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Ein völlig anderes Leben

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am14.03.2022
Jetzt habe ich niemanden mehr, ist Jules erster Gedanke, als ihre Mutter stirbt. Doch dann findet sie bei der Wohnungsauflösung Unterlagen, die darauf hindeuten, dass sie adoptiert wurde. Jule, die sich ihrer Mutter nie wirklich nah gefühlt hat, beginnt ihre gesamte Vergangenheit zu hinterfragen: den überstürzten Umzug in den Westen, den Kontaktabbruch des Vaters, das Verschwinden der Schwester sowie das beharrliche Schweigen ihrer Mutter dazu. Hätte sie heute ein völlig anderes Leben, wäre sie bei ihrer richtigen Familie aufgewachsen? Wäre sie glücklich? Jule weiß, sie muss ihre leibliche Mutter finden und zur Rede stellen. Und ahnt dabei nicht, dass sie nicht die Einzige ist, die jahrelang nach Antworten gesucht hat...

Lisa Quentin ist 1985 geboren, hat Germanistik und Psychologie in Freiburg studiert und danach zehn Jahre lang als Werbetexterin und Online-Redakteurin gearbeitet. Nach einer Ausbildung zum NLP-Coach arbeitet sie nun in der Online-Branche und erforscht das Verhalten von Nutzer*innen. Zusammen mit ihrem Mann und drei Kindern lebt sie in Lübeck. Ein völlig anderes Leben ist ihr Debütroman bei Goldmann.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR20,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextJetzt habe ich niemanden mehr, ist Jules erster Gedanke, als ihre Mutter stirbt. Doch dann findet sie bei der Wohnungsauflösung Unterlagen, die darauf hindeuten, dass sie adoptiert wurde. Jule, die sich ihrer Mutter nie wirklich nah gefühlt hat, beginnt ihre gesamte Vergangenheit zu hinterfragen: den überstürzten Umzug in den Westen, den Kontaktabbruch des Vaters, das Verschwinden der Schwester sowie das beharrliche Schweigen ihrer Mutter dazu. Hätte sie heute ein völlig anderes Leben, wäre sie bei ihrer richtigen Familie aufgewachsen? Wäre sie glücklich? Jule weiß, sie muss ihre leibliche Mutter finden und zur Rede stellen. Und ahnt dabei nicht, dass sie nicht die Einzige ist, die jahrelang nach Antworten gesucht hat...

Lisa Quentin ist 1985 geboren, hat Germanistik und Psychologie in Freiburg studiert und danach zehn Jahre lang als Werbetexterin und Online-Redakteurin gearbeitet. Nach einer Ausbildung zum NLP-Coach arbeitet sie nun in der Online-Branche und erforscht das Verhalten von Nutzer*innen. Zusammen mit ihrem Mann und drei Kindern lebt sie in Lübeck. Ein völlig anderes Leben ist ihr Debütroman bei Goldmann.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641279943
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum14.03.2022
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2321 Kbytes
Artikel-Nr.8380824
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Am Anfang das Ende

Der Anruf kam gegen halb zehn, kurz nachdem Jule in der Agentur angekommen war. Es war noch ruhig im Büro, nur der Rechner ratterte sich schon wach. Sie starrte in ihren Becher, dem Aquarell aus Kaffee und warmer Milch hinterher, als ihr Handy vibrierte. Es war ein neuer Arzt, den sie noch nicht kannte.

Der Zustand ihrer Mutter habe sich über Nacht verschlechtert. Organversagen. Eingeschränkte Hirnfunktionen.

Natürlich, sie würde sich sofort auf den Weg machen. Nein, sie brauche nicht lange.

Sie fuhr den Rechner wieder herunter, ging zu Laurenz und sagte ihm, dass sie gehen müsse. Er nickte, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen, und sie lief los, raus aus dem Glasbunker, zur U-Bahn-Station. Der Regen kam von vorne, kam er in Hamburg immer, nie von oben. Es war, als wüsste der Regen in Hamburg überhaupt nicht, dass es auch senkrecht ging.

Drei Minuten warten.

Ausreichend Zeit für ihre Gedanken, um zu gären, aufzuquellen und ihr das Hirn mit Angst zu verkleben. Seit sie denken konnte, waren sie zu zweit gewesen, Anke und Jule, der Torso einer verstümmelten Familie. Vorsichtshalber hatten sie sich fest miteinander verwoben, die Nähte ihrer Identitäten aufgetrennt und zu einem rauen, grobmaschigen Stoff verknüpft, der ihr Leben geworden war.

Es hatte gut gehalten, bis sich der Krebs in Ankes Körper verbissen hatte, ihn immer poröser werden ließ und heute nun das wahr machte, wovor Jule sich seit Jahren fürchtete: Wenn ihre Mutter jetzt starb, hatte sie niemanden mehr.

In einer Welt, die bald acht Milliarden Menschen beheimatete, würde Jule allein sein. Ein isolierter Mensch inmitten einer komplexen Matrix aus Beziehungen und Verwandtschaften. Wie schwerelos würde sie durch die Welt treiben.

Als sich die Türen der Bahn öffneten, stieg Jule gegen den Strom der Büromenschen ein, mit angehaltenem Atem in die abgestandene Berufsverkehrsluft. Sie setzte sich gegenüber einer Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Schoß und sortierte ihre langen Beine unter den Sitz. Mutter und Tochter schauten aus dem Fenster, und das Mädchen rieb eine Haarsträhne der Frau zwischen den Fingern. Jule folgte ihren Blicken zur Hafenkante, zur stolzen Rickmer Rickmers, den Partydampfern und Barkassen, zum lächerlichen Schaufelraddampfer. Nirgends war die Hansestadt unehrlicher als hier.

Die Frau küsste ihr Kind auf den Scheitel, das Mädchen lächelte und vergrub sein Gesicht im großen Schal der Mutter.

Schnell schaute Jule auf das grau gesprenkelte Linoleum zu ihren Füßen. Womöglich würde sonst etwas aus ihr herausbrechen, das sie oben im Büro fest nach unten gedrückt hatte, das auf keinen Fall hier und besser auch nicht heute herauskommen durfte. Sie biss sich mit den Backenzähnen auf die Innenseite der Wange. Schloss die Augen, als der Schmerz stärker wurde und alles in ihr schrie, sie solle aufhören. Doch sie hörte nicht auf, presste die Lippen fest aufeinander, damit kein Ton nach außen drang, biss weiter, so lange, bis sie nichts anderes mehr spüren konnte als den grellen, kreischenden Schmerz und sie einen Moment Ruhe fand. Dann der vertraute Geschmack von Blut. Sie musste aufhören, lockerte den Kiefer, versuchte die Vereinbarung einzuhalten, die sie mit sich selbst getroffen hatte.

Sie sah nicht mehr zu der Frau und dem Kind, nur noch nach unten, und verband die Linoleumpunkte auf dem Boden zu Mustern und Figuren.

Einmal hatte sie umsteigen müssen, dann waren es noch zehn Minuten Fußweg zur Klinik. Ihre Sneakers schmatzten auf den Schneeresten. In der vergangenen Woche hatte es geschneit, mehrere Zentimeter hoch. Busse und Bahnen waren augenblicklich ausgefallen, Menschen schlitterten über die vereisten Straßen. Der Winter traf die Stadt immer unvorbereitet. Über Nacht waren die Temperaturen aber wieder gestiegen, und seit heute Morgen sog der Regen an den zurückgebliebenen Schneehaufen, die sich an Hauswände und Bordsteine drängten.

Auf den ersten Metern durch das trostlose Labyrinth der Klinikflure hinterließ Jule nasse Abdrücke. Sie bewegte sich zügig durch den Desinfektionsgeruch, der alles mit Hoffnungslosigkeit infizierte. Schon lange musste sie niemanden mehr nach dem Weg fragen. In den letzten vier Jahren war sie so oft hier gewesen, sie kannte die Dienstpläne der Ärzte und Schwestern auf der Station, wusste, wann sie welche Reinigungskraft auf welchem Flur antreffen würde, und an welchem Hintereingang die Pfleger zum Rauchen zusammenstanden. Sie hatte Weihnachten im Krankenhaus verbracht und an Silvester mit den Schwestern auf das neue Jahr angestoßen. Alles hier war ihr so verdammt vertraut.

Jule konnte nicht sagen, wie lange sie schon an Ankes Bett saß. Das Grau draußen hatte eine dunklere Schattierung angenommen, richtig finster war es aber noch nicht. Stundenlang hatte sie Ankes Hand gehalten, die sich spröde und kühl anfühlte. Es gab keine Maschinen und Geräte mehr, kein Netz, keinen doppelten Boden. Nur eine Infusion mit Schmerzmitteln, so hatte Anke es gewollt.

Flüsternd hatte Jule ihr versichert, dass es in Ordnung sei zu gehen. Dass sie genug gekämpft hätte. Dass sie, Jule, zurechtkommen würde. Sie hatte versucht, in diesen letzten Stunden alles zu vergessen, was nicht gut gewesen war, und die Lücken mit schönen Erinnerungen zu füllen:

Wie sie als Kind manchmal in Ankes Bett schlafen durfte, ihre Mutter sie fest umarmt hielt und ihr Wenn es dich nicht gäbe sich als warmes Gefühl in Jules Bauch ausbreitete.

Wie sie gemeinsam ihre neue Adresse geübt hatten, wenn sie wieder einmal umgezogen waren. Karpfenweg 8, schielend und mit Fischmund. Königsallee 211, wie die Nummer der Feuerwehr, nur andersrum.

Oder wie sie bis zuletzt sonntagabends bei Anke gewesen war, zu Schnittchen und Tatort. Wie sie nebeneinander auf dem Sofa gesessen hatten, sich der Nähe der anderen gewiss, und es ganz egal gewesen war, wer ermittelte.

Jule stellte sich vor, dass Anke noch einmal die Augen öffnen und sie anlächeln würde, einen letzten Seufzer ausstoßen und dann friedlich gehen würde.

Aber Anke starb nicht.

Sie röchelte wie eine Ertrinkende, immer wieder setzte ihr Atem aus, sie stöhnte und verzog das Gesicht. Einmal begann sie zu zittern, erst ein leichtes Vibrieren, dann ein heftiges Zucken des ganzen Körpers. Dazu gab sie kehlige Laute von sich, Speichel rann aus ihren Mundwinkeln. Jule drückte und drückte den Knopf, weil aber niemand kam, stürzte sie hinaus auf den Flur, horchte und folgte der Richtung, aus der das Quietschen von Schwesternschuhen zu hören war.

»Schnell!«, rief Jule. »Irgendetwas passiert.«

Schwester Elena folgte ihr. Sie war eine große Frau mit warmem Blick und entschlossenen Bewegungen, die Anke und Jule schon lange kannte. Sie umrundete das Bett und drehte am Rädchen der Infusionsflasche. Schnell entspannte sich der verkrampfte Körper. Elena wartete noch einen Moment, dann zog sie behutsam das Laken glatt und strich Anke über den Handrücken. »Mehr können wir nicht tun«, sagte sie und berührte beim Rausgehen kurz Jules Schulter.

Jule setzte sich zurück ans Bett und fuhr mit den Fingerspitzen den Faltenzug des stumpfen Lakens nach. Hier zu sitzen, ohnmächtig, nur warten zu können - das alles erinnerte sie an früher, an Zeiten, an die sie lieber nicht denken wollte.

Phasen, in denen Anke tagelang in ihrem Bett verschwunden war. Nichts gegessen, viel geweint und durch Jule hindurchgesehen hatte. Jule hatte nach der Schule auf der leeren Seite des Ehebetts gesessen und ihrer Mutter lustige Geschichten erzählt, die sie draußen erlebt oder erfunden hatte.

Diese Tage, manchmal Wochen, in denen Jule die Wohnung in Ordnung hielt, einkaufen ging und sich besonders anstrengte, damit niemand Fragen stellte. Nie hatte sie gewusst, wie lange es diesmal dauern würde.

Doch selbst in guten Phasen, wenn Anke zur Arbeit ging, es schaffte, einzukaufen und aufzuräumen, manchmal sogar Jules Hausaufgaben durchsah oder sie nach den neuen Klassenkameraden fragte, also das tat, was andere Mütter auch taten, hörte ihre Traurigkeit nicht auf.

Die Traurigkeit veränderte nur ihre Form, war nicht mehr flüssig und heiß, sondern wurde zu etwas, das Anke von innen auskleidete, sie kantig und kühl werden ließ, ihre Bewegungen hölzern machte, ihre Sätze kurz.

Schluss damit, dachte Jule. Nicht heute. Sie ließ ihren Blick über die beigefarbenen Fronten der Schränke schweifen, über die schweren braunen Vorhänge, den kleinen Tisch, den anderen Stuhl. Die Wände waren kahl, vor dem Fenster war nur blassgraue Großstadtnacht.

Das Sterben zog sich noch mehrere Stunden hin. Anke wollte und wollte sich nicht geschlagen geben, bäumte sich auf, spie das letzte bisschen Leben aus ihren Zellen.

Stirbt man, wie man lebt?, überlegte Jule. Ist »friedlich entschlafen« das Privileg der Dankbaren? Und blieb für eine Frau wie ihre Mutter, die stets um des Überlebens willen gelebt hatte, die immer auf der Hut gewesen war, keinen Genuss und keine Lust kannte, die ständig gearbeitet hatte, Ordnung verlangte und Leichtigkeit misstraute - blieb für so eine Frau nur ein zäher Tod wie dieser?

Als es dann endlich so weit war, fühlte Jule nichts außer Erleichterung. Zu keinem anderen Gefühl war sie mehr in der Lage. Ihr Vorrat an Angst, Trauer und Verzweiflung war in diesem entscheidenden Moment aufgebraucht, hatte sich erschöpft in den zahllosen Nächten, in denen sie wach gelegen und die Dämonen von sich ferngehalten hatte. Wie sehr sie sich auch anstrengte, sie war nicht angemessen betroffen, als das Zimmer plötzlich von...

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Lisa Quentin ist 1985 geboren, hat Germanistik und Psychologie in Freiburg studiert und danach zehn Jahre lang als Werbetexterin und Online-Redakteurin gearbeitet. Nach einer Ausbildung zum NLP-Coach arbeitet sie nun in der Online-Branche und erforscht das Verhalten von Nutzer*innen. Zusammen mit ihrem Mann und drei Kindern lebt sie in Lübeck. Ein völlig anderes Leben ist ihr Debütroman bei Goldmann.