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Es ist schon fast halb zwölf

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Amalthea Signum Verlagerschienen am24.01.20221. Auflage
Die Macht der Erinnerung Hilde und Karl könnten einen beschaulichen Lebensabend verbringen, wäre da nicht Karls zunehmende Demenz und die bevorstehende Übersiedelung ins Altersheim. Am Dachboden findet Hilde eines Tages eine Kiste mit alten Briefen - und während das Gedächtnis ihres Mannes immer mehr nachlässt, wird die Vergangenheit für Hilde umso lebendiger. Die Briefe führen sie zurück in jene Zeit, als Karl und sie verlobt waren, getrennt durch familiäre Verpflichtungen, Karls Arbeit in Berlin - und das NS-Regime, das bald seinen Schatten über ihr junges Glück wirft. Als auch noch ein Hobbyhistoriker beginnt, Fragen nach dem Verschwinden von Hildes Nichte zu stellen, droht ihr das Geflecht aus Lügen, das sie um ihr Leben aufgebaut hat, zusehends zu entgleiten ...

Zdenka Becker, DI, geboren in Eger/Tschechien, aufgewachsen in der Slowakei, studierte Wirtschaft und Dolmetschen in Bratislava und Wien. Sie ist freie Autorin und schreibt Romane (u. a. »Samy«, 2018, »Ein fesches Dirndl«, 2019), Theaterstücke (u. a. »Odysseus kam nicht zurück«, »Wir leben«, 2016) sowie die Europakolumne in der Zeitschrift »morgen«.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR25,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR20,99

Produkt

KlappentextDie Macht der Erinnerung Hilde und Karl könnten einen beschaulichen Lebensabend verbringen, wäre da nicht Karls zunehmende Demenz und die bevorstehende Übersiedelung ins Altersheim. Am Dachboden findet Hilde eines Tages eine Kiste mit alten Briefen - und während das Gedächtnis ihres Mannes immer mehr nachlässt, wird die Vergangenheit für Hilde umso lebendiger. Die Briefe führen sie zurück in jene Zeit, als Karl und sie verlobt waren, getrennt durch familiäre Verpflichtungen, Karls Arbeit in Berlin - und das NS-Regime, das bald seinen Schatten über ihr junges Glück wirft. Als auch noch ein Hobbyhistoriker beginnt, Fragen nach dem Verschwinden von Hildes Nichte zu stellen, droht ihr das Geflecht aus Lügen, das sie um ihr Leben aufgebaut hat, zusehends zu entgleiten ...

Zdenka Becker, DI, geboren in Eger/Tschechien, aufgewachsen in der Slowakei, studierte Wirtschaft und Dolmetschen in Bratislava und Wien. Sie ist freie Autorin und schreibt Romane (u. a. »Samy«, 2018, »Ein fesches Dirndl«, 2019), Theaterstücke (u. a. »Odysseus kam nicht zurück«, »Wir leben«, 2016) sowie die Europakolumne in der Zeitschrift »morgen«.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783903217959
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum24.01.2022
Auflage1. Auflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1102 Kbytes
Artikel-Nr.8810225
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

FISCHBACH, 17. AUGUST 2008

Die Haustür geht auf. Im Türrahmen erscheinen eine alte Frau und ein alter Mann. Beide wirken unbeholfen und blicken sich unsicher um. Die Frau greift nach dem Arm des Mannes, wobei sie sich am Handlauf, der neben der Tür montiert ist, mit der freien Hand abstützt.

»Komm, Karl«, sagt sie ruhig, »draußen ist es jetzt nicht mehr so heiß.«

Der alte Mann schiebt einen Fuß nach vorne, lässt ihn ein paar Zentimeter sinken, mühevoll erreicht er die erste Stufe. Die Frau macht es ihm nach und steigt gleich, ein wenig eckig, beinah forsch, die zweite Stufe hinunter. »Bald hast du es geschafft«, murmelt sie mehr für sich als für ihren Gatten, der zwar hölzern, aber doch ohne Panne die beiden Stufen in den Hof schafft und nun neben der Zuckerfichte vor dem Eingang steht.

»Gehen wir nach Hause?«, fragt er.

»Karl, wir sind zu Hause.«

»Seit wann?«

Die alte Frau winkt ab und führt Karl zum Gartentisch unter dem Nussbaum. Auf dem gedeckten Tisch stehen eine Thermoskanne mit zwei Kaffeetassen, daneben ein flacher Plastikbehälter, unter dessen Abdeckung einige Mehlspeisstücke durchschimmern.

»Schau, Vroni hat uns einen Kuchen gebacken.«

»Ich möchte nach Hause gehen«, murrt der Alte und bleibt neben seinem Stuhl stehen. Mit einer Hand hält er sich an ihm fest, mit der anderen fährt er durch sein schütteres, weißes Haar, gleitet über das Gesicht, berührt seine spröden Lippen. »Bitte, bringen Sie mich nach Hause.«

»Karl, noch einmal - wir sind zu Hause. Ich bin seit fast 70 Jahren deine Frau, ich heiße Hilde und wir haben zwei Kinder, vier Enkelkinder mit fünf Urenkeln, die alle woanders wohnen und uns manchmal besuchen. Wir sind eine Familie.« Ihre feste Stimme wird langsam brüchiger. »Soll ich dir etwas von unseren Kindern erzählen?«

»Na gut, dann bleibe ich, aber nur auf eine Tasse.« Karl setzt sich umständlich nieder, legt seine von Altersflecken übersäten Hände auf den Tisch und schaut die Frau vor ihm an, die ihm irgendwie bekannt vorkommt, die er aber nicht einordnen kann. »Und jetzt?«, fragt er. »Was machen wir jetzt?«

»Wir trinken ein, zwei Tässchen Kaffee, essen Kuchen und genießen die Sonne.«

»Und wenn jemand kommt und uns von hier verjagt?«

»Niemand wird uns von hier verjagen«, sagt Hilde, während sie ein Stück Zwetschkenkuchen auf einen der Teller platziert. »Hmmm, der duftet aber köstlich. Probier mal!«

»Ich will nach Hause.«

»Karl, wir sind zu Hause. Das hier ist unser Haus.«

»Seit wann?«

»Eigentlich seit immer.«

»Seit immer? Das gibt es nicht.«

Hilde greift nach der Hand ihres Mannes und drückt sie. »Karl, ich lebe hier schon immer«, betont sie, »weil ich in diesem Haus geboren worden bin, und du bist auch hier zu Hause, seit wir verheiratet sind.«

»Wir sind verheiratet? Seit wann?«

»Das habe ich gerade gesagt, seit fast 70 Jahren.« Die alte Frau wird nachdenklich. »Warte«, sagt sie nach einer Weile, »im Februar waren es genau 67 Jahre.«

»Wie denn? Zuerst 70 und dann 67 Jahre? Liebe Dame, Sie haben es nicht so genau mit der Wahrheit.«

Hilde sagt nichts mehr. Sie schiebt sich ein Stück Kuchen in den Mund und kaut langsam. »Der schmeckt hervorragend. Jetzt probier doch mal.«

Karl nimmt ebenfalls eines und stopft es ganz in den Mund. »Wenn Sie meinen«, brummt er, wobei Biskuitbrösel und Zwetschgenmus auf sein Hemd fallen. Weder Karl noch seine Frau kümmern sich darum. Was ist schon ein schmutziges Hemd gegen ein paar Minuten Ruhe? Trotz ihres hohen Alters weiß Hilde, dass sie sich nicht mehr auf einer Geraden vorwärtsbewegt, wie sie es immer angestrebt hatte, sondern sich im Kreis dreht. Der Dämon der Vergesslichkeit hat nicht nur über ihren Karl Macht gewonnen, er greift unbarmherzig auch nach ihr. Sie spürt, wie die Tage in diffuses Licht schwinden, ihre Konturen verlieren, blasser werden.

Es ist ein warmer Sommer, Mitte August. Die Bäume im Garten tragen viel mehr Obst als in den vergangenen Jahren. Das Rot der Äpfel leuchtet durch das Laub, die überreifen Birnen fallen ins Gras. Die Ameisen und Wespen feiern ein Fest.

Doch plötzlich wird die nachmittägliche Idylle durch ein lautes Geräusch gestört. Ein Rasenmäher frisst sich im hinteren Teil des Gartens durch das Gras, ein junger Mann in kurzen Jeans und einem blauen T-Shirt schiebt das Gerät vor sich her.

»Wer ist das?«, schreit Karl auf und wird unruhig. »Ist das ein Einbrecher?«

»Nein, Karl, beruhige dich. Das ist Markus. Der kommt öfter zu uns.«

»Ist er mein ⦠unser ⦠nein, unser Sohn ist er nicht.«

»Markus ist ein Zivildiener. Er hilft uns den Garten in Ordnung zu halten. Und er macht für uns Besorgungen. Ein sehr netter Bursche.«

»Ich dachte schon ⦫

Hilde ist müde. Ihr eigenes Alter macht ihr genug zu schaffen, aber seit es mit Karl angefangen hat, erträgt sie den Alltag immer schwerer. Schon vor Jahren begann er vergesslicher zu werden, wer wird es nicht, wenn er den Achtziger hinter sich gelassen hat. Es fängt mit dem Brillensuchen an, die Hausschlüssel sind auf einmal weg, die Fernbedienung war vor einer Minute noch da, von Menschen, die ständig kommen und gehen und die man nicht erkennt, gar nicht zu sprechen.

»Das ist für Ihr Alter normal«, sagte die Hausärztin und verschrieb beiden ein Ginkgo-Präparat, das den ermüdeten Gehirnzellen auf die Sprünge helfen sollte. Je eine Tablette in der Früh, zu Mittag und am Abend, Tag für Tag, und dann vergisst man, die Tabletten zu nehmen, man findet sie nicht mehr, verdammt, wo sind die blöden Pillen, sie lagen doch gerade noch auf dem Tisch.

»Frau Doktor, wie soll ich weiter mit meinem Mann zusammenleben, wenn er nicht mehr weiß, wer ich bin?«

»Er hat doch sicher auch etwas hellere Momente. Sprechen Sie mit ihm über Ihr Leben.«

»Wir haben viel durchgemacht. Zuerst der Krieg, dann die schwere Arbeit, und als die Kinder in die Stadt gingen, um zu studieren ⦫ Hilde legte ihr Gesicht in die gefalteten Hände und stöhnte. »Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer unser Leben war.«

»Ja, sicher. Das Leben besteht aus schönen und weniger schönen Tagen. Das sogenannte Glück besteht, wie Sie wissen, nur aus kurzen Augenblicken. Der Rest ist Alltag. Holen Sie das Schöne zu sich, blättern Sie in den Familienalben, sprechen Sie mit Ihren Kindern, Nachbarn, Freunden, schaffen Sie sich ein Tier an. Eine Katze wäre am einfachsten.«

»Als Trudi und Karli noch klein waren, hatten wir zwei Katzen und einen Hund.«

»Sehen Sie, es kann sein, dass Ihr Gatte durch Tiere, die im Hof herumrennen, seine innere Orientierung wiedergewinnt. Zumindest teilweise.«

»Zu uns kommen manchmal Nachbarskatzen. Und Sie meinen â¦?«

»Ja, geben Sie den Besuchskatzen warme Milch, dann werden sie öfter kommen.«

Obwohl Karl sehr früh die Konturen seines Lebens verloren hatte, wusste er genau, dass da etwas war, da, in seinem Kopf, in seiner Seele, konnte aber die Geschichten nicht mehr abrufen. Irgendwo schien sich ein Vakuum gebildet zu haben, ein Leerraum, als ob ein volles Lager ausgeräumt worden war. Gähnende Leere. Wie konnte das nur passieren? Wohin ist sein Leben verschwunden?

Sie verließen die Ordination Hand in Hand und stützten einander beim Gehen. Auf der Straße wartete schon Vroni auf sie mit laufendem Motor, half ihnen einzusteigen und brachte sie nach Hause.

»Karl, am Wochenende kommen die Kinder«, sagt Hilde und legt sich ein zweites Stück Kuchen auf den Teller. »Sie wollen mit uns etwas Wichtiges besprechen. Du kannst dir schon denken, was.«

»Was?«

»Sie meinen, dass wir es in einem Seniorenheim leichter hätten als hier. Bequemer und vor allem sicherer.«

»Und wer bringt mich heute nach Hause?«

Wenn Trudi und Karli es ernst meinen und sie in ein Heim geben, was wird dann aus ihnen?, denkt Hilde. Das Haus wird verkauft und jemand wird in den Sachen herumwühlen, die ihr Leben ausmachten. Was wird aus den Geheimnissen, von denen nur sie wissen? Hilde stockt. In dem Moment durchfährt sie etwas wie ein Dolch. Sie weiß, die Sache duldet keinen Aufschub. Nervös fuchtelt...
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Autor

Zdenka Becker, DI, geboren in Eger/Tschechien, aufgewachsen in der Slowakei, studierte Wirtschaft und Dolmetschen in Bratislava und Wien. Sie ist freie Autorin und schreibt Romane (u. a. »Samy«, 2018, »Ein fesches Dirndl«, 2019), Theaterstücke (u. a. »Odysseus kam nicht zurück«, »Wir leben«, 2016) sowie die Europakolumne in der Zeitschrift »morgen«.