht auf Herrschaft zwingen. Eine kritische Institutionentheorie, die sich vom Institutionalismus à la Arnold Gehlen oder Carl Schmitt lösen will, muss empirische Institutionen also nicht nur nach ihren Entlastungsleistungen (Gehlen) befragen, sondern diese mit ihrer jeweiligen Belastung der Mitglieder und Insassen, der Adressaten- und Umfeldgruppen, kurz: mit ihrem Repressions- oder Herrschaftsgrad bilanzieren (Rehberg 1973: 116). Wenn die Repressionsdichte von Institutionen variabel ist, dann ist es eine zentrale Aufgabe kritischer Institutionentheorie, Hinweise auf Möglichkeiten einer Verringerung institutionalisierter Herrschaft zu geben. Den Grenzfall einer herrschaftsfreien Institution (in dem Sinne, dass dort die Institutionalisierung von Herrschaft institutionell verhindert wird) kann man dabei nur dann a priori ausschließen, wenn man die konservativen, hobbistischen anthropologischen Annahmen des Institutionalismus teilt, der Mensch sei von Natur aus auf Herrschaft, auf die Einbindung in Befehl-Gehorsams-Strukturen angewiesen. Gegen derartige Annahmen hat in den letzten Jahrzehnten vor allem die Ethnologie viel empirische Evidenz angehäuft.Die hier vorgestellten Texte können somit im Hinblick auf aktuelle Debatten auch zeigen, dass der Abbau von Herrschaft nicht als Entinstitutionalisierung missverstanden werden darf. Als ganz entscheidend für die Stabilisierung herrschaftsfreier Gesellschaften erwies sich immer wieder die symbolische Darstellung der egalitären Ordnung. Symbolizität als zentrale Dimension von Institutionen ist nun aber nicht auf vormoderne Gesellschaften beschränkt. Wer den Abbau von Herrschaft in gegenwärtigen sozialen Kontexten anstrebt, tut gut daran, Sensibilität für symbolische Darstellungen und Übung in symbolischen Kämpfen zu entwickeln. Auch hier geht es nicht darum, einen revolutionären Blueprint symbolischer Lösungen für herrschaftsfreie Gesellschaften zu fordern, geschweige denn anzubieten. Aber vielleicht lässt sich doch die Einsicht darin befördern, dass die Errichtung von Anarchien in erster Linie ein konstruktiver Akt ist; Sensibilität für die Prozesse, die sich auf dieser Ebene sozialen Wandels abspielen, kann unseres Erachtens keinesfalls schaden. Unsere hier versammelten Texte kreisen allesamt um die soeben angesprochenen Fragen; gleichwohl sind sie in dreifacher Hinsicht heterogen. Das betrifft erstens die thematische Ebene: Unseren Erörterungen um die Bestimmung der zentralen politischen Begriffe (Kap. 1 und 2) stehen exemplarische Analysen einzelner Symbolisierungsformen von Herrschaftsfreiheit gegenüber: spezifische Formen von Architektur (Kap. 4), Spiele (Kap. 5 und 6) sowie ein spezielles Glaubenssystem (Kap. 7). Kap. 3 bildet insofern einen Übergang zwischen beiden Bereichen, als es eine eigene Symbolisierungs- und Strukturierungsform, nämlich die genealogische Struktur segmentärer Gesellschaften, einer begriffsstrategischen Revision zu unterziehen vorschlägt - mit dem Gedanken, sie als fraktale Gesellschaften zu konzipieren. Zum Zweiten divergieren die Kapitel durch ihr unterschiedliches Alter. Kap. 7 ist im wesentlichen bereits Mitte 1995 fertiggestellt gewesen, während etwa Kap. 4 noch in der Phase der Aufbereitung für dieses Buch von uns diskutiert wurde. Die einzelnen Kapitel könntendaher hinsichtlich einzelner Aspekte einen verschiedenen Diskussionsstand widerspiegeln (dies betrifft aber wohl kaum unsere zentralen Thesen). Insofern mag die Sammlung eher einen Einblick in unsere Forschungs- Werkstatt liefern, als den Eindruck eines runden , homogenen Werks. Drittens schließlich sind die materialen Kap. 3 bis 7 heterogen im Hinblick auf die Gesellschaftstypen, auf welche Bezug genommen wird. Es kann ja nicht von einem Typus herrschaftsfreier Gesellschaft gesprochen werden, sondern es sind wichtige Unterscheidungen zu beachten. Zentral wäre z.B. die Differenzierung nach dem ökonomischen Kriterium, ob eine Ethnie vor oder nach der neolithischen Revolution zu platzieren ist. Im ersten Fall sprechen wir von Wildbeutern; im zweiten von Gartenbauern sowie Hirten-Nomaden. Ein Unter-Typus der letztgenannten Kategorie wären die segmentären Gesellschaften; sie sind Gegenstand des Kap. 3. Die Ethnie unserer Fallstudie im Kap. 7 wird in der Literatur zurecht ebenfalls als segmentäre Gesellschaft geführt; dennoch argumentieren wir, dass hier ein eigener Typus vorliegt, indem das schriftkulturelle richterzeitliche Israel eben nicht als primitiv kategorisiert werden kann, sondern eigentlich eine nachstaatliche Gesellschaft darstellt. In den Kap. 4 bis 6 schließlich ist der Ansatz typusübergreifend; hier werden Bau- respektive Spiel-Formen im Vergleich verschiedener herrschaftsfreier Gesellschaften analysiert. Die jeweilige - einzelne oder gemeinsame - Autorschaft haben wir über den Kapiteln vermerkt. Damit soll nicht davon abgelenkt werden, dass wir als Forscher-Duo jeden der hier abgedruckten Texte ausführlich diskutiert haben und dieser Zusammenarbeit nicht wenig verdanken. Kollegen, die hier vorgelegte Texte freundlicherweise vorab gelesen haben, äußerten sich irritiert darüber, dass wir, synonym mit dem Adjektiv herrschaftsfrei , gelegentlich den Begriff anarchistisch verwenden. In der Ethnologie und insbesondere bei den an Christian Sigrist anknüpfenden Autoren wird stattdessen von anarchischen Gesellschaften oder Strukturen gesprochen. Wir weichen davon ab, obwohl uns die Problematik bewusst ist, dass sich mit ismus die Vorstellung einer manifesten Ideologie verbindet. Eine solche unterstellen wir den primitiven herrschaftslosen Gesellschaften nicht. Aber es geht uns doch darum zu betonen, dass es sich um sociétés contre l État handelt, dass die Abwesenheit staatlicher Strukturen intentional ist und nicht irgendeinem Mangel geschuldet. Dies in Rechnung gestellt, wirft unseres Erachtens der Terminus anarchisch mehr Schwierigkeiten auf als sein Konkurrent anarchistisch . Und außerdem hilft bei unserer Entscheidung die Erkenntnis, dass ja auch der moderne Anarchismus kaum durch ausgefeilte ideologische Systeme aufgefallen ist, sondern vielmehr hauptsächlich durch den Wunsch vereint erscheint, Herrschaft von Menschen über Menschen abzuschaffen. Diesen Wunsch teilen wir und glauben, dass man auf dem Weg zu seiner Verwirklichung jedenfalls ein gewisses Stück vorankommen kann - wobei sowohl von den politischen Leitideen der Wilden gelernt werden kann, als auch von der daraus resultierenden institutionellen Phantasie. In diesem Buch umschiffen wir ein Problem, das für Theorien herrschaftsfreier Gesellschaften besonders heikel ist: die Frage der dort institutionalisierten Geschlechterverhältnisse.Die von Sigrist als Regulierte Anarchien beschriebenen afrikanischen Ethnien wiesen durchwegs eine patrilineare genealogische Struktur und eine privilegierte Stellung der Männer auf; und Clastres konzeptualisierte Frauen in seinen theoretischen Generalisierungen wesentlich als Tauschobjekte. Damit ist aber das letzte Wort zu dieser Frage nicht gesprochen, denn feministische Ethnologie hat inzwischen viel Evidenz für die Möglichkeit auch geschlechtsegalitärer bzw. geschlechtssymmetrischer Gesellschaften präsentiert. Wir selbst arbeiten zur Zeit an einer monographischen Veröffentlichung, in der wir unter anderem die auch innerfeministisch hier stark divergierenden Ansichten einer systematischen Sichtung und Bewertung unterziehen wollen. Insofern müssen wir die Leserinnen und Leser um etwas Geduld bitten. Geduld ist übrigens heuer nicht nur von der Leserschaft, sondern auch von Autoren gefordert. Wir haben seit 1995 versucht, verschiedene der Aufsätze, die diesem Buch zugrundeliegen, in sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften zu platzieren; aber es herrscht auf diesem Markt ein derartiges Gedränge, dass - ohne etablierten Namen und mit anarchistischem Touch - dort schwer Fuß zu fassen ist. Um so dankbarer sind wir dem Nomos-Verlag, der diesen Band (in erster Auflage) verlegt, sodann der DFG, die ihn mit einem Druckkostenzuschuss fördert, und schließlich Prof. Rehberg, der das Publikationsvorhaben bereitwillig unterstützt hat, dass sie uns die Veröffentlichung auf diesem Wege ermöglicht haben. Nun möge der kastilische König kommen, um unsere Ansichten zu widerlegen: Dann werden wir seinen Kopf auf einen Pfahl stecken!Rüdiger Haude und Thomas WagnerAachen und Dresden, im Oktober 1998Anmerkungen6 Das trifft schon auf intime Nahbeziehungen wie Liebe und Freundschaft zu, wo sich regelmäßig Begrüßungsrituale, Privatsprachen, Begehungen von Jahrestagen, der Austausch von Emblemen (Ringen) usw. einstellen. - Vgl. zum Design der institutionellen Analyse Rehberg 1990; 1994.7 Damit soll keine evolutionistische Stufenfolge evoziert werden, denn mit dem Auftauchen staatlicher Gebilde sind herrschaftsfreie Gesellschaften nicht zum Verschwinden gebracht. Dass von einer Entwicklungs- Einbahnstraße von herrschaftsfreien zu staatlichen Gesellschaften keine Rede sein kann, belegt exemplarisch die in Kap. 7 behandelte Fallstudie.mehr