Heute wird es unglaublich erscheinen, daß die ersten modernen Werke Mereshkowskijs fast ebenso aufgenommen wurden wie später die ersten Äußerungen der Futuristen. Dabei war er eigentlich gar kein Dekadenter, sondern nur ein Weggenosse der Dekadenten. Dmitrij Ssergejewitsch Mereshkowskij, 1865 zu Petersburg als Sohn eines höheren Beamten geboren, fing als Lyriker an. In seinen ersten Gedichten (1888 gesammelt erschienen) erinnert er stark an Nadson; 1892 folgte ein zweiter Band mit dem Titel Symbole, ein Vorläufer des Symbolismus, den es damals noch gar nicht gab. In den folgenden Jahren übersetzte er griechische Tragödien von Aischylos, Sophokles usw., unternahm eine Reise nach Griechenland und Italien und schrieb Ende der neunziger Jahre eine Reihe kritischer Aufsätze über russische und fremde Dichter, die eine ganz neue Wendung in der russischen Kritik bedeuteten und später unter dem Titel Ewige Gefährten gesammelt erschienen. Seinen ersten Roman Julian Apostata, der den ersten Teil der Christus und Antichrist betitelten Trilogie bildet, brachte Mereshkowskij nur mit großer Mühe im Nordischen Boten unter; die beiden letzten Teile Lionardo da Vinci und Peter und Alexej folgten 1896 und 1902. In der Pause zwischen den beiden letzten Romanen schrieb Mereshkowskij sein dreibändiges kritisches Monumentalwerk Tolstoi und Dostojewskij, das damals so unerhört gewagt erschien, daß es nur in der schon erwähnten Kunstzeitschrift, dem einzigen Asyl der Verstoßenen und Obdachlosen jener Zeit, Aufnahme finden konnte. Die nächsten Jahre brachten eine Reihe kritischer, politischer und religionsphilosophischer Aufsätze und die zweite Trilogie, die aus folgenden Teilen besteht: dem Drama Paul I. (1908) und den Romanen Alexander I. (1911) und Der 14. Dezember (1921). - Die großen, nur äußerlich historischen, in Wirklichkeit aber philosophischen Romane Mereshkowskijs sind sämtlich nach dem gleichen Prinzip aufgebaut; neben den eigentlichen, historisch anerkannten Helden tritt immer auch eine, zwar ebenfalls historische, aber weniger bekannte Person auf (so der Maler Beltraffio im Lionardo oder der Dekabrist Valerian Golizyn in Alexander I.), die, vorzugsweise in einem Tagebuch, des Verfassers Gedanken ausspricht. Das Historische ist, obwohl es immer auf sehr eingehenden Studien beruht und überaus plastisch und überzeugend wirkt, nur ein Vorwand, das Philosophisch-Religiöse das eigentliche Ziel. So sind die Romane Mereshkowskijs ausgesprochene Tendenzromane; das Unerhörte an ihnen war aber die Tendenz. Es wurde Mereshkowskij oft genug vorgeworfen, daß er seine Stellungnahme zu verschiedenen Problemen - wie Christentum, Hellenismus, Tolstoi usw. - oft geändert habe. Wenn man aber sein ganzes Werk überblickt, erkennt man die folgerichtige Evolution einer einzigen Idee. Ursprünglich lautete sie, wie er sie selbst im Lionardo dem Machiavelli in den Mund legt: »Mir scheint, daß wir Menschen Christus entweder annehmen oder verwerfen müßten. Wir haben aber weder das eine noch das andere getan und sind weder Christen noch Heiden. So haben wir uns zwischen zwei Stühle gesetzt. Wir sind zu schwach, um gut, und zu feige, um schlecht zu sein. Wir sind weder schwarz noch weiß, sondern grau. Im ewigen Schwanken zwischen Christus und Belial sind wir so verlogen, so kleinmütig geworden, daß wir heute selbst nicht wissen, was wir wollen und wohin wir streben.« Mereshkowskij strebte also eine höhere Synthese zwischen der »himmlischen Wahrheit« - dem Christentum - und der »irdischen Wahrheit« - dem Heidentum -, zwischen Christus und Antichrist an. Später erkannte er die Idee der Verbindung von Christus und Antichrist als blasphemisch und fand, daß die beiden Wahrheiten, die irdische und die himmlische, schon in Christus selbst enthalten seien. Der ursprünglichen Verirrung im Religiösen entsprach auch eine im Politischen: im Werke Tolstoi und Dostojewskij vertrat er noch den Standpunkt, daß die russische Autokratie zur Theokratie, dem Reiche Gottes auf Erden, führen könne. Allmählich sah er aber ein, daß die Kraft der Autokratie eine negative und dämonische sei und daß die Mißerfolge der russischen Revolutionäre eben darauf beruhten, daß sie die negativ-religiöse Bedeutung der Autokratie nicht erkannt hätten.Alexander Eliasberg