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Das Schachbrett

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Frankfurter Verlagsanstalterschienen am08.03.2024
Wie schon in seinem ersten Roman, Das Badezimmer, wo der Held das Badezimmer nicht mehr verlässt, spielen im Werk des großartigen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint geschlossene Orte eine große Rolle. Orte, an denen man ungestört über die Welt und deren gebrechliches Gefüge nachdenken kann. Als im Frühjahr 2020 von einem Tag auf den anderen sämtliche Pläne Toussaints über den Haufen geworfen werden, beginnt er, Stefan Zweigs Schachnovelle zu übersetzen, seine erste Übersetzung. Und so beschreibt er auf humorvolle Weise die Fallstricke dieser Übersetzung. Tag für Tag übersetzend entsteht dabei, fast ungewollt, ein Buch. Und was der Autor in dem Moment noch nicht ahnt: Das Buch, das er im Begriff ist zu schreiben, nimmt unter seiner Hand einen autobiographischen Charakter an. Zum ersten Mal spricht Toussaint von sich in der ersten Person: Eine spannende Autofiktion entsteht. Wir treten mit Toussaint in sein Schreibzimmer, blicken ihm über die Schulter, wenn er schreibend zurück in seine früheste Kindheit geht, vom Leben - und vom Tod - erzählt. Wir erfahren, wie sich seine Berufung zum Schriftsteller offenbarte. Eine Reise in 64 Kapiteln beginnt, die den 64 Feldern eines Schachbretts entsprechen. Denn um das Schachspiel dreht sich alles in diesem Buch, Schach ist Dreh- und Angelpunkt seiner ausschweifenden Erinnerungen. Entstanden ist ein »wunderbares und extrem intelligentes Buch mit einer sehr hohen Auffassung von dem, was Literatur sein muss« (Transfuge). »Intelligent und weit davon entfernt, langweilig zu sein.« (Culture de France) Und Frédéric Beigbeder äußerte begeistert: »Ich musste oft an Modiano denken, als ich es las.«

Jean-Philippe Toussaint, geboren 1957, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur und Fotograf. Der ehemalige Juniorenweltmeister im Scrabble lebt in Brüssel und auf Korsika. Sein Gesamtwerk erscheint auf Deutsch in der Frankfurter Verlagsanstalt, zumeist in der Übersetzung des Verlegers Joachim Unseld. Zuletzt erschienen seine Romane Der USB-Stick (FVA 2020) und Die Gefühle (FVA 2021), sowie Das Verschwinden der Landschaft (FVA 2022).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextWie schon in seinem ersten Roman, Das Badezimmer, wo der Held das Badezimmer nicht mehr verlässt, spielen im Werk des großartigen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint geschlossene Orte eine große Rolle. Orte, an denen man ungestört über die Welt und deren gebrechliches Gefüge nachdenken kann. Als im Frühjahr 2020 von einem Tag auf den anderen sämtliche Pläne Toussaints über den Haufen geworfen werden, beginnt er, Stefan Zweigs Schachnovelle zu übersetzen, seine erste Übersetzung. Und so beschreibt er auf humorvolle Weise die Fallstricke dieser Übersetzung. Tag für Tag übersetzend entsteht dabei, fast ungewollt, ein Buch. Und was der Autor in dem Moment noch nicht ahnt: Das Buch, das er im Begriff ist zu schreiben, nimmt unter seiner Hand einen autobiographischen Charakter an. Zum ersten Mal spricht Toussaint von sich in der ersten Person: Eine spannende Autofiktion entsteht. Wir treten mit Toussaint in sein Schreibzimmer, blicken ihm über die Schulter, wenn er schreibend zurück in seine früheste Kindheit geht, vom Leben - und vom Tod - erzählt. Wir erfahren, wie sich seine Berufung zum Schriftsteller offenbarte. Eine Reise in 64 Kapiteln beginnt, die den 64 Feldern eines Schachbretts entsprechen. Denn um das Schachspiel dreht sich alles in diesem Buch, Schach ist Dreh- und Angelpunkt seiner ausschweifenden Erinnerungen. Entstanden ist ein »wunderbares und extrem intelligentes Buch mit einer sehr hohen Auffassung von dem, was Literatur sein muss« (Transfuge). »Intelligent und weit davon entfernt, langweilig zu sein.« (Culture de France) Und Frédéric Beigbeder äußerte begeistert: »Ich musste oft an Modiano denken, als ich es las.«

Jean-Philippe Toussaint, geboren 1957, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur und Fotograf. Der ehemalige Juniorenweltmeister im Scrabble lebt in Brüssel und auf Korsika. Sein Gesamtwerk erscheint auf Deutsch in der Frankfurter Verlagsanstalt, zumeist in der Übersetzung des Verlegers Joachim Unseld. Zuletzt erschienen seine Romane Der USB-Stick (FVA 2020) und Die Gefühle (FVA 2021), sowie Das Verschwinden der Landschaft (FVA 2022).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783627023270
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum08.03.2024
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1128 Kbytes
Artikel-Nr.14071110
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



 
1

Ich habe auf das Alter gewartet, ich finde mich im Lockdown wieder.

 
2

Im Leben geschieht es manchmal, dass die Zeit der Welt, die Zeit der Geschichte - die Zeit der Kriege und Pandemien - in der privaten Zeit unseres persönlichen Lebens einen Widerhall findet. Genau das ist mir im Frühjahr 2020 passiert. Was sich damals während des ersten, die Welt in Starre versetzenden Lockdowns ereignete, war ein nicht erwartbarer Zusammenprall, ein nicht vorhersehbares Zusammentreffen zweier Momente meines Lebens, die nichts hätte einander nahebringen sollen.

 
3

Während des Lockdowns bin ich eines Tages wieder an meiner Schule in der Rue Américaine vorbeigekommen, die ich als Kind besucht hatte. Die Straßen von Brüssel waren wie ausgestorben, man sah nur sehr wenige Autos im Viertel. Vor dem roten Backsteingebäude meiner alten Schule angekommen, stieß ich die Tür auf und warf einen Blick in die Eingangshalle. Ich erkannte den Ort kaum wieder, nur der Geruch versetzte mich für einen Augenblick in die Zeit von damals zurück, alles andere blieb mir fremd. Hinter einer Flucht von Glastüren und Gängen erahnte ich vage im Hintergrund bodentiefe Fenster und Klassenräume. Einen überdachten Schulhof, einen menschenleeren Pausenhof. Ich betrat die Schule nicht, ich blieb reglos auf der Türschwelle der großen Eingangshalle stehen, die mit schwarzen und weißen Fliesen ausgelegt war, und was im blendend hellen Licht der Sonne dieses Märzmorgens vor mir erschien als eine Art aus den Tiefen der Zeit aufsteigender Widerschein, wie wenn man bei einer Fata Morgana in weiter Ferne Formen erblickt, die sich in der Hitze zu wellen beginnen, das war das schwarzweiße Würfelmuster des Fliesenbodens in dieser großen Eingangshalle, so wie sie Mitte der 1960er Jahre ausgesehen haben musste, oft nass vom Regen, mit Schlieren von Schlamm und halbverwischten feuchten Spuren von Fußabdrücken und Schulranzen. Ich betrachtete diesen alten schwarzweißen Fliesenboden, der jetzt trocken und staubig war und auf dem sich langsam und träge sich bewegende Schatten überlagerten, die von Ästen der Kastanienbäume im Pausenhof oder von viel weiter her, aus den Abgründen der Vergangenheit stammten, und da wurde mir bewusst - nie zuvor war mir das aufgefallen -, dass der Boden der Eingangshalle meiner ehemaligen Schule aussah wie ein Schachbrett.

 
4

Ich stand reglos vor dem Schachbrett meiner Erinnerung - und dort werde ich über die gesamte Länge dieses Buches stehen bleiben, das ist die Gegenwart dieses Buches, es ist seine unendliche Gegenwart.

 
5

In Das Leben Gebrauchsanweisung wendet Georges Perec ein von einem alten Problem abgeleitetes Prinzip an, das den Schachliebhabern gut bekannt ist: die Polygraphie des Springers. Es handelt sich um ein mathematisch-logisches Problem, auch das Springerproblem genannt, das darin besteht, für einen Springer auf einem Schachbrett eine Route zu finden, auf der dieser die 64 Felder durchläuft, ohne mehr als einmal auf demselben Feld zu verweilen. Ich beabsichtige selbst nicht eine derartige autobiographische Ausschließlichkeit. Nein. Ich werde mich allenfalls damit bescheiden, auf lässige Weise meinen Springer von Feld zu Feld wandern zu lassen, dem Lauf meiner Erinnerungen folgend, und versuchen, ein paar der flüchtigen und ergreifenden fragilen Schattenbilder, die mein Leben durchquert haben, wieder zum Leben zu erwecken.

 
6

Der symbolische Leuchtturm des Viertels meiner Kindheit ist das Haus in der Rue Jules Lejeune Nr. 2 in Brüssel, das an der Ecke der Place Charles Graux gelegen ist und durch seine Größe die Rue Washington dominiert. Ein Gebäude aus grauem Stein und roten Ziegeln, das man aus der Ferne sofort wahrnimmt, und wenn ich heute wieder im Viertel vorbeikomme, versäume ich es nicht, einen Blick auf dies Fenster im vierten Stock zu werfen. Ich schaue auf dies Fenster und habe manchmal den Eindruck, dort das Kind, das ich einst war, hinter den Fensterscheiben zu erahnen. Ja, ich sehe mich dort wieder im Schlafanzug auf die Rückkehr meiner Eltern lauern, die nicht nach Hause kommen. Die ersten Erinnerungen banger Momente stammen aus dieser Zeit - und wenn meine Erinnerung daran so lebhaft ist, dann liegt es zweifellos daran, dass ich mir dort, im Alter von sieben Jahren, zum ersten Mal den Tod meiner Eltern ausgemalt habe.

 
7

Rue Jules Lejeune, Rue Washington, Place Leemans, ich könnte die Landkarte meiner persönlichen Geographie meiner Kindheit aufzeichnen, auf der einige Orte wie beruhigende Schutzzonen auftauchen würden, die Plaine de jeux Renier Chalon, meine Schule in der Rue Américaine, der GB-Supermarkt in meiner Nachbarschaft, der schließlich wegen geschäftlicher Umstrukturierungen, die mir ebenso unverständlich wie gleichgültig bleiben, seinen Namen geändert hat, der »kleine Spanier« in der Chaussée de Waterloo, wohin meine Eltern mich und meine Schwester manchmal zum Abendessen mitgenommen haben. Im Zentrum dieses sicheren und beruhigenden Universums meiner Kindheit stand das Zimmer in der Rue Jules Lejeune, das ich mit meiner Schwester teilte. Ich erinnere mich an die Fantasiewelten, die ich dort mit Anne-Do errichtete, an unsere imaginären Hütten, an die Namen, die wir erfanden, um unsere Traumgespinste auszuschmücken. Ich war Michel, zu Ehren des Helden gleichen Namens aus der Grünen Bibliothek, Michel führt die Ermittlung, Michel geht auf Tauchstation, Michel verfolgt die Schatten. Michel! Jenseits dieser vertrauten Topographie rund um den sicheren Hafen der Rue Jules Lejeune erstreckte sich eine riesige und undeutliche, unbekannte Welt, in der es nur einige vertraute Inselchen gab, Sart-Dames-Avelines, Ostende, Le Coq, wo wir die Ferien mit unseren Großeltern verbrachten und die in der kindlichen Wahrnehmung, die wir damals von der Welt hatten, in transatlantischer Entfernung von Brüssel lagen.

 
8

Wir befinden uns im September 1963, ein paar Wochen nach meinem ersten Schultag in der Schule in der Rue Américaine. Zu dem vertrauten und tröstlichen Pantheon meiner Eltern und Großeltern kam eine neue wohlwollende Person hinzu, der Lehrer Monsieur Massoul. Wir sitzen hinter unseren Pulten in einem dieser Klassenzimmer der 1960er Jahre, mit schwarzer Tafel und Landkarten, die die Erinnerung in verwaschenen Farben zeigt, wir lernen schreiben, reihen mit einem Federhalter fleißig Buchstaben um Buchstaben in gerundeter Schrift aneinander. In der Klasse herrscht Stille, Schreibfedern aus Metall kratzen über das weiße, leicht auftragende Papier der Schulhefte. Der Lehrer gibt uns die Hausaufgabe für den nächsten Tag, wir sollen Buchstabenreihen schreiben. Nach Hause zurückgekehrt, mache ich in mich in meinem Zimmer in der Rue Jules Lejeune an die Arbeit. Sorgsam male ich einen Buchstaben nach dem anderen in mein Schulheft, eine Reihe mit dem Buchstaben »a«, eine andere mit dem Buchstaben »b«, eine mit dem Buchstaben »c«. Tita, meine Großmutter mütterlicherseits, ist an diesem Tag bei uns zu Hause. Während sie mich hinter ihrem Schleier voller Rührung beobachtet, wie ich meine Buchstaben aufschreibe, trinkt sie eine Tasse Tee - erahnt sie bereits in mir den Schriftsteller, der ich werden sollte? -, und dann, plötzlich, mache ich einen Tintenfleck auf das Blatt. Plopp. Ein richtig dicker Klecks. Meine Brust verkrampft sich, ich bin ohne Kraft, die Welt um mich herum ist gerade eingestürzt. Es ist die erste absolute Katastrophe, mit der ich in meinem Leben als Schriftsteller konfrontiert bin. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich bin ein kleiner Junge im Alter von sechs Jahren (nicht einmal sechs, ich war fünfeinhalb bei der Einschulung 1963), und ich bin am Boden zerstört. Tita nimmt sich der Sache an, der Tintenfleck in meinem Schulheft erscheint ihr nicht so dramatisch wie mir, nicht irreparabel. Mit einem Radiergummi versucht sie, den Fleck verschwinden zu lassen. Aber nichts zu machen, die Tinte lässt sich nicht mit der Art von Radiergummi, den sie benutzt, entfernen, es hat nur zur Folge, dass sich das Papier weiter aufreibt, knittert und einzureißen droht. Ich verfolge ängstlich den Ablauf ihrer Unternehmungen. Ich bin am Rande der Tränen. Man muss zu anderen Mitteln greifen, sagt Tita. Eine Rasierklinge. Eine Rasierklinge? Klarmachen zum Gefecht, gemeinsam machen wir uns in der Wohnung auf die Suche nach einer Rasierklinge, wir gehen von Zimmer zu Zimmer, öffnen Schubladen. Schließlich macht Tita im Badezimmer eine Rasierklinge ausfindig. Sie versichert mir, dass ich gerettet sei, dass alles gut werde, dass ich nicht ins Gefängnis müsse. Tita setzt sich wieder vor mein Schulheft, krempelt in Vorbereitung auf den Eingriff die Ärmel ihrer Strickjacke hoch, überprüft die Schärfe der Klinge am Löschblatt auf dem Schreibtisch, streckt, um sich zu konzentrieren, ihre Zungenspitze zwischen die Lippen. Vorsichtig beginnt sie, mit der scharfen Klinge an der Tinte in meinem Schulheft zu kratzen und zu schaben. Der Fleck wird schwächer, wird kleiner, schrumpft - und plötzlich durchbohrt die Klinge das Papier. Da ist ein Loch in meinem Schulheft! Auf ein Drama folgt das nächste, auf eine Katastrophe pfropft sich die nächste, im allgemeinen Sprachgebrauch nennt man das den größten anzunehmenden Unfall. Mitten in meinem Schulheft klafft ein großes Loch, umgeben von winzigen gezackten Resten blauer Tinte. Das ist das Ende für mich, am Schreibtisch lasse ich mich schluchzend auf meinen Arm fallen. Das ist das Exil, die sichere...

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Autor

Jean-Philippe Toussaint, geboren 1957, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur und Fotograf. Der ehemalige Juniorenweltmeister im Scrabble lebt in Brüssel und auf Korsika. Sein Gesamtwerk erscheint auf Deutsch in der Frankfurter Verlagsanstalt, zumeist in der Übersetzung des Verlegers Joachim Unseld. Zuletzt erschienen seine Romane Der USB-Stick (FVA 2020) und Die Gefühle (FVA 2021), sowie Das Verschwinden der Landschaft (FVA 2022).

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