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Der Boden unter den Füßen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
232 Seiten
Deutsch
Edition Raetiaerschienen am24.01.2014
Nähen und Kochen, das waren die einzigen Fertigkeiten, die die junge Moidi vom Schwienbacherhof hätte lernen dürfen. Doch das ledige Kind in ihrem Bauch, ihr offenes, neugieriges Wesen und nicht zuletzt das Nahen des Zweiten Weltkriegs zwingen sie zur Auswanderung - in ein anderes Leben, nach Amerika. Aus dem Landei wird eine taffe Frau, die zusehends alle Autoritäten hinterfragt. Im Zuge dessen entlarvt sie einerseits die Unbarmherzigkeit einer Kirche und einer Gesellschaft, die blind sind für das Schicksal des Einzelnen, sondern sich als oberstes Prinzip den Erhalt der Ordnung auf ihre Fahnen schreiben; andererseits wehrt sie sich gegen ein System, das auf Unterdrückung von Randgruppen aufbaut, seien es Juden, Farbige oder auch Frauen. Doch bevor sie ihre schmerzvolle Metamorphose zur selbstbestimmten Frau abschließen kann, muss sie sich erneut ihrer Vergangenheit stellen. Anna Maria Leitgeb webt die Entwicklung des Mädchens von einem unsicheren Backfisch zu einer emanzipierten Frau in die großen Wechselfälle des Jahrhunderts ein. Dabei spürt sie den Themen Rassendiskriminierung, Option, Tradition und Konvention in einer sich rasant ändernden, zum Teil auseinander brechenden Welt nach. Wie wird es sein, wenn Moidi als Erwachsene in ihre Heimat zurückkehrt und die Späne der Erinnerung auf eine scheinbar unveränderte Gegenwart mit alten Vorurteilen und Schemata fallen?

Anna Maria Leitgeb, geboren 1953 in Brixen, lebt mit ihrer Familie in Wilmington, Delaware (USA). Studium und Promotion an der Universität Innsbruck, Dozentin im Department of Foreign Languages an der Universität Rochester, New York (USA). Bei Edition Raetia ist 2010 'Eisblau mit Windschlieren' und 2012 'Mutter der sieben Schmerzen' erschienen.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR12,50
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR7,99

Produkt

KlappentextNähen und Kochen, das waren die einzigen Fertigkeiten, die die junge Moidi vom Schwienbacherhof hätte lernen dürfen. Doch das ledige Kind in ihrem Bauch, ihr offenes, neugieriges Wesen und nicht zuletzt das Nahen des Zweiten Weltkriegs zwingen sie zur Auswanderung - in ein anderes Leben, nach Amerika. Aus dem Landei wird eine taffe Frau, die zusehends alle Autoritäten hinterfragt. Im Zuge dessen entlarvt sie einerseits die Unbarmherzigkeit einer Kirche und einer Gesellschaft, die blind sind für das Schicksal des Einzelnen, sondern sich als oberstes Prinzip den Erhalt der Ordnung auf ihre Fahnen schreiben; andererseits wehrt sie sich gegen ein System, das auf Unterdrückung von Randgruppen aufbaut, seien es Juden, Farbige oder auch Frauen. Doch bevor sie ihre schmerzvolle Metamorphose zur selbstbestimmten Frau abschließen kann, muss sie sich erneut ihrer Vergangenheit stellen. Anna Maria Leitgeb webt die Entwicklung des Mädchens von einem unsicheren Backfisch zu einer emanzipierten Frau in die großen Wechselfälle des Jahrhunderts ein. Dabei spürt sie den Themen Rassendiskriminierung, Option, Tradition und Konvention in einer sich rasant ändernden, zum Teil auseinander brechenden Welt nach. Wie wird es sein, wenn Moidi als Erwachsene in ihre Heimat zurückkehrt und die Späne der Erinnerung auf eine scheinbar unveränderte Gegenwart mit alten Vorurteilen und Schemata fallen?

Anna Maria Leitgeb, geboren 1953 in Brixen, lebt mit ihrer Familie in Wilmington, Delaware (USA). Studium und Promotion an der Universität Innsbruck, Dozentin im Department of Foreign Languages an der Universität Rochester, New York (USA). Bei Edition Raetia ist 2010 'Eisblau mit Windschlieren' und 2012 'Mutter der sieben Schmerzen' erschienen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9788872834893
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum24.01.2014
Seiten232 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1704 Kbytes
Artikel-Nr.2945257
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
1

Der Spiegel hing von einem rostigen Nagel. Wie der Metallrand war auch die Glasfläche mit der Zeit trüb und fleckig geworden. Senkrecht durch die Mitte lief ein Sprung, der jedes Spiegelbild zerteilte: in zwei ungleiche und voneinander etwas verschobene Hälften. So kam es, dass sich die Schwienbacherischen immer nur wie zusammengeflickt zu sehen bekamen.

Nein, für die Eitelkeit hatte der Vater kein Geld übrig. Zum Rasieren reichte der Spiegel. Man musste eben seinen Kopf ein bisschen heben und drehen, um sein Kinn vollständig in der größeren Scherbe begutachten zu können. Da konnten sich seine Weibsbilder auch damit begnügen.

Als sich Moidi mit langen Strichen ihr Haar bürstete, war ihre Nase gebrochen und ein Auge lag höher als das andere. Sie seufzte.

Auf der oberen Wiese hatte sie die Graszeilen gewendet, Welle um Welle herübergekehrt auf ihre Schuhe. Bei jedem Schritt und jedem Einholen des Rechens waren die Heuschrecken verängstigt kreuz und quer gehüpft.

Ober der Mühle war das Gras schon trocken gewesen. Da hatte sie den Boden sauber abgekämmt, das Heu aufgehäufelt und mit der Gabel hochgestochen auf den Wagen. Es hatte gestaubt. Gras und rötlich weißer Knöterich und orangengelbe Arnikablüten und die halbkugeligen Köpfchen des Teufelsabbiss waren um sie geschwirrt, und ein silbern dreckiger Halbmond von Schweiß war auf ihrer Oberlippe aufgegangen.

Der Vater hatte sie mit eckigem Mund angeschaut und ausgelacht, wie er sie so sah, dampfend und nackt im Gesicht und angeschneit, als er, das Heutuch hoch aufgetürmt auf Kopf und Schulter balancierend, vom Waldrand heruntergestiegen kam. Und sie hatte ihn dann geschubst, weil es niemand sonst sah, und sie ein bisschen dusselig war von der Hitze. Er hatte in der Folge sein Gleichgewicht verloren, nur vor Lachen und Mutwillen, hatte den Heuberg abgeworfen und sich hinterdrein. Moidi wäre fast auf ihn gesprungen wie ein junger Hund, hätte sich mit ihm gebalgt, ihm das Gesicht abgeleckt, so leicht und ohne Gewicht war sie plötzlich mit diesem dreisten Vater gewesen, war das die Möglichkeit?

Ein unternehmungslustiger Wind war vom Berg herabgerollt, hatte sie gekitzelt. Grün und aufgeplustert waren die Wälder ringsum gewesen. Der Himmel darüber blau, so blau, hatte jede Faser in ihr aufgerichtet und sie fast in den Zenit gesaugt, aber nur fast, denn da war ihr plötzlich die Farbe des Blutes eingefallen, einige Monate war's her, in Mutters Kammer. Nur die Farbe des Blutes war diesem Blau in seiner Intensität ebenbürtig. Der Gedanke hatte ihren Leichtsinn gedämpft, sie hatte sich besonnen, wieder gewusst, wer sie war.

Als der Vater in die Küche trat und die Stühle für den täglichen Rosenkranz zusammenschob, bürstete Moidi ihr Haar schneller, teilte es dann, zopfte es mit fliegenden Fingern, wand sich die zwei Flechten um den Kopf und steckte sie fest. Schnell drehte sie den Spiegel noch über ihrem Gesicht, suchte sich zusammen. Flugs mit etwas Spucke einige störrische Härchen in den Bögen der Brauen verstrichen, sonst schien alles in ihrem Gesicht gewöhnlich und bescheiden an seinem Ort. Als sie sich nach ihren besseren Schuhen bückte, merkte sie, wie klamm die Muskeln in den Armen und Beinen waren. Und im Bauch war eine leere Stelle, in der eine kleine Unruhe zu nagen und zu zappeln anfing.

Es war ein paar Minuten nach dem Betläuten. Der Vater wartete nicht. Er stimmte das Gebet an: "Eee ehre sei dem-Vater und em Sohn …"

Seine Vorbeterstimme war gleichmäßig und monoton und heller als seine normale Sprechstimme und dehnte die Vokale und leierte wie die Milchzentrifuge. Er kniete auf dem Steinboden in der Küche neben der Mutter zum Herrgottswinkel hin. Seine Ellbogen und Arme waren Kufen auf der Sitzfläche des Stuhls und stützten den hageren Oberkörper. Der verwitterte Hals mit dem kleinen Kopf ragte schildkrötenartig aus dem Kragen. Rund um seinen fast haarlosen Schädel lief der ringförmige Abdruck seines Hutes, innerhalb dessen sich die Haut spiegelglatt und blassrosa spannte. Die Hände waren schwielig und wurzelig und machten ein Gefäß zum Erhaschen der göttlichen Gnade, die ihn heute beim Heuen angeblitzt hatte: ja, seine Moidi hatte sich gut herausgemacht, dachte er. Aber ansonsten war es mit der Gnade in diesen Zeiten oft nicht weit her. Er fingerte die Perlen des Rosenkranzes mit Daumen und Zeigefinger ab, um seinem Gebet das richtige Maß zu geben, während sich seine Kinder und Dienstboten schnell und möglichst unauffällig hinzustahlen.

Das Flugblatt, das ihm der Lehrer, dieser spreizbeinige Großtuer, heute zugesteckt hatte, ging ihm auch jetzt nicht aus dem Sinn.

"Südtiroler, bekennt euch!", stand drauf. "Eine schwere, aber stolze Stunde ruft euch auf zum Bekenntnis für Blut und Volk, zur Entscheidung, ob ihr für euch und eure Nachkommen endgültig auf euer deutsches Volkstum verzichten oder ob ihr euch stolz und frei als Deutsche bekennen wollt."

Die Frauen- und ein paar brummende Männerstimmen psalmodierten "Jetzt und in der Stunde uns eres …", aber der Vater fiel ihnen schon mit dem nächsten Geeeegrüßt seist du Maria ins Wort, schnitt ihnen das Absterbens Amen glatt ab.

"Das macht er immer, der Vater, er lässt uns nie ausreden", dachte Moidi.

Aber der Schwienbacher war eine Maschine, die schneidet und drischt, und der Führer hatte sie allesamt verraten, Teufel noch einmal. "Verkauft an die Walschen. Nicht einmal die Vorhänge hatte der Schuft aufgezogen, als er im Zug durchs Land gefahren war. Wollte seine Visage nicht herzeigen. Die Spruchbänder auf den Bahnhöfen nicht sehen. Der feige Hund! Jetzt sollte unsereiner frisch alles liegen und stehen lassen und nach Galizien auswandern!", so kam der Vater nicht umhin zu denken. Ja, mit dem Beten hatte es heute nicht das Richtige auf sich.

"Die Scholle opfern wir dem großen Ziele, dem großen, heiligen deutschen Reich", das stand auf den Zetteln, die einem bei jedem Gang ins Dorf unter die Nase gehalten wurden. "Betakelt hat uns der Lotter", wusste der Vater und machte sich und die anderen weiterbeten.

Aber die Mutter wollte nicht nach Italien hinunter ausgesiedelt werden. Denn genau das würde den Dableibern blühen, da war sie überzeugt, das hatte Mina im Geschäft auch gesagt. Und Nanne vom Kiebler. Und die hatte es vom Podestà selber.

"Das ist ja nur Propaganda, verstehst du nicht?", hatte der Vater gekontert, als sie ihm ihr Bröckchen Meinung gab. Und überhaupt, statt in Hütten zu wohnen, aus denen die polnischen Bewohner vertrieben wurden, würde er tatsächlich lieber zu den Walschen hinuntergehen in ihren Stiefel: "Stell dir vor, auf einem Hof arbeiten, von dem man den Besitzer samt Frau und Kind verjagt hatte! Und man ist umgeben von Slowaken, Tschechen und Polacken und hat die russischen Bolschewiken in nächster Nähe! Und irgendwann kommen die Vertriebenen wieder und fordern ihr Land zurück, und man müsste wieder gehen! Wohin dann ohne Hab und Gut? Nur weil ein gewissenloser Kerl mit einer gewissenlosen Propaganda einen aus der Heimat fortgelockt hatte!"

"Siehst du nicht, wie es mit uns steht?", hatte die Mutter geplärrt, "nicht einmal mehr auf dem Grab darf ein deutsches Wort stehen!"

"Daheim ist daheim", hatte sie der Vater daraufhin angeschnauzt und ihr mit seinem schnellen Zorn den Mund gestopft wie mit einer Handvoll geschroteter Maiskörner.

Die Kathl, die Dirn, hatte er davongejagt. Die musste gehen, von ihm aus dorthin, wo der Pfeffer wächst. So eine wie die kann ihm gestohlen bleiben, jawohl, das kann die: "Wenn ihr die Rosenkranzandacht nicht passt und sie stattdessen den österreichischen Schnauzer anbeten will, hat sie hier nichts mehr verloren, Kruzitürken!"

Der Schwienbacher litt niemanden im Haus, der sich an Kirche und Brauch versündigte. "So wird's gemacht und so ist es", war sein Leibspruch.

Die Base Elsa war so gut, an Kathls Stelle einzuspringen. Sie kniete sich gerade neben die Mutter hin. Joss, der Knecht, war der Einzige, dem das Sitzen auf der Eckbank erlaubt war, denn er hatte seit dem Großen Krieg ein schlechtes Bein. Zu seinen Füßen lag der Hund. Michel und Konrad waren genau hinter der Mutter. Die mit ihren neun bzw. sechs Jahren mussten in ihrer Reichweite bleiben. Sie hatten freihändig zu knien, ohne die Stütze eines Stuhls, ließen sich aber in den wenigen unbeobachteten Augenblicken, die Mutters Inbrunst ihnen ließ, gern auf die Fersen nieder, bis sie von ihrer ungnädigen Hand wieder hochgepufft wurden zu einer andächtigeren Haltung. Die halbwüchsige Stasi zappelte neben den Brüdern relativ bequem auf dem Saum ihres Kittels herum, der ihr zu weit war, aber einen umso besseren Wulst unter ihren Knien abgab. Florian schnitt hinterm Vater jedem, der ihn ansah, Grimassen, um seine Überlegenheit in Sachen Beten unter Beweis zu stellen; war er nicht praktisch...
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Autor

Anna Maria Leitgeb, geboren 1953 in Brixen, lebt mit ihrer Familie in Wilmington, Delaware (USA). Studium und Promotion an der Universität Innsbruck, Dozentin im Department of Foreign Languages an der Universität Rochester, New York (USA).Bei Edition Raetia ist 2010 "Eisblau mit Windschlieren" und 2012 "Mutter der sieben Schmerzen" erschienen.