Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Was es braucht, das Leben zu lieben

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
240 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am22.11.2023
Ein Boxer, den das Leben austrickst, ein Fischer ohne Fische, ein großherziger Hirte: Es sind Helden des Alltags, die diese Geschichten bevölkern. Der schüchterne Octave, die geflüchtete Samira und ein unverhoffter Schutzengel - sie alle eint die Suche nach einem erfüllten Leben in Liebe und Verbundenheit. Fatou Diome entführt uns auf eine Reise zwischen den Kulturen und Zeiten: von Paris über die französischen Alpen bis in den Senegal.

Fatou Diome wurde 1968 im Senegal geboren. ?Der Bauch des Ozeans? über Europa als Traumziel wurde in Deutschland mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet. Fatou Diome habe »mit spielerischem Witz, aber großer Genauigkeit einen Roman geschrieben, der ein komplexes Thema auf unterhaltsame Weise präsentiert«, so die Jury. Fatou Diome lebt seit 1994 in Straßburg.
mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR20,99

Produkt

KlappentextEin Boxer, den das Leben austrickst, ein Fischer ohne Fische, ein großherziger Hirte: Es sind Helden des Alltags, die diese Geschichten bevölkern. Der schüchterne Octave, die geflüchtete Samira und ein unverhoffter Schutzengel - sie alle eint die Suche nach einem erfüllten Leben in Liebe und Verbundenheit. Fatou Diome entführt uns auf eine Reise zwischen den Kulturen und Zeiten: von Paris über die französischen Alpen bis in den Senegal.

Fatou Diome wurde 1968 im Senegal geboren. ?Der Bauch des Ozeans? über Europa als Traumziel wurde in Deutschland mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet. Fatou Diome habe »mit spielerischem Witz, aber großer Genauigkeit einen Roman geschrieben, der ein komplexes Thema auf unterhaltsame Weise präsentiert«, so die Jury. Fatou Diome lebt seit 1994 in Straßburg.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257613902
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Verlag
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum22.11.2023
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse843 Kbytes
Artikel-Nr.11849628
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Anwesenheit

Morgens wie abends im selben Stockwerk immer derselbe Schatten. Immer stand der Mann am Fenster. Wenn er nicht die vorbeifahrenden Autos zählte, wonach hielt er Ausschau? Den Blick zum Himmel gerichtet, was erhoffte er sich von Gott?

Auf der Straße humpelte er allein vor sich hin. Dem Aussehen nach ein Weißer; mehr war über ihn nicht bekannt. Seine Sprache zeugte von guter Bildung. Im Restaurant ließ er sich verwöhnen, ohne Angst vor der Rechnung. Wenn er sich das vom Ersten bis zum Letzten im Monat leisten konnte, wovon lebte er? Wer war er?

In Ermangelung einer Kristallkugel raunten die Klatschmäuler, er entstamme einer betuchten Familie aus der Region. Ein Nachkomme von Weinbauern womöglich. Die Götter haben den Boden im Elsass gesegnet. Ob gris oder noir, der Pinot fließt hier reichlich und lässt den Wohlstand wachsen. Spätabends an den Rheinufern sehen die Touristen die Schleppkähne auf Gewürztraminer vorbeiziehen, und die Feinschmecker unter ihnen versichern, dass selbst die Forellen in Riesling schwimmen! Beim Spaziergang durch die kleinen, feinen Gassen von Straßburg könnte der Besucher denken, die heilige Odilia habe hier nie einen Schützling in Lumpen und mit leerem Magen gesehen, kündete nicht das Münster vom jahrtausendealten Flehen der Kinder Evas. Da sich unser Mann ordentlich kleidete und reichlich zu essen bestellte, glaubten die Tratschenden, seine Wiege sei mit Seide ausgekleidet gewesen. Doch all das war reine Spekulation. Sie wussten, dass er nicht arbeitete, und so schlossen unsere Lokal-Sherlocks aus seiner Wohnanschrift und dem äußeren Anschein auf seinen Status. Es war ein Leben ohne Extravaganzen; sein einziger Luxus bestand darin, täglich im Restaurant an der Ecke zu speisen. Er bestätigte die Gerüchte nicht, noch widerlegte er sie. Obwohl er zwischen all den manierlichen Gästen seine Pizza oder sein Ossobuco sehr ungeschickt verzehrte, behandelte man ihn ob seiner ihm angedichteten Herkunft mit Respekt. Verschätzt heißt manchmal eben auch geschätzt. Und da das Leben noch ungerechter sein kann als der Mensch, wozu den Irrtum richtigstellen, wenn das Schicksal ausnahmsweise mal auf seiner Seite war? Ob Mittag- oder Abendessen, man traf ihn im Restaurant. Nach dem Essen hatte er keine Eile, blieb meist noch ein wenig sitzen. Jede kleine Unterhaltung zog er in die Länge und trödelte und bummelte bis zum Restaurantschluss. Alle nannten ihn Andy; vielleicht, weil sein Gemüt so schlicht schien wie sein Vorname? Selbst die Kinder sprachen ihn nicht mit »Monsieur« an. Er aber antwortete allen mit einem Lächeln.

Andy packte die Leute in Watte wie Schwerverbrannte. Er dehnte seine Sätze, hielt sie in der Schwebe und ließ sie weich landen. Seine Redeweise und sein Blick wirkten immer irgendwie besänftigend. Großzügig verteilte er Küsschen und freundliche Worte, sobald man sein Lächeln erwiderte. Und Andy lächelte, wie man auf unbekanntem Terrain die weiße Fahne schwenkt. Sein Gesicht leuchtete einladend und strahlte zugleich eine beunruhigende Gelassenheit aus, die verzweifelte Gelassenheit derer, die ihr Los akzeptiert und sich mit der Last auf ihren Schultern abgefunden haben. Vom Herrn des Gleichgewichts erbarmungslos gefordert, humpelte Andy stark. Eines seiner Beine war steif und verkümmert und machte ihm zu schaffen. Schon von Weitem war er zu erkennen: Andy taumelte nicht nur wie eine Kokospalme im Sturm, er wand sich, schlug regelmäßig nach links aus und konnte den Kopf kaum gerade halten. Wenn es stimmt, dass der Herr ihn nach seinem Bilde geformt hatte, dann muss er an dem Tag betrunken gewesen sein. Sich nicht zu bewegen machte es auch nicht leichter, denn seine Nerven spielten verrückt, egal, in welcher Position. Unwillkürliche Zuckungen schüttelten seinen Körper, vereitelten die einfachsten Bewegungen und bereiteten ihm Unbehagen. Sicher, Andy brauchte niemandem etwas zu beweisen, aber wie jeder zivilisierte Mensch wusste er, dass gutes Benehmen bei der Haltung beginnt. Doch je mehr er versuchte, sich zusammenzureißen, desto mehr rebellierten seine Nerven. Wie gelang es ihm, trotz dieser Qualen am Leben teilzuhaben? Obwohl ihn jeder einzelne Anfall sichtlich mitnahm, akzeptierte Andy sein Schicksal und sicherte sich seinen Platz unter den Anwesenden. In gewisser Weise kam er auf der Tatamimatte des Lebens besser zurecht als so viele andere, die Laufen als Leistungssport betrieben und wie wild herumrannten, um dem Alltag zu entfliehen. Andy stellte sich dem seinen, trug das Kreuz der Kinderlähmung tapfer und ohne zu lamentieren. Zwar hatte er weder die Statur eines Ringers noch die Balance eines Tänzers, trotzdem kam er Schritt für Schritt voran, immer in seinem Tempo. Die Jahreszeiten wechselten wie die Farbe seiner Jeans, aber nicht seine Stimmung. Woher nahm er seinen Gleichmut? Andy bezeichnete sich als Christ - doch lächelte etwa Christus mit dem Kreuz auf den Schultern? Andys Lächeln besagte: Ich bin hier. Einen Maulesel würde seine Bürde erdrücken: Wie schaffte dann Andy den Tanz des Alltags, ohne zu straucheln? Wenn man ihn so sah, wie er dahinhinkte, hin und her schwankte, das widerspenstige Bein nachzog und weiterhumpelte, kam es einem unanständig vor, sich über einen Schnupfen zu beklagen.

Andy begrüßte alle warmherzig und aufmerksam, tauchte jedoch nie in das Leben der anderen wie in ein Schwimmbecken. Denn Diskretion gehört sich nun mal, auch wenn die Nachbarn noch so nett scheinen. Lief Andy einem über den Weg, schaute er einen zunächst nur flüchtig an, bevor sein Blick lachend und voller Neugier verweilte. Mit einer Miene von fast kindlicher Unschuld lotete er die Laune des Gegenübers aus. Wer suchte keine Ermutigung, bevor er die unsichtbare Hürde überwindet, die uns voneinander trennt? Stellen Sie sich vor, Sie könnten weder laufen noch springen und schon gar nicht aus sicherem Stand boxen! Vorsicht ist keine Frage der Einstellung, wenn einem der Körper seine Wahrheit aufzwingt. Andys Körper verbot ihm jeglichen Übermut. Außerdem war er überaus höfâlich - die natürliche Zurückhaltung derer, die immer fürchten, sich anderen aufzudrängen, vor allem jenen, die sie nicht mögen. Scharfsinnig nutzte Andy seine Freundlichkeit wie einen Fallschirm. Allein hinkte er kreuz und quer durch das Viertel, besuchte seine Stammcafés. Wachsam schob er seinen Schatten durch die Welt und näherte sich anderen nur, wenn diese stillschweigend ihre Erlaubnis gaben. Wie viele einsame Fliegen müssen draußen bleiben, weil sich die Leute räumlich und geistig abschotten! Andy tat alles, um seinen widerspenstigen Körper zu zähmen, der dem Kopf die Gefolgschaft verweigerte und sein Feingefühl verletzte. »Huch, tut mir leid, ich bestelle Ihnen noch eins!«, sagte er entschuldigend, wenn er aus Versehen ein Glas umgestoßen hatte. »Nein, nein, ist nicht so schlimm, mach dir nichts draus«, antwortete man ihm prompt. Denn auch wenn ihm manchmal jemand einen spendierte, sträubten sich die meisten, von ihm etwas anzunehmen. So betont großzügig sie ihm gegenüber auch waren, offenbar war ihnen nicht klar, dass es mehr als nur Freundlichkeit, nämlich echter Respekt gewesen wäre, Andy auch mal eine Runde ausgeben zu lassen. Doch immer wiesen sie sein Angebot zurück in der Überzeugung, das Richtige zu tun, obwohl sie ihn damit verletzten. Ist ein Mann weniger stolz, wenn ihn die Natur vernachlässigt hat? Andy wusste die Antwort, schwieg aber aus Taktgefühl.

Manchmal, wenn er gekränkt war und diskret das Gesicht wahren wollte, tat er so, als hätte er einen Bekannten gesehen, und erhob sich, um sich woanders hinzusetzen. Ohne einen aus den Augen zu lassen, bewegte er sich mühsam vorwärts und verteilte Komplimente. Komplimente, die verschmitzt und anzüglich sein sollten, wo doch seine maßlose Schüchternheit verriet, dass er sich mit Spitzenwäsche wenig auskannte. Lag es an dem allzu zarten Flaum auf seinem Gesicht oder mimte er so den Verführer, der er gern gewesen wäre? Ach, was kümmern den Himmel die Wünsche der Sterblichen? Andy wusste das nur zu gut, also parodierte er die seinen. Scheu wie ein verletzter Vogel spielte er den Eroberer, der die Bräute der ganzen Stadt flachlegen konnte. Ob komplizenhaft oder kulant, seine Zuschauer lachten herzlich und nannten ihn einen unverbesserlichen Frauenhelden. Doch wenn er die Vorstellung mit beißender Selbstironie beendete, lachten alle plötzlich nicht mehr so laut. Denn auch an einer mit Heiterkeit präsentierten Wahrheit beißt man sich die Zähne aus, das Lächeln wird zur Grimasse oder erstirbt ganz. Andy war sanftmütig, aber nicht senil. Selbst durch den Schaum in seinem Bierglas betrachtet, blieb das Straßburger Münster am angestammten Platz. Und obwohl ihn viele der umschmeichelten Frauen mochten, kam er als potenzieller Partner für keine von ihnen infrage. Er hatte bemerkt, dass manche seinen zu feuchten Wangenküsschen auswichen, während andere sie mit einem Wohlwollen hinnahmen oder vielmehr ertrugen, das sie keinem anderen Mann entgegenbrachten. Außergewöhnlich sein ist gut fürs Ego, die Ausnahme sein nicht immer angenehm. Am Rande steht es sich selten bequem, vor allem, wenn man mit scharfem Blick den Abgrund unter den eigenen Füßen erkennt. Aber Andy ließ sich nicht unterkriegen. Die salbungsvolle Freundlichkeit jener Damen hatte etwas Verletzendes. Andy ließ das nicht kalt, doch anstatt sich dagegen zu verwehren, zog er stur seinen Stiefel durch. Mit treuherziger Miene ging er auf die zu, die ihn herablassend behandelten. Er umarmte sie und drückte ihnen seine nassen Küsschen auf, nutzte ihre Langmut aus und amüsierte sich darüber. Welches Herz aus Stein hätte ihm...
mehr

Autor