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Bis ich wieder atmen konnte

TaschenbuchKartoniert, Paperback
264 Seiten
Deutsch
Nonsoloerschienen am15.10.20222. Aufl.
Sex, Drugs & Rock'n Roll - so lautet das Motto des passionierten Musikers und Sportlers Lorenzo, bis ihn mit 26 Jahren das Schicksal einholt : Bei einem Skiunfall verletzt er sich an der Wirbelsäule, wird querschnittsgelähmt. Fortan ist er an den Rollstuhl gefesselt, seine Hände kann er nicht mehr bewegen, vom alten Ich bleibt kaum etwas übrig. Nach langen, schmerzhaften Monaten in einer Reha-Klinik beschließt er, sich selbst noch mal eine Chance zu geben und kämpft sich zurück ins Leben. Wie nach einem langen Tauchgang kann endlich wieder Luft holen.Amurris autobiografische Erzählung ist atemberaubend intensiv. Kristallklar erzählt, emotional zutiefst ergreifend und flüssig im Stil, lässt sie uns mit dem Protagonisten leiden, hoffen, lachen. Es ist wie ein Sog, der uns dieses Buch kaum aus der Hand legen lässt.Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Europäischen Union und Finalist des Premio StregaÜbersetzt von Ruth Mader-Koltay. Titel der Originalausgabe: Apneamehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR22,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextSex, Drugs & Rock'n Roll - so lautet das Motto des passionierten Musikers und Sportlers Lorenzo, bis ihn mit 26 Jahren das Schicksal einholt : Bei einem Skiunfall verletzt er sich an der Wirbelsäule, wird querschnittsgelähmt. Fortan ist er an den Rollstuhl gefesselt, seine Hände kann er nicht mehr bewegen, vom alten Ich bleibt kaum etwas übrig. Nach langen, schmerzhaften Monaten in einer Reha-Klinik beschließt er, sich selbst noch mal eine Chance zu geben und kämpft sich zurück ins Leben. Wie nach einem langen Tauchgang kann endlich wieder Luft holen.Amurris autobiografische Erzählung ist atemberaubend intensiv. Kristallklar erzählt, emotional zutiefst ergreifend und flüssig im Stil, lässt sie uns mit dem Protagonisten leiden, hoffen, lachen. Es ist wie ein Sog, der uns dieses Buch kaum aus der Hand legen lässt.Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Europäischen Union und Finalist des Premio StregaÜbersetzt von Ruth Mader-Koltay. Titel der Originalausgabe: Apnea
Details
ISBN/GTIN978-3-947767-09-0
ProduktartTaschenbuch
EinbandartKartoniert, Paperback
Verlag
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum15.10.2022
Auflage2. Aufl.
Seiten264 Seiten
SpracheDeutsch
Gewicht320 g
Artikel-Nr.50546061
Rubriken

Inhalt/Kritik

Leseprobe
KAPITEL 1: Zwischen Traum und WirklichkeitEs ist fast Mittagszeit.Ich fahre gerade Ski zusammen mit meiner Freundin, also eigentlich fahre ich ihr voraus, denn sie ist zu langsam.Es ist fast Mittagszeit. Mein Gesicht steckt im Schnee. Ich höre nichts mehr, so als wäre ich in einem Wattebausch. Ich kann nicht atmen. Jemand nimmt meinen Kopf zwischen die Hände und dreht ihn um: Ich atme wieder.Jetzt bin ich in einer Art Garage, es sieht aus wie in einer Autowerkstatt. Es kommt mir so vor, als hätte ich eine Person vor mir, die mir den Rücken zudreht, und eine hinter mir, die meinen Kopf berührt, aber ich kann sie nicht klar erkennen. Ich habe Durst. Jemand gibt mir zu trinken. Ich spüre, wie die kühle Flüssigkeit bis hinunter in meinen Magen rinnt und noch weiter; ich spüre sie in der Blase und kann sie dort nicht halten; dann spüre ich sie zwischen meinen Beinen - das ist sehr schön, vergleichbar mit einem Orgasmus.Die Garage ist der Rettungshubschrauber, der mich ins Krankenhaus transportiert. Ich bin wach, aber mein Bewusstsein irrt geschockt umher und baut sich eine Verteidigung aus Halluzinationen auf, die das verwischt, was in Wirklichkeit geschieht. Man wird mir später sagen, dass viele, die nach schweren Unfällen im Hubschrauber transportiert werden, berichten, in einer Garage gewesen zu sein; man wird mir auch sagen, ich hätte bei der Ankunft in der Notaufnahme erzählt, jemand habe mir zu trinken gegeben, was einen Moment allgemeiner Panik verursachte. Wenn das tatsächlich jemand getan hätte, wäre ich nicht mehr hier, um zu schreiben.Es überrascht mich, zu sehen, dass sie an der Strandpromenade von Ostia ein amerikanisches Krankenhaus errichtet haben. Auch die Krankenwagen sind amerikanisch: klobig, fast quadratisch und voller Lampen und Blinklichter. Ich liege auf der Motorhaube eines Autos direkt vor dem Eingang, um mich herum tobt eine Schlacht. US-Marines kämpfen gegen Guerilleros einer nicht näher definierten afrikanischen Ethnie: Rauch, Projektile, Explosionen. Ich schaffe es nicht, aufzustehen. Ich glaube nicht, dass ich verletzt bin, habe aber große Schwierigkeiten, mich zu bewegen, ich kann nur ein passiver Zuschauer dessen sein, was vor sich geht. Die Afrikaner versuchen einen Staatsstreich, gegen welchen Staat, könnte ich nicht sagen, und sprengen sich in die Luft. Aber nicht wie die islamischen Terroristen mit einer Ladung TNT - diese hier fangen an zu glühen wie Lava und gehen in die Luft. Es sieht aus wie eine chemische Reaktion, eine Art explosive Selbstentzündung. Über dem Eingang zur Notaufnahme ist ein goldfarbenes rechteckiges Gitter. Dahinter versteckt sich ein Guerillero, der allmählich die Farbe wechselt: von Schwarz über Orange bis hin zu Feuerrot. Ich versuche verzweifelt, auf mich aufmerksam zu machen, um die Marines zu warnen, schaffe es aber nicht, zu schreien: Aus meinem Mund kommt kein Ton. Ich drehe mich auf die Seite und sehe einen großen Bus, einen Reisebus. Er steht vor mir und teilt sich in der Mitte: durch irgendeine Vorrichtung trennt sich der hintere vom vorderen Teil, bleibt jedoch mit ihm verbunden. Die Karosserie teilt sich, während das Fahrgestell sich verlängert. Seitlich steht eine Plattform mit einem Loch in der Mitte heraus, über dem ein glühender Guerillero hängt. Unter der Plattform, wo noch eine Minute vorher Asphalt war, öffnet sich ein gewaltiger Abgrund. Die Szene erinnert vage an ein Piratenschiff, bei dem jemand von einem Brett in ein Meer voller Haifische springen muss. Tatsächlich wird der schwarze Mann in das Loch gestürzt, bevor er explodiert.Plötzlich finde ich mich im Inneren des Busses wieder. Ich sitze vorn, und die Rückenlehne des Sitzes ist vollständig nach hinten geklappt. Neben mir steht ein weißhaariger Mann und spricht mich an: Bist du der Sohn von Antonio und Milvia? Ja. Dann musst du dir keine Sorgen machen, es wird dir nichts geschehen. Die Stimme des Mannes ist fest und beruhigend, aber ich habe Angst vor ihm: Er ist der Anführer der Guerilleros.Die Operation an der Wirbelsäule dauert neun Stunden, die Verletzung ist sehr schwer. Gar nicht zu reden von der Fraktur am Handgelenk, der verrenkten Schulter, der gebrochenen Nase und den Schnittwunden am Kopf. Sie ersetzen mir einen zertrümmerten Wirbel durch ein Stück Darmbeinkamm, das ist einer der Hüftknochen; eigentlich bräuchte es Titanplatten, aber es sind keine verfügbar, und ich kann nicht warten, bis welche kommen.Der größte Nachteil ist, dass ich fixiert sein muss, mein Hals muss für drei Monate gerade bleiben. Sie müssen mir einen Halo-Fixateur anlegen: eine Krone, an vier eiserne Streben geschraubt, die ihrerseits mit Schrauben am Schädel befestigt werden. Das Ganze wird gehalten von einem Korsett aus Hartplastik, das Schultern und Brust bedeckt und bis in die Magengrube reicht. Auch auf den Halo muss ein paar Tage gewartet werden, aber da ich den Hals bewegen kann - er ist der einzige Teil meines Körpers, über den ich im Augenblick das Kommando habe -, beiße ich in die Schläuche, die Luft in meine Lunge pumpen. Also beschließen sie, einen Luftröhrenschnitt zu machen und mich in ein künstliches, ein pharmakologisches Koma zu versetzen.Es ist dunkel und still, aber ich bin nicht allein. Vier weiße Scheinwerfer gehen gleichzeitig an und bilden einen Kreis. Einer ist senkrecht über meinem Kopf, die anderen beleuchten jeweils: John Paul Jones mit seinem Bass, Jimmy Page mit seiner Gitarre und jemanden am Schlagzeug, den ich nicht deutlich sehen kann. Ich nehme wahr, dass auch noch andere Leute da sind, die sehe ich aber nicht. Es ist, als wären wir auf einer runden Bühne mit Stufenrängen ringsherum, voll mit schweigenden Schatten. Plötzlich habe ich eine Gitarre im Arm, und wir fangen an zu spielen. Ich spiele mit zwei Rocklegenden, bin aber gar nicht aufgeregt; ich habe wahnsinnig Spaß, bin glücklich. Meine Hände bewegen sich geschickt auf dem Griffbrett, und die Noten von Stücken, die ich nie geübt habe, fliegen dahin und zeichnen sich vor dem Himmel ab wie ein Schwarm Zugvögel vor dem Abflug. Ich weiß nicht, wie lange die Session gedauert hat - auch deshalb, weil die Zeit in diesem Augenblick kein relevanter Faktor ist; und selbst wenn so ein Jam ewig dauern würde, wäre es immer noch zu kurz - und ich kann mich auch nicht genau erinnern, was wir gespielt haben. Ich sitze auf dem Schlagzeughocker mit den Stöcken in der Hand. Um mich herum sehe ich jetzt niemanden mehr, auch nicht die Musiker: Ich kann aber gar kein Schlagzeug spielen. Ein blendend heller Schein haut mich fast um.Ich bin am Londoner Flughafen, ich muss nach Hause, nach Rom. Ich bin im Flugzeug und sehe mich von außen; ich sehe mich mit der Stewardess reden, sitze aber eigentlich ein paar Reihen weiter weg. Ich bin in Fiumicino und gehe aus dem Flughafengebäude. Es regnet in Strömen, und niemand ist gekommen, um mich abzuholen. Ich habe kein Geld und weiß nicht, wie ich nach Hause kommen soll. Ich sehe einen blauen Bus vom italienischen Militär, er scheint leer zu sein. Ich steige ein, und auf dem Fahrersitz finde ich eine Carabinieri-Mütze: Ich setze sie mir als Verkleidung auf den Kopf und versuche, das Gefährt zu starten, ich bin sicher, dass mich keiner bemerkt. Dabei ist der Bus voll mit Carabinieri, die von der Feuchtigkeit beschlagenen Fenster hatten mich getäuscht. Gleich stehen zwei von ihnen da, halten mich fest und legen mir Handschellen an. Ich versuche, um meine unverzügliche Freilassung zu feilschen: Wieviel wollen Sie, um mich gehen zu lassen? Soll ich Ihnen gleich zwei Schecks ausstellen? Am Ende einigen wir uns auf eine Million pro Kopf. Ohne den anderen Kollegen die Situation zu erklären, nehmen sie mir die Handschellen wieder ab und lassen mich frei, hinaus in den Regen.Der Halo-Fixateur ist jetzt da und wurde auch schon an mir befestigt; der Augenblick ist gekommen, mich aus dem Koma aufzuwecken. Ich öffne die Augen, und das erste, was ich wahrnehme, ist ein Gitter an der Wand vor mir, genau wie das, wo sich der afrikanische Guerillero versteckt hatte. Ich starre es misstrauisch an und versuche zu erkennen, ob der noch nicht explodierte Typ immer noch dahinter ist. Willkommen zurück , ein weißhaariger Mann im Arztkittel steht neben meinem Bett, ich bin Doktor Mammini. Ich schaue ihm ins Gesicht, es ist der Anführer der Guerilleros. Aber was macht der hier? Und vor allem: wo ist das - hier ? Dabei weiß ich eigentlich, wo ich mich befinde, aber mein Bewusstsein sträubt sich, das vollständig zu erfassen. Über meinem Kopf hängt ein quadratisches Gestell an einer Kette herunter, es erinnert an das Brett, das während des Staatsstreiches aus dem Bus ragte. Zwei Pfleger kommen: Hallo, na, wieder wach? Auch sie erinnern mich an jemanden. Vielleicht sind es Schauspieler, die ich in irgendeinem Film gesehen habe. Sie sind so vertraut, aber zugleich total unbekannt. Ich sage nichts. Ich weiß es noch nicht, aber auch wenn ich es versuchen würde, käme kein Ton heraus, wegen des Luftröhrenschnitts und der Beatmungsmaschine, an die ich angeschlossen bin. Einer der beiden Pfleger tritt auf mich zu: Dann machen wir uns jetzt mal bereit, gleich kommt deine Familie. In nur einem Augenblick füllen sich die Glasscheiben, die die Intensivstation umgeben, mit Menschen. Ich kann sie nicht gut erkennen, es sind nur Schatten, aber sie sind da. Der andere Pfleger bringt mir den Hörer einer Sprechanlage und befestigt sie mir am Halo, auf Höhe des Ohrs. Sein Gesicht ist zu einer Grimasse verzerrt, aber er wirkt freundlich. Er kontrolliert die Befestigung der Beatmungsmaschine am Luftröhrenschnitt, und für einen Moment bleibt mir die Luft weg. Hey, Lo, hörst du mich? , eine Stimme kommt aus dem Hörer und dringt in mein Ohr, sie ist sehr vertraut, es ist meine Schwester: Hörst du mich, Lorenzo? Ja, ich höre dich, Valentina. Aber wo bin ich? Wer sind die ganzen Leute, die mir so bekannt vorkommen? Was ist hier eigentlich los? Es gäbe so vieles, was ich dich fragen möchte, aber meine Lippen formen einen Satz, mit dem du nicht gerechnet hast: Du musst auf die Bank und zwei Schecks sperren, die habe ich zwei Carabinieri ausgestellt, die mich verhaften wollten. Schweigen.Ich kann mir vorstellen, was im Kopf meiner Schwester los ist, als die Ärmste versucht, meinen Befehl zu interpretieren. Intelligent wie sie ist, findet sie gleich eine logische Erklärung: Sei ganz beruhigt, die Rate für deinen Hauskredit hab ich schon bezahlt. Du hast mich nicht verstanden, du sollst die Schecks sperren, die will ich nicht bezahlen! , antworte ich gereizt.Wieder Schweigen.Die unbestimmte Angst, die in der abgestandenen Luft des Besucherkorridors der Intensivstation herumwabert, wird für einen Moment konkret: Er hat einen Hirnschaden. Aber diese Sorge wird sogleich von der ersten Frage meines wiedererwachten Bewusstseins weggefegt: Ich kann nicht mehr laufen, oder? KAPITEL 2: Der Flug der HoffnungDer Krankenwagen flitzt in Richtung Flughafen Ciampino, eskortiert von einem Polizeiauto. Ein Jet der Rega, einer privaten Rettungsgesellschaft, wartet auf meine Ankunft, um mich nach Zürich zu transportieren, genauer in die Universitätsklinik Balgrist, die auf Rehabilitation bei Rückenmarksschäden spezialisiert ist. Ich liege auf der Trage, eingepackt, wie es sich gehört. Der Arzt, der mich begleitet, sitzt am Fenster, in die Lektüre einer Zeitung vertieft. Die ganze Fahrt über würdigt er mich keines Blickes, er scheint fast genervt zu sein von dem langweiligen Auftrag, den man ihm verpasst hat. Warum sollte er sich auch um mich kümmern? In seinen Augen bin ich nichts anderes als ein Postpaket, das seinem Empfänger zugestellt werden muss. Er wird wohl kein großer Doktor sein, wenn sie ihm so eine Briefträger-Aufgabe geben - ohne dass ich damit die Briefträger beleidigen wollte. Der einzige, der mich ab und zu fragt, wie es mir geht, ist der Pfleger. Der Fahrer schimpft die ganze Zeit im Dialekt auf das Polizeiauto, das er bezichtigt, zu schnell zu fahren: Wenn die weiter so rasen, die Deppen da vorne, dann brauchen wir den Krankenwagen bald selber! Wir sind am Ziel. Man lässt mich noch ein paar Minuten auf der Startbahn warten, während sie eine kleine Winde richten, um mich damit an Bord zu heben. Der Himmel ist so blau, wie ich ihn noch nie gesehen habe, und die Luft ist die frischeste und sauberste, die ich je geatmet habe. Nach anderthalb Monaten Intensivtherapie unter Tage ist es, als würde ich alles zum ersten Mal empfinden. Nach anderthalb Monaten an der Beatmungsmaschine; nach diversen Bronchoskopien; nach einer Pankreatitis; nach Magnetresonanztomografien, ACTs und bildgebenden Verfahren verschiedenster Art; nachdem ich eine Tonne Beruhigungsmittel geschluckt habe; nachdem Nadeln jeglicher Größe in mich hineingestochen wurden; nach einem Herzstillstand; nachdem ich den Geruch des Todes überall um mich herum wahrgenommen habe - bin ich jetzt also hier. Und warte darauf, in die Arme der Magier jenseits der Alpen zu fliegen, die mit ihren Kenntnissen meine Hände wieder zum Leben erwecken sollen. Denn das wurde mir gesagt: Die Beine wirst du nie mehr bewegen können, aber für deine Hände kann man vielleicht etwas tun.Die Hände, es zählen nur die Hände.Ich habe nur sehr vage Erinnerungen an die Zeit, die ich auf der Intensivstation des Krankenhauses von Terni verbracht habe. Größtenteils Bilder und Empfindungen. Angenehme Momente: der Körperkontakt mit meinem Bruder und meiner Mutter, die bei zwei Gelegenheiten die Erlaubnis erhalten hatten, die Station zu betreten; die Worte, die ich mit Hilfe der Fernsprechanlage mit Freunden und mit meiner Verlobten wechseln konnte; die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit einiger Schwestern und Pfleger, die mit mir redeten und versuchten, mir Kraft zu geben. Und harte und schmerzhafte Momente: wenn sie mich auf das metallene Gestell mit den Ketten hievten, um mich zu waschen und die Bettwäsche zu wechseln; wenn ich den diensthabenden Stationsarzt um gewaltige Dosen Beruhigungsmittel bat; der Tag, als sie mich auf die Seite gedreht hatten und ich die Reihe sterbender Patienten um mich herum sehen konnte, und der andere, an dem ich mitbekommen hatte - durch die Lautäußerungen und die aufgeregten Bewegungen des Personals - dass einer von ihnen gerade gestorben war. Ich erinnere mich, dass ich nicht verstand, warum sie mir sagten, mein Körper sei fast vollständig ohne Gefühl: Ich fasste mir an den Bauch und spürte ihn doch, dabei war mir nur noch nicht klar, dass es die Hand war, die die Berührung fühlte, und nicht anders herum. Und es gab einen besonderen Geruch, den ich so nie wieder gerochen habe: eine Mischung aus chemischen Putzmitteln und den Ausdünstungen, die den reglosen Körpern meiner Unglücksgefährten entströmten. Einen Geruch nach Medikamenten, der durch die Poren jedes Einzelnen verändert und personalisiert wurde; ein Konzentrat aus Gedanken, Hoffnungen und Träumen, die sich miteinander verbanden wie die Zutaten eines Rezepts und in der eingeschlossenen Luft der Station hängenblieben, zwischen Leben und Tod. Ich erinnere mich auch, dass es bei einem der ersten Gespräche mit meinem Bruder um Sex ging. Ich sollte mir keine Sorgen machen, meinte er, ich würde trotz der Lähmung perfekt dazu imstande sein: Tetraplegiker können Dates haben. Ich war ein paar Minuten stumm geblieben, konnte den Satz nicht verstehen. Was meinst du damit? Bei Tetraplegikern, da funktioniert zwischen den Beinen alles, bei Paraplegikern in den meisten Fällen nicht. Und was bin ich, Paraplegiker oder Tetraplegiker? Tetraplegiker, Lo, du bist Tetraplegiker. Das hatte er mit einer gewissen Befriedigung gesagt. Dieses Wort machte mir Angst, es beschrieb mich und steckte mich in eine Ecke, aus der ich nicht mehr herauskommen würde, wie ein Dieb im Gefängnis, dabei hatte ich gar nichts gestohlen, im Gegenteil, mir war etwas gestohlen worden. Ich hatte dann schließlich begriffen, dass er seinen ersten Satz in einer Fachzeitschrift aus den Vereinigten Staaten gelesen hatte: Quadriplegics can have dates . Das Wort date bedeutet in Amerika auch Sex. Mein Bruderherz hatte nicht lang gefackelt. Das Internet war damals noch nicht die wunderbar labende Nachrichtenquelle von heute, und so hatte er sich über seine zahllosen Bekannten sämtliches auf Papier verfügbares Menschheitswissen über Wirbelsäulenverletzungen zuschicken lassen. Das Lustige daran ist, dass es unter der großen Anzahl von medizinwissenschaftlichen Artikeln, die er sich offenbar tagelang reingezogen hatte, ausgerechnet der über den Sex war, den er mir mit größter Aufregung zitierte. Du wirst keine Musik mehr machen können, wird er sich gedacht haben, aber dein Schniedel funktioniert noch. Mich freute das nicht besonders, im Gegenteil, ich fand seine Bemerkung sogar eher unpassend. Bevor die gewaltigen Dosen Beruhigungsmittel, die sie mir spritzten, seine Worte verflüssigten, hatte ich mich noch gefragt, was Sex für eine Bedeutung haben konnte angesichts der katastrophalen Lage, in der ich mich befand. Den Satz hatte ihm sein Mitleid diktiert, er wusste nicht, was er mir zur Ermutigung sagen konnte, und so war ihm das wie eine großartige Nachricht erschienen, ein Licht, dem ich folgen konnte in dem pechschwarzen Dunkel, das mich umgab. Tatsächlich war das eine wunderbare Nachricht, aber um deren Bedeutung zu verstehen, würde ich noch viel Zeit brauchen.Es ist Februar, aber mir ist heiß, eine unerträgliche Hitze. Sie hieven mich an Bord und positionieren mich in einer extra dafür vorgesehenen Nische mit Fenster, ausgestattet mit allem, was mir nützlich sein könnte: vom Sauerstoff bis zum Defibrillator. Auch im Flugzeug ist es heiß: Johanna richtet den kleinen Luftstrom auf mein Gesicht. Im Inneren der Intensivstation waren keine Besuche zugelassen, ich konnte die Menschen nur durch die umgebenden Glasscheiben sehen, und für die Verständigung befestigten sie mir ein Fernsprechgerät am Halo, neben dem Ohr. Jetzt kann ich sie berühren, ihre Hände spüren, aber ich habe keinen Antrieb, es zu tun. Es ist immer noch nebensächlich im Vergleich zu dem, was hier gerade los ist, oder ich weiß einfach noch nicht, wie es geht. Das Flugzeug hebt ab. Ich höre, wie Johanna mit dem verantwortlichen Arzt und mit der Krankenschwester-Stewardess spricht. Ich verstehe nicht, was sie sagen, und es interessiert mich auch nicht.Ich fliege nicht gern. Wenn meine Hände funktionieren würden, könnte ich mich durch Gitarrespielen ablenken. Auf einem Rückflug aus Amerika vor ein paar Jahren hatten mich zwei sehr sympathische Stewards gebeten, ihnen etwas vorzuspielen. Damals durfte man die Gitarren noch mit in die Kabine nehmen. Auf meinen Einwand, ich hätte Angst, die anderen Passagiere zu belästigen, hatten sie amüsiert geantwortet: Spiel du nur, um die Passagiere kümmern wir uns schon. Zehn Minuten Blues hatten gereicht, um sie zufriedenzustellen und mir eine Reise mit First-Class-Service zu verdienen.Ich schaue aus dem Fenster: Das Blau des Himmels ist jetzt noch intensiver. Und wenn das Flugzeug abstürzt? Das wäre der Gipfel des Unglücks. Ich sehe schon die Überschriften vor mir: Nach schwerem Unfall Absturz mit dem Flieger, der ihn in die Spezialklinik bringen sollte. Vielleicht wäre es aber auch nur ein Unglück für meine Mitreisenden, ich bin ja ohnehin schon fast im Jenseits. Mit diesem Gedanken, der sich in meinem Kopf ausbreitet, schließe ich die Augen. Als ich sie wieder öffne, sind wir bereits gelandet, und sie verladen mich gerade in den Krankenwagen.Mir ist immer noch heiß, ich kriege keine Luft.Während der Arzt und Johanna sich weiter unterhalten.Er erzählt ihr praktisch sein ganzes Leben, seine Zukunftspläne: dass er seine Arbeit liebt und gerne der Vereinigung Ärzte ohne Grenzen beitreten würde, um durch die Welt zu reisen und seinem Nächsten zu helfen. Er baggert sie schamlos an, der kleine Doktor, fehlt nur noch, dass er sie gleich fragt, ob sie mitkommen will. Ich mache auf mich aufmerksam, indem ich ein schnalzendes Geräusch mit dem Mund produziere, wie wenn man auf einem Pferd reitet oder eine Katze lockt. Diese Methode habe ich während meines Aufenthalts auf der Intensivstation angewendet, es ist meine einzige Möglichkeit, mir Gehör zu verschaffen, seit ich den Luftröhrenschnitt habe. Mach ein Fenster auf, hier drin kann man ja nicht atmen. Johanna gibt das Ansinnen an den kleinen Doktor weiter, der lachen muss: Aber es ist doch kalt draußen, wir haben Februar. Warum kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Scheiß und machst dieses verdammte Fenster auf, statt dich an meine Freundin ranzuschmeißen? Und du hör auf, mit diesem Idioten zu flirten und mach eben du das Fenster auf! Tatsächlich, wenn man sich die Situation vor Augen führt und den Verlauf unserer Beziehung in den vergangenen Monaten, wäre es für sie keineswegs eine schlechte Idee, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Auf der Flucht mit dem kleinen Doktor in seinem Privatjet würde sie mit einem Schlag gleich zentnerweise Probleme von sich abschütteln. Möglich, dass sie gerade selbst darüber nachdenkt. Meine Stimme verliert sich in der Kanüle, und meine Lippenbewegungen lassen sich nicht entziffern. Trotzdem nimmt Johanna meine Beunruhigung wahr und lässt das Fenster einen winzigen Spalt breit öffnen, aber das Ergebnis ist dasselbe: Es ist immer noch zu heiß.Jetzt sind wir bei der Klinik. Der Übergang vom Krankenwagen ins Innere des Gebäudes ist wunderbar; es ist wirklich kalt, aber genau das ist es, was ich gebraucht habe, nur schade, dass es viel zu kurz dauert. Der kleine Doktor führt die Übergabeformalitäten durch: Anderthalb Stunden Flug und zwanzig Minuten Krankenwagen für schlappe zehntausend Dollar, und on top noch eine geile blonde Schwedin. Da hat er dieses Mal wirklich Schwein gehabt.Ich treffe auf meine Schwester Valentina, die vorausgefahren ist, um die allfällige Bürokratie abzuwickeln. Sie ist die pragmatische Figur in unserer Familie. Gut darin, Situationen zu managen und Problemlösungen zu finden. Sie hat schon immer einen Gang mehr drauf gehabt. Manchmal übertrieb sie es damit, mein Leben organisieren zu wollen, aber das tat sie nur, weil sie sich Sorgen um meine Zukunft machte. Viele Jahre älter als ich, war sie nicht nur eine Schwester, sondern eine Mutter für mich. Seit unser Vater tot ist, ist sie meine wichtigste Bezugsperson geworden.Die Klinik scheint sehr groß zu sein, soweit ich das im Liegen erkennen kann, mit hohen Decken und vielen Glasfronten. Auf die breitesten davon sind große schwarze Vogelsilhouetten aufgeklebt; wie man mir später erklären wird, sollen sie verhindern, dass die im umliegenden Park lebenden Vögel dagegenprallen. Die Intensivstation hier ist ganz anders als die italienische: Besuche sind ohne zeitliche Beschränkung gestattet, und die Glaswand hier ist sehr groß und geht auf den Park hinaus. Ich bin umgeben von Pflegern und Ärzten, die sich an meinem gefühllosen Körper zu schaffen machen, das einzige, was ich spüre, ist die Kanüle, die sie mir in den Arm schieben. Alle sind sie sehr beschäftigt, bis auf eine Schwarze, die im Vergleich zu den anderen sehr groß ist und mich lächelnd anschaut, ein beruhigendes Lächeln. Allzu viele unbekannte Gesichter auf einmal machen mich nervös. Als hätten sie meinen Gedanken gelesen, lassen sie mich fast gleichzeitig in Ruhe. An ihrer Stelle tauchen, wie durch Zauberei, Johanna und Valentina auf. Sie streicheln mein Gesicht und meine Arme. Plötzlich wird mir bewusst, wie sehr mir der Körperkontakt gefehlt hat; wie wichtig es ist, den Geruch und die Wärme der Menschen wahrzunehmen, die du liebst, denen du vertraust. Mir kommen die Tränen: Hab ich was Böses getan, womit ich das alles hier verdiene? Was fällt dir denn ein, natürlich nicht , antwortet meine Schwester.Aber was mache ich dann hier? Ich will hier nicht sein, bringt mich weg.mehr
Kritik
"Dieses Buch, das man am liebsten in einem Atemzug lesen möchte, geht den geheimsten Gedankengängen auf den Grund und zwingt uns, auch die ganz einfachen Dinge zu betrachten, die man sonst nie wirklich wahrnimmt." Annalena Benini, Io donna - Corriere della Seramehr

Schlagworte

Autor

Lorenzo Amurri (1971-2016) war Musiker und Musikproduzent. 1997 begann er zu schreiben, nachdem er infolge eines schweren Skiunfalls von der Brust abwärts gelähmt war. Mit seinem ersten Werk, dem autobiografischen Roman Apnea (Fandango Libri, 2012), war er unter den Finalisten des Premio Strega 2013 und erhielt den Literaturpreis der Europäischen Union im Jahr 2015. Ebenfalls bei Fandango Libri erschien 2014 sein zweiter Roman Perché non lo portate a Lourdes?, Tagebuch der Pilgerfahrt eines Nichtgläubigen. Lorenzo Amurri starb im Jahr 2016.Dr. Ruth Mader-Koltay, geboren 1968 in Weingarten/Württ.; Studium der Italienischen und Französischen Literaturwissenschaft und der Neueren Deutschen Literatur; lebt in Freiburg und arbeitet als Dozentin bei der Dante-Alighieri-Gesellschaft und als literarische Übersetzerin.
Bis ich wieder atmen konnte