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Tod in den Augen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
84 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.12.20161. Auflage
Jean-Pierre Vernant gehört zu jenen französischen Althistorikern, die mit unkonventionellen interdisziplinären Arbeiten international großes Aufsehen erregt haben. Das Verdienst dieser Schule von Althistorikern liegt in dem Versuch, die Antike unter bislang vernachlässigten Fragestellungen wieder zum Reden zu bringen: für die Gegenwart. In seiner Analyse der beiden Frauengestalten Artemis und Gorgo zeigt Vernant, wie sich die symbolhafte Bedeutung der griechischen Mythologie entziffern läßt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Jean-Pierre Vernant (1914-2007) war ein französischer Altphilologe, Religions- und Kulturhistoriker und Anthropologe. Er lehrte zunächst an der renommierten Pariser Ecole Pratique des Hautes Etudes. Ab 1974 war er Professor für Religionsgeschichte am Collège de France.
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Produkt

KlappentextJean-Pierre Vernant gehört zu jenen französischen Althistorikern, die mit unkonventionellen interdisziplinären Arbeiten international großes Aufsehen erregt haben. Das Verdienst dieser Schule von Althistorikern liegt in dem Versuch, die Antike unter bislang vernachlässigten Fragestellungen wieder zum Reden zu bringen: für die Gegenwart. In seiner Analyse der beiden Frauengestalten Artemis und Gorgo zeigt Vernant, wie sich die symbolhafte Bedeutung der griechischen Mythologie entziffern läßt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Jean-Pierre Vernant (1914-2007) war ein französischer Altphilologe, Religions- und Kulturhistoriker und Anthropologe. Er lehrte zunächst an der renommierten Pariser Ecole Pratique des Hautes Etudes. Ab 1974 war er Professor für Religionsgeschichte am Collège de France.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105614969
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum15.12.2016
Auflage1. Auflage
Seiten84 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2156226
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Von den Rändern zum Monströsen

Zusammen mit Dionysos ist Artemis eine der Gottheiten, welche die Griechen in ihrer Vorstellung weit von Griechenland weg weisen, als eine Gottheit, die von draußen, aus der Fremde gekommen ist. Das gilt für die Taurische Artemis, von der Athen und Sparta behaupten, die durch Orest von den Skythen geholte Statue zu besitzen. Als Fremde, Barbarin, Wilde und Blutrünstige gehört die Taurische Artemis einem Volke an, das an den Antipoden Griechenlands wohnt. Die skythischen Taurer kennen die Gesetze der Gastfreundschaft nicht. Sie bemächtigen sich der Fremden, vor allem der Griechen, und opfern sie auf dem Altar der Göttin. Sie verkörpern das áxenon, das ámikton, das Ungastliche, die Weigerung, sich mit dem Anderen zu vermischen.[17]

Doch welche Rolle spielt nun diese barbarische Artemis, die es nach menschlichem Blut, nach griechischem Blut dürstet, wenn sie, von den Griechen aufgenommen und in deren Kult integriert, zur Göttin des zivilisierten Menschen wird, des Menschen also, der, im Gegensatz zum Barbaren, zum Wilden, jenem, der nicht er selbst ist, einen Platz einräumt: dem xénos? Sobald die fremde Artemis griechisch wird, schlägt ihre Andersheit um, ihre Funktion verkehrt sich. Sie bezeichnet nicht mehr, wie bei den Skythen, die dem Wilden eigentümliche Unfähigkeit, mit dem Zivilisierten in Berührung zu treten, sondern die zur Kultur gehörende Fähigkeit, das ihr Fremde sich einzuverleiben, den Anderen zu assimilieren, ohne dadurch zu verwildern.

Das Andere als Bestandteil des Selben, als Bedingung der eigenen Identität - das ist der Grund, weshalb die Herrin der Ränder in den Heiligtümern, wo sie die Jugendlichen die Grenze zum Erwachsenenstand überschreiten läßt und sie von der äußersten Peripherie ins Zentrum, von der Differenz zur Ähnlichkeit führt, zugleich als Polis-Göttin erscheint, als Stadtgründerin, die für alle anfänglich Verschiedenen, einander Gegenüberstehenden oder gar Feinde ein gemeinsames Leben im Rahmen einer vereinten Gruppe aus untereinander identischen Wesen einrichtet. Die einschlägigen Beispiele sind zahlreich und deutlich genug, von der Artemis von Tyndaris bis zur Triclaria von Patras und zur Orthia in Sparta.[18]

Ein Wort nur zur Orthia. Sie ist für die Griechen die barbarische Artemis, die Skythin. Sie besorgt den gesamten Initiationsprozeß der Knaben bis zu seinem Abschluß. Was erzählt nun die Sage der Gründung ihres Heiligtums?[19] Um an ihrem Altar gemeinsam ein erstes Opfer zu vollziehen, haben sich die verschiedenen Teile des archaischen Sparta vereint: die vier õbaí, die einzelnen, auf ihren Territorien und in ihren Dorfsiedlungen niedergelassenen Stämme, die einander zunächst allesamt fremd waren. Die Sache nimmt einen schlechten Anfang; im Verlauf der Opferzeremonie geraten die Gruppen in Streit, massakrieren sich gegenseitig, und es ist das Blut der künftigen Bürger, die noch nicht in einer einzigen, einheitlichen Gemeinschaft zusammengefaßt sind, das den Altar der Göttin besprengt, so wie ihn später das Blut der Jugendlichen netzen wird, die im Verlaufe der Initiationsriten der Geißelung unterworfen werden. Die Einrichtung des Kultes mit seinen regelgerechten Prozeduren macht es nicht nur möglich, jedes Jahr eine neue Schicht von Jugendlichen dadurch zu integrieren, daß sie den Erwachsenen angeglichen werden, sondern sie vollzieht zugleich die harmonische Verbindung von unterschiedlichen und bisher feindlichen Elementen, die Verschmelzung aller Teilnehmer, die sich von nun an in bezug auf die Anderen als Isoi, als Homoioi, als Gleiche oder Ähnliche bezeichnen werden, zu einem einheitlichen und homogenen Ganzen. Durch Vermittlung dieser fremden Artemis, der Trägerin der Andersheit, bildet und prägt die griechische Polis, indem sie sie aufnimmt, im Ausgang vom Anderen und zusammen mit dem Anderen ihr Selbes.

Stellen wir uns zum Schluß dieses knappen Überblicks über die Besonderheiten Griechenlands noch einmal die Frage: Warum Artemis? Um den Gewinn wenn schon nicht des Verstehens, so doch des Versuchs dazu; um diese Anderen zu verstehen, die die alten Griechen sind, und auch um uns selbst zu verstehen. Nicht weil die Griechen ein Modell wären und ihre Vorgehensweise sich auf die unsrige übertragen ließe, so verlockend dies auch erscheinen mag, da es ja um ein in mancher Hinsicht aktuelles Problem geht. Sondern weil der Abstand klarer erkennen läßt, daß dann, wenn jede menschliche Gruppe, jede Gesellschaft, jede Kultur sich selbst für die Zivilisation hält, sich als solche denkt und erlebt, deren Identität es zu erhalten und deren Fortbestand es gegen die Einbrüche von außen und den Druck von innen zu sichern gilt, jede einzelne Zivilisation ebenfalls mit dem Problem der Andersheit in ihren vielfältigen Formen konfrontiert wird: angefangen beim Tod, dem absolut Anderen, bis hin zu den Veränderungen, die sich mit der Abfolge der Generationen im Gesellschaftskörper ergeben und die auch Platz schaffen für die notwendigen Kontakte, für den Austausch mit dem »Fremden«, den keine Polis entbehren kann. Die Griechen haben dieses Problem in ihrer Religion dadurch zum Ausdruck gebracht, daß sie es in alle Dimensionen öffneten, einschließlich der philosophischen Dimension, wie Platon sie entwickelte: Das Selbe läßt sich nur fassen und bestimmen im Verhältnis zum Anderen, zur Vielfalt der anderen. Wenn das Selbe in sich verschlossen bleibt, ist kein Denken möglich. Und hinzuzufügen ist: auch keine Zivilisation. Wenn die Griechen aus der Göttin der Ränder eine Integrations- und Assimilationskraft machten und wenn sie Dionysos, der im griechischen Pantheon die Figur des Anderen verkörpert, mitten hineinstellten in das gesellschaftliche Dispositiv, mitten auf die Bühne[20], dann erteilen sie uns eine bedeutsame Lektion. Sie fordern uns nicht etwa dazu auf, Polytheisten zu werden, an Artemis und an Dionysos zu glauben, sondern dazu, in der Vorstellung von Zivilisation den gebührenden Platz einer Geisteshaltung einzuräumen, die nicht nur einen moralischen und politischen Wert besitzt, sondern auch einen im Grunde intellektuellen Wert, der Toleranz heißt.

 

Warum nun aber Gorgo? Für den Historiker - und ganz besonders für den Religionshistoriker - kann sich ja das Problem der Andersheit im antiken Griechenland nicht nur auf die Vorstellung beschränken, die die Griechen sich von den anderen gebildet haben, von all jenen, die sie unter mancherlei Bezeichnungen in die Kategorie des Verschiedenen einreihten, um sie gedanklich fassen zu können, und deren Bilder, ob es sich nun um den Barbaren, den Sklaven, den Fremden, den Knaben, die Frau handelt, stets verzerrt erscheinen, weil sie stets unter Bezug auf dasselbe Modell konstruiert worden waren: den erwachsenen Bürger. Die Untersuchung muß auch das berücksichtigen, was man die extreme Andersheit nennen könnte, und nach der Art und Weise fragen, wie die Alten in ihrem religiösen Universum dieser Erfahrung eines absolut Anderen eine Form zu geben versucht haben, eines Anderen, das nicht nur dasjenige eines vom Griechen verschiedenen menschlichen Wesens ist, sondern das, was sich im Hinblick auf das menschliche Wesen selbst als radikale Differenz manifestiert: nicht der andere Mensch, sondern das Andere des Menschen.



Abbildung 2: Archaischer Stirnziegel an der Akropolis in Athen



Dies scheint uns der Sinn und die Funktion jener seltsamen heiligen Macht gewesen zu sein, die mittels der Maske wirkt; die keine andere Form als die der Maske annehmen und die sich nur als Maske präsentieren kann: Gorgo.

Mit einigen ihrer Merkmale rückt sie in die Nähe der Artemis[21]: Im Heiligtum der Artemis Orthia in Sparta finden sich unter den Votivmasken, die der Göttin geweiht sind (ähnliche Masken mußten die Jugendlichen im Verlaufe der agogé tragen, wenn sie Nachahmungstänze aufführten), zahlreiche Masken, die das monströse und schreckenerregende Gesicht der Gorgo wiedergeben.

Die Andersheit aber, welche die weibliche und die männliche Jugend, Knaben und Mädchen, im Schutze der Artemis erkundet, scheint insgesamt auf einer gleichsam horizontalen Achse zu liegen, sowohl zeitlich als auch räumlich: Es ist die Andersheit, welche die ersten Augenblicke des menschlichen Lebens markiert, die betont wird durch Etappen und Übergänge, bis Mann und Frau im umfassenden Sinne sie selbst werden; ferner jene Andersheit, die an den Grenzen des staatsbürgerlichen Raums herrscht, auf den unbestellten Landstrichen fern der Stadt und des zivilisierten Lebens, an den Rändern der ungezügelten Wildheit. Dieser Wildheit, die sie mit Gorgo zu teilen scheint, nimmt sich Artemis jedoch auf andere Weise an - sie betont und verdeutlicht sie nur deshalb, um sie besser an den Rand verweisen zu können.

Während sie die Jugendlichen in ihrer Differenz dazu erzieht, an den Peripherien die Erfahrung von unterschiedlichen Formen der Andersheit zu machen, wacht Artemis darüber, daß sie das Modell, nach dem sie sich richten müssen, wenn der Tag gekommen ist, richtig erlernen. Von den Rändern aus, an denen sie herrscht, bereitet sie die Rückkehr ins Zentrum vor. Die Kurotrophie, die sie in einer Zone der Wildnis ausübt, zielt auf eine gute Integration in den staatsbürgerlichen Kontext.

Von einem ganz anderen Typus ist die Andersheit, welche die Gorgo verkörpert. Wie jene des Dionysos wirkt sie auf einer vertikalen Achse; sie betrifft nicht mehr die Anfangszeiten der Existenz und auch nicht die Hintergründe des Zivilisationshorizonts, sondern das, was den Menschen zu jeder Zeit und an jedem...
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Autor

Jean-Pierre Vernant (1914-2007) war ein französischer Altphilologe, Religions- und Kulturhistoriker und Anthropologe. Er lehrte zunächst an der renommierten Pariser Ecole Pratique des Hautes Etudes. Ab 1974 war er Professor für Religionsgeschichte am Collège de France.