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E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
220 Seiten
Deutsch
Vergangenheitsverlagerschienen am15.05.2017
Mit großer Intensität wurde in den letzten Jahren über ethnografische Sammlungen im deutschsprachigen Raum diskutiert. Einer der Gründe dafür ist sicherlich die Errichtung des Humboldt Forums in Berlin, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, nicht weniger als die Weltgesellschaft auszustellen, den Dialog zwischen den Kulturen der Welt zu fördern und ein internationales Zentrum für Kunst, Kultur, Wissenschaft und Bildung zu werden. Auch an anderen Orten stellt sich immer wieder die fundamentale Frage: Wie gestalten wir unseren Blick auf die Kulturen der Welt? Diese Frage ist heute angesichts neuer Nationalismen aktueller und politisierter als lange Zeit zuvor. Gründungen wie das Humboldt Forum sind deshalb als deutliches Zeichen unserer Zeit, geradezu als Verteidigung von Aufklärung und Weltoffenheit, von westlichen, liberalen Werten zu verstehen. Der Blick auf die Kulturen der Welt erfordert jedoch viel mehr als Aufgeklärtheit, Weltoffenheit und Liberalität. Die Autoren plädieren für Grundlegenderes und weisen der Ethnologie in den Weltkulturenmuseen eine zentrale Rolle für die 'Entschlüsselung der Welt' zu.

Seit 2007 Professor für Ethnologie mit regionalem Schwerpunkt Westafrika an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seine Forschungsthemen sind materielle Kultur, Handwerk, Konsum und der Einfluss der Globalisierung auf Gesellschaften weltweit. Neben verschiedenen Projekten der internationalen Museumskooperation hat er auch ethnografische Forschungen zu Konsum verschiedener Güter sowie zum Gebrauch von Mobiltelefonen in Westafrika durchgeführt. Seine Publikationen umfassen Beiträge über Fahrräder, Plastiksandalen, Mobiltelefone und andere Alltagsgüter in Afrika, sowie zu wirtschaftsethnologischen Themen.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR22,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR14,99

Produkt

KlappentextMit großer Intensität wurde in den letzten Jahren über ethnografische Sammlungen im deutschsprachigen Raum diskutiert. Einer der Gründe dafür ist sicherlich die Errichtung des Humboldt Forums in Berlin, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, nicht weniger als die Weltgesellschaft auszustellen, den Dialog zwischen den Kulturen der Welt zu fördern und ein internationales Zentrum für Kunst, Kultur, Wissenschaft und Bildung zu werden. Auch an anderen Orten stellt sich immer wieder die fundamentale Frage: Wie gestalten wir unseren Blick auf die Kulturen der Welt? Diese Frage ist heute angesichts neuer Nationalismen aktueller und politisierter als lange Zeit zuvor. Gründungen wie das Humboldt Forum sind deshalb als deutliches Zeichen unserer Zeit, geradezu als Verteidigung von Aufklärung und Weltoffenheit, von westlichen, liberalen Werten zu verstehen. Der Blick auf die Kulturen der Welt erfordert jedoch viel mehr als Aufgeklärtheit, Weltoffenheit und Liberalität. Die Autoren plädieren für Grundlegenderes und weisen der Ethnologie in den Weltkulturenmuseen eine zentrale Rolle für die 'Entschlüsselung der Welt' zu.

Seit 2007 Professor für Ethnologie mit regionalem Schwerpunkt Westafrika an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seine Forschungsthemen sind materielle Kultur, Handwerk, Konsum und der Einfluss der Globalisierung auf Gesellschaften weltweit. Neben verschiedenen Projekten der internationalen Museumskooperation hat er auch ethnografische Forschungen zu Konsum verschiedener Güter sowie zum Gebrauch von Mobiltelefonen in Westafrika durchgeführt. Seine Publikationen umfassen Beiträge über Fahrräder, Plastiksandalen, Mobiltelefone und andere Alltagsgüter in Afrika, sowie zu wirtschaftsethnologischen Themen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783864082269
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum15.05.2017
Seiten220 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1905 Kbytes
Artikel-Nr.5735282
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Europa provinzialisieren, material und ontological turn kuratieren?
Gedanken aus der Ausstellungspraxis des Humboldt Lab Dahlem

Paola Ivanov




Mutet der Titel dieses Beitrags womöglich allzu unbescheiden an, so geht es mir jedoch nicht darum, eigene Projekte zu rühmen. Im Gegenteil, der Titel soll zum einen auf eine eigentümliche Leerstelle in der gegenwärtigen Ausstellungspraxis der in diesem Band als Weltkulturenmuseen bezeichneten Nachfolgeinstitutionen der klassischen Völkerkundemuseen verweisen; zum anderen soll er das inhaltliche Spannungsfeld andeuten, in dem sich angesichts der vielfältigen theoretischen turns der letzten Dekaden kuratorisch tätige Ethnolog*innen - und damit auch die Weltkulturenmuseen selbst - bewegen könnten. Tatsächlich lässt sich heute in der universitären Ethnologie und darüber hinaus ein gesteigertes Interesse für Objekte und die materielle Seite gesellschaftlichen Lebens feststellen: ein Interesse, das es seit den Anfängen der Disziplin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die eng mit der Entstehung und Erforschung musealer Sammlungen verquickt war, nicht mehr gab. Die Ethnologie selbst ist in starkem Maße an der Durchsetzung des gegenwärtigen interdisziplinären material turn beteiligt gewesen, d. h. der verstärkten Tendenz in den Sozial- und Kulturwissenschaften, sich mit der Materialität kultureller und sozialer Praktiken sowie mit der Rolle (mitunter der agency) von Dingen für die Erzeugung und Gestaltung sinnhafter kultureller und sozialer Ordnungen auseinanderzusetzen.

Es seien hier zunächst einige Hauptlinien dieser Wiederentdeckung der Objekte zusammengefasst. So sehen praxistheoretische Ansätze, die in der geisteswissenschaftlichen Forschung diskursive Zugänge mehr und mehr ablösen, menschliches Handeln prinzipiell als durch Dinge vermittelt und von diesen abhängig an (vgl. etwa Reckwitz 2003; Schatzki 2002, 2006 [2001]); es ist mithin selbstverständlich geworden, Objekte und deren sinnhaften Gebrauch in die Erforschung menschlicher Praktiken einzubeziehen. Speziell die Material Culture Studies, wie sie insbesondere im Fachbereich für Anthropologie des University College London (UCL) entwickelt wurden, vertreten einen relationalen Ansatz: Erst in der Beziehung von Menschen und Dingen (oder Subjekt und Objekt) zueinander entsteht das, was als soziale und kulturelle Wirklichkeit bezeichnet werden kann (Geismar/Horst 2004:5).1 Nicht fehlen darf in einem Überblick natürlich die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die unter Bruno Latours Schlagwort Wir sind nie modern gewesen die Verfassung der Moderne als Fiktion entlarvt; die kartesianische Trennung von res cogitans (denkender Substanz) und res extensa (ausgedehnter Substanz) - also Subjekt und Objekt, Mensch und Ding, Kultur und Natur, Geist und Körper usw. - verschleiert demnach die reale Existenz von hybriden Netzwerken von menschlichen und nicht-menschlichen (technischen und natürlichen) Akteuren: Akteure, die erst in Relation zueinander und durch ihre gegenseitige Beeinflussung als solche entstehen und definiert werden (Callon 2006; Latour 1995 [1991]). Die ANT ist eine häufig (und leider oft auf allzu verflachende Weise) aufgenommene Theorie, wenn es darum geht, eine agency von Dingen innerhalb interagierender Assemblagen auszumachen. Ebenso einflussreich im Hinblick auf die Hervorhebung der Handlungsmacht von Objekten, auch außerhalb des eigentlich anvisierten Gegenstands der sozialen Wirksamkeit von Kunst, war auch Alfred Gells Werk Art and Agency (1998): Gell zufolge sind (Kunst-)Objekte Vermittler von Intentionalitäten und damit (sekundäre) Akteure, die das soziale Feld in einer Art beeinflussen, wie es ohne sie nicht möglich gewesen wäre (s.a. Gell 1992).2

Mit dieser Konzentration auf die Dinge und deren agency ist auch der ontological turn - die Anerkennung der Pluralität von Ontologien - verbunden. Gegenüber der geläufigeren ethnologischen Auffassung von unterschiedlichen gesellschaftsspezifischen Sichtweisen auf eine einzige, vermeintlich objektive Welt - nämlich jene von den modern-westlichen Wissenschaften ausgemachte - wird betont, dass unterschiedliche Gesellschaften unterschiedliche Ontologien bzw. Welten besitzen (vgl. PaleÄek/Risjord 2013; Alberti u. a. 2011). Wie schon der material turn, ist auch diese neueste Wende stark in der Ethnologie begründet. Vor allem Marilyn Strathern hatte bereits in Bezug auf die Gesellschaften Melanesiens das Konzept einer nicht von ihrer materiellen und sozialen Umgebung abgegrenzten dividual oder distributed person entwickelt: Person und Ding sind demnach in Melanesien keine absoluten, sondern relationale Kategorien, die erst innerhalb des sozialen Beziehungsnexus entstehen (Strathern 1988, 2004 [1991]; Tilley 2002). Radikaler ist der ontologische Bruch in der Konzeptualisierung des amerindischen Perspektivismus durch Eduardo Viveiros de Castro (1998, 2012): Während die kartesianische Ontologie von einer Natur ausgeht, die allen Organismen dieser Welt gemeinsam ist, und diese Lebewesen aufgrund unterschiedlicher Subjektivitäten und Kulturen unterscheidet - also multikulturalistisch ist -, sei die indigene Ontologie im Amazonas multinaturalistisch . Alle Bewohner des Kosmos, etwa Menschen und Tiere, besäßen gleichartige Seelen und Kulturen bei unterschiedlichen Körpern, d. h. Naturen . Diese Ausdehnung der res cogitans (also der denkende Substanz) auf nicht-menschliche Wesen bezieht auch die Dinge mit ein, denen unterschiedliche Grade von Subjektivität zugeschrieben werden (Santos-Granero 2009).

Die Auflösung der Natur-Kultur-Dichotomie entwickelt wiederum Philippe Descola am konsequentesten und komplexesten fort: Seinem Modell zufolge variiert die Beziehung zwischen Interiorität (Seele, Intentionalität, Subjektivität) und Physikalität gesellschaftlich und bringt unterschiedliche Ontologien hervor, d. h. Weisen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Menschen und Nicht-Menschen zu konstruieren. Einzig der in Europa seit dem 17. Jahrhundert voll entwickelte Naturalismus sieht nur eine einheitliche Natur vor, die sich durch die Kontinuität oder Ähnlichkeit der Physikalität - eben als res extensa, Materie - auszeichnet, und unterscheidet diese vom Geist oder Bewusstsein (Interiorität) des Menschen (Descola 2011).3 Eine stärker auf Objekte bezogene Variante des ontological turns vertreten schließlich Henare, Holbraad und Wastell. Ihnen dient das Denken durch Dinge (Thinking Through Things, Henare u. a. 2007) als heuristisches Instrument zur Erfassung spezifischer, nicht kartesianischer ontologischer Verfassungen. So ist etwa ein Ding wie das aché-Divinationspulver im kubanischen ifá-Orakel nicht eine Repräsentation von Macht, sondern es ist die Macht selbst; unsere ontologischen Trennungen zwischen Ding und Konzept, Immanenz und Transzendenz sind also aufgehoben (Holbraad 2007) - eine Interpretationsweise, die im selben Zuge auch eine Vexierfrage der Religionsethnologie löst, nämlich inwieweit (freilich nur nicht-europäischer) Glaube als Realität aufzufassen sei.

Zwar sind die dargestellten Ansätze beileibe nicht einheitlich und auch nicht unkritisch zu betrachten - gerade der ontological turn umfasst äußerst heterogene Standpunkte und ist vielfach kritisiert worden, unter anderem wegen seines Intellektualismus, der Tendenz zum Essentialismus sowie der Blindheit für Machtverhältnisse und für die Interaktion von Ontologien durch Verflechtungs- und Austauschprozesse (vgl. etwa Carrithers u. a. 2010; Graeber 2015; Harris/Robb 2012). Dennoch sind sie äußerst relevant, und zwar nicht nur für eine Weiterentwicklung der (universitären) ethnologischen Theorie und Forschung durch die stärkere Fokussierung auf das Materielle und die Aufgabe herkömmlicher Dichotomisierungen. Von zentraler Bedeutung unter den heutigen Globalisierungsverhältnissen und der erneuten Virulenz von Fremdenfeindlichkeiten und Rassismen ist insbesondere - auch im Hinblick auf die Vermittlungsaufgaben von euro-amerikanischen Weltkulturenmuseen -, dass diese jüngsten ethnologischen Theorien das Eigene mit einer noch nie dagewesenen Radikalität in Frage stellen. Sie verdeutlichen, dass die westliche Moderne nur eine (und in mancher Hinsicht wohl nicht die beste) von vielen Möglichkeiten ist, die Wirklichkeit zu erfassen und zu konstituieren - oder gar, der Akteur-Netzwerk-Theorie entsprechend, eine Fiktion ist. Die Welt(-Konstruktion), die sich mit der Neuzeit im Norden eingebürgert hat, wird provinzialisiert und vor allem entnaturalisiert. Warum soll die Trennung zwischen Natur und Kultur schließlich zutreffender sein als der Multinaturalismus, der christliche transzendente Gott und dessen Inkarnation in Jesus Christus glaubwürdiger als die zugleich transzendente und immanente Macht des aché-Pulvers?

Nun würde man annehmen, dass der neue Fokus auf Objekte und das Materielle genauso wie die Infragestellung der modern-westlichen Konstitution des Kosmos ideale Voraussetzungen für eine äußerst produktive und innovative Ausstellungstätigkeit seitens ethnologischer Museen bzw. Weltkulturenmuseen darstellen. Das Gegenteil ist der Fall: Überraschenderweise finden diese neuen Theorieansätze kaum Eingang in ethnologische Präsentationen. Bruno Latour hat zwar mehrere Ausstellungen mitkuratiert - etwa die einflussreiche Iconoclash (Latour u. a. 2002) -, allerdings nicht in ethnologischen Museen, sondern hauptsächlich im Zentrum für Kunst und Medien...
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Seit 2007 Professor für Ethnologie mit regionalem Schwerpunkt Westafrika an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seine Forschungsthemen sind materielle Kultur, Handwerk, Konsum und der Einfluss der Globalisierung auf Gesellschaften weltweit. Neben verschiedenen Projekten der internationalen Museumskooperation hat er auch ethnografische Forschungen zu Konsum verschiedener Güter sowie zum Gebrauch von Mobiltelefonen in Westafrika durchgeführt. Seine Publikationen umfassen Beiträge über Fahrräder, Plastiksandalen, Mobiltelefone und andere Alltagsgüter in Afrika, sowie zu wirtschaftsethnologischen Themen.