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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
BeBra Verlagerschienen am10.10.2022
Japan galt lange als Erfolgsmodell, das sich durch technischen Fortschritt, wirtschaftlichen Aufschwung und gesellschaftliche Stabilität auszeichnete. In den letzten dreißig Jahren hat dieses Bild allerdings tiefe Risse bekommen. Das vorliegende Buch beschreibt den gegenwärtigen Zustand Japans, das mit den Herausforderungen einer überalterten Gesellschaft, geopolitischen Konflikten und den Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima zu kämpfen hat, das aber zugleich in vielen Bereichen immer noch weltweit Maßstäbe setzt.

Verena Blechinger-Talcott ist Professorin für Politik und Wirtschaft Japans an der FU Berlin. David Chiavacci ist Professor für sozialwissenschaftliche Japanologie an der Universität Zürich. Wolfgang Schwentker ist Professor Emeritus für vergleichende Kultur- und Ideengeschichte an der Universität Osaka.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR26,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextJapan galt lange als Erfolgsmodell, das sich durch technischen Fortschritt, wirtschaftlichen Aufschwung und gesellschaftliche Stabilität auszeichnete. In den letzten dreißig Jahren hat dieses Bild allerdings tiefe Risse bekommen. Das vorliegende Buch beschreibt den gegenwärtigen Zustand Japans, das mit den Herausforderungen einer überalterten Gesellschaft, geopolitischen Konflikten und den Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima zu kämpfen hat, das aber zugleich in vielen Bereichen immer noch weltweit Maßstäbe setzt.

Verena Blechinger-Talcott ist Professorin für Politik und Wirtschaft Japans an der FU Berlin. David Chiavacci ist Professor für sozialwissenschaftliche Japanologie an der Universität Zürich. Wolfgang Schwentker ist Professor Emeritus für vergleichende Kultur- und Ideengeschichte an der Universität Osaka.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783839301630
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum10.10.2022
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse8643 Kbytes
Artikel-Nr.9951657
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Zeitreise in die Multibürgergesellschaft
Expedition in ein alterndes Land
Florian Coulmas

Seit H.âG. Wells »The Time Machine« wissen wir, wie Zeitmaschinen aussehen - sie haben einen Sitz auf einer Art Schlitten für einen Passagier, dahinter eine konkave Scheibe mit eingraviertem Kompass, einige Rollen und Hebel, um das Ganze in Bewegung zu setzen -, und seither wissen wir auch, dass man mit Zeitmaschinen eigentlich nur in die Zukunft reist, denn an der Vergangenheit, da sind sich die Experten einig, lässt sich aus logischen Gründen nichts mehr ändern, obwohl das unter Umständen ganz segensreich wäre.

Stellen wir uns zum Beispiel vor, die Tokyoter und Tokyoterinnen, die sich heute für den Erhalt des Artikels 9 der japanischen Verfassung von 1946 einsetzen, der Japan in aller Deutlichkeit zum Pazifismus verpflichtet, dass eben diese Tokyoter nur ein Menschenleben zurück in der Zeit reisten, um dafür zu sorgen, dass die japanische Regierung ihren Ehrgeiz, in der Welt etwas zu bedeuten, auf die Olympischen Spiele 1940 konzentrierte, statt China mit Krieg zu überziehen. Die Welt sähe heute ganz anders aus. Tatsächlich war es ja ein großer Fortschritt für Japans internationales Renommee, als Tokyo 1936 den Zuschlag für Olympia 1940 bekam. Zum ersten Mal sollten die Spiele in Asien stattfinden mit Japan als »Leitgans«, der die übrigen Länder der Region beim Flug in die Zukunft in V-Formation folgen würden. So sahen es manche Japan schon damals. Allein was früher geschah, lässt sich auch von Zeitreisenden nicht mehr ungeschehen machen. Die Olympiade von 1940 fiel aus, denn die japanische Führung blies sie 1938 ab. Sie hatte Besseres zu tun (für die, die das besser fanden). Einen Moment lang sah es so aus, als würden die Spiele nach Helsinki verlegt, aber angesichts der Verheerungen des Zweiten Weltkrieges fanden sie nicht statt.

Stellen wir uns stattdessen vor, ein zeitreisender Tokyoter hätte sich 1940 (oder 1938) in die Zukunft aufgemacht, um sich seine Heimatstadt unter der Fünf-Ringe-Fahne anzusehen, die da irgendwann einmal flattern würde. Oder stellen wir uns jemanden vor, der sich das vorstellte.


Abgesagt: Die Olympischen Spiele 1940

Tokyo im demographischen Wandel

Die Vergangenheit kann man nicht ändern, und sich die Zukunft auszumalen, ist äußerst schwierig, da wir in unserer Phantasie durch die Beschränktheit geprägt sind, in die wir hineinwachsen. Hätte sich der oder die Zeitreisende beziehungsweise Visionärin von 1940 zum Beispiel einen konbini - von englisch convenience store abgeleitete Bezeichnung für kleine Allzweckgeschäfte ohne Ladenschlusszeiten - vorstellen können? Oder hätte er oder sie sich vorstellen können, dass die Bevölkerung von Tokyo/Yokohama schon fünf Jahre später um drei Millionen geschrumpft sein würde, nur, weil die Regierung das internationale Standing Japans statt auf dem Sportplatz auf dem Schlachtfeld zu verbessern suchte?

 
1940 12.7 Millionen 1945 9.3 Millionen 1964 21.0 Millionen 2020 38.0 Millionen
Bevölkerungswachstum in der Metropolregion Tokyo

 

Und weiter, dass die Urbanisierung so rapide voranschreiten würde, dass sich die Bevölkerung im Großraum Tokyo bis zur Olympiade 1964 wieder verdoppelt und zu der von 2020 mehr als verdreifacht haben würde? Das lag durchaus jenseits der Vorstellungskraft selbst weitsichtiger Zeitreisender, ganz zu schweigen von gegenwartsfixierten Politikern, die es 1948 für geboten hielten, Abtreibung zu legalisieren, um des den Staat in vieler Hinsicht überfordernden Nachkriegsbabybooms Herr zu werden. Noch viel weniger hätten sie sich vorstellen können, dass es zum Zeitpunkt der 2020-Olympiade in ihrem Land Geisterstädte geben würde, dass sich die wenigen verbliebenen Bürgerinnen und Bürger abgelegener Dörfer nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße trauten, weil sie fürchten mussten, einem Bären zu begegnen, und dass die Natur hier und dort begann, sich zurückzuholen, was menschliche Besiedlung ihr einst genommen hatte.

Oder Schulen. In jedes Dorf gehört eine Schule, zumindest eine Grundschule. Das war immer so. Immer - zumindest die zwei Generationen, die die Erinnerung zurückreicht. Zu Beginn der 2010er Jahre sah sich das Erziehungsministerium jedoch gedrängt, das »Gemeinschaftsprojekt verlassene Schulen« auszurufen. »Verbindet euch mit der Zukunft!«, verkündet ein lächelnder Knirps auf der Homepage des Ministeriums, um der Kampagne ein freundliches Gesicht zu geben. Der Landbevölkerung ist dabei allerdings nicht recht zum Lachen zumute, und wie sie sich unter diesen Umständen mit der Zukunft verbinden soll, wird immer unklarer. Allein 2012 wurden im ganzen Land über 600 öffentliche Schulen geschlossen, was für die betroffenen Gemeinden nicht nur bedeutet, dass ihre Kinder einen längeren Schulweg haben, sondern auch, dass sie eine wichtige Plattform des gesellschaftlichen Lebens verlieren. Das Leben auf dem Dorf wird immer unattraktiver und die Überalterung der ländlichen Regionen schreitet voran. In den 1960er Jahren lebten 63 Prozent der japanischen Bevölkerung in Städten. Inzwischen sind es 92 Prozent, und die wenigen Menschen, die noch auf dem Land leben, sind uralt.

 
Schweiz BRD Japan Nanmoku, Präfektur Gunma 42,4 45,9 46,7 65,5
Medianalter[1] in Nanmoku im Vergleich

 

Das rührt nicht nur daher, dass die Menschen immer länger leben, was ja zweifellos willkommen ist und von einem erfolgreichen Gesellschaftsmodell zeugt. Hinzu kommt, dass das Landleben vielen keine Zukunftsperspektive mehr bietet und sie deshalb in die Stadt ziehen. Wer 1964 bei der ersten Olympiade auf den Gedanken gekommen wäre, das 100 Kilometer nordwestlich von Tokyo gelegene Dorf Nanmoku zu besuchen, hätte dort noch um die 10â000 Einwohner angetroffen. Bei der zweiten Olympiade 2021 war die Dorfbevölkerung auf ein Fünftel zurückgegangen, während das Medianalter auf 65,5 Jahre angestiegen war - fast zwanzig Jahre älter als das der Gesamtbevölkerung Japans.

Dadurch entsteht ein Teufelskreis, den zu durchbrechen immer schwieriger wird. Das Steueraufkommen einer Gemeinde mit einem Medianalter über 65 strebt gegen null, wenn es nicht schon negativ ist. Unter den dadurch unvermeidlich werdenden Einschränkungen der öffentlichen Ausgaben leidet die Infrastruktur, was noch mehr Menschen dazu bewegt, vom Land in die Stadt zu ziehen, und so weiter. Seit Anfang der 2000er Jahre sind in Japan ungefähr 40 Eisenbahnlinien stillgelegt worden und auf jährlich Hunderten von Kilometern wird der Busverkehr eingestellt.

Welcher Zeitreisende hätte das bei den ersten Olympischen Spielen 1964 kommen sehen, als der erste Hochgeschwindigkeitszug der Welt pünktlich zur Eröffnung am 1. Oktober in Rekordgeschwindigkeit die 500 Kilometer von Tokyo nach Osaka zurücklegte und ganz Japan auf den Weg nach »Number One« mitnahm, wie es im Titel eines viel beachteten Buchs von Ezra F. Vogel hieß, das eineinhalb Jahrzehnte später erschien, als das Land auf dem Höhepunkt seines sagenhaften Aufstiegs war.

 


»Bullet Train«: Der Shinkansen, erster Hochgeschwindigkeitszug der Welt, legte 1964 seine erste Fahrt von Tokyo nach Osaka zurück.


 

Der Shinkansen symbolisierte lange den scheinbar unaufhaltsamen Fortschritt, immer schneller und komfortabler und dabei sicherer als alle anderen Eisenbahnlinien rund um den Globus. Von den ersten 514 Kilometer entlang der pazifischen Küste wurde das Streckennetz auf inzwischen 2â764 Kilometer ausgedehnt und die Spitzengeschwindigkeit von damals unglaublichen 200 Kilometer pro Stunde auf über 320 Kilometer pro Stunde erhöht. Alle wollten mit dem Shinkansen fahren, dem Stolz der Nation, und das durchaus zu Recht. Für die Dorfbewohner, die nur noch einen Bus am Vormittag und einen am Nachmittag für die Fahrt in die Kreisstadt haben, sind die technischen Höchstleistungen freilich von begrenztem Interesse.
Die 100-Millionen-Mittelschichtsgesellschaft

Entwicklung hat auch Verlierer. Über sie wird heute viel gesprochen, aber die Zeitreisenden haben gewöhnlich kein Auge für sie. Im Vordergrund stehen die Besonderen, die...
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Autor

Verena Blechinger-Talcott ist Professorin für Politik und Wirtschaft Japans an der FU Berlin.

David Chiavacci ist Professor für sozialwissenschaftliche Japanologie an der Universität Zürich.

Wolfgang Schwentker ist Professor Emeritus für vergleichende Kultur- und Ideengeschichte an der Universität Osaka.