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Ein Sack voll Murmeln

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
336 Seiten
Deutsch
Ullstein Taschenbuchvlg.erschienen am11.08.2017Auflage
Zwei Jungen fliehen durch das kriegsversehrte Frankreich: Die beiden Brüder Joseph und Maurice sind 10 und 13 Jahre alt, als sie sich 1941 auf die Flucht aus Paris machen. Mit fünfzig Francs in der Tasche schlagen sie sich durch in die noch freie Zone, entkommen der Gestapo, verlieren ihre Familie - und nehmen sich noch in den trübsten Stunden Zeit für ein Fußballmatch, zum Murmelspielen oder zu trickreichen Schwarzmarktgeschäften. Die einzigartige Geschichte zweier Jungen, die sich - um eine unbeschwerte Kindheit gebracht - immer ihren Galgenhumor bewahren.

Jospeh Joffo wurde 1931 in Paris geboren. Er lebt mit seiner Familie in Paris nahe dem Arc de Triomphe.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR10,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR8,99

Produkt

KlappentextZwei Jungen fliehen durch das kriegsversehrte Frankreich: Die beiden Brüder Joseph und Maurice sind 10 und 13 Jahre alt, als sie sich 1941 auf die Flucht aus Paris machen. Mit fünfzig Francs in der Tasche schlagen sie sich durch in die noch freie Zone, entkommen der Gestapo, verlieren ihre Familie - und nehmen sich noch in den trübsten Stunden Zeit für ein Fußballmatch, zum Murmelspielen oder zu trickreichen Schwarzmarktgeschäften. Die einzigartige Geschichte zweier Jungen, die sich - um eine unbeschwerte Kindheit gebracht - immer ihren Galgenhumor bewahren.

Jospeh Joffo wurde 1931 in Paris geboren. Er lebt mit seiner Familie in Paris nahe dem Arc de Triomphe.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783843716208
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum11.08.2017
AuflageAuflage
Seiten336 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3011 Kbytes
Artikel-Nr.2379696
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



 

 

 

 

2Henri hat Bibi Cohens Nacken von den Resten der abgeschnittenen Haare befreit, und nun geht er zur Kasse. Maurice und ich haben uns in der Nähe postiert und beobachten das Geschehen.

So ganz wohl ist uns nicht. Vielleicht sind wir doch ein bisschen zu weit gegangen, indem wir die beiden SS-Männer hierher gelotst haben.

Henri wendet sich an den Deutschen.

»Bitte sehr, Monsieur.«

Der SS-Mann nimmt auf dem Friseurstuhl Platz; seine Mütze legt er auf seinen Knien ab. Scheinbar unbeeindruckt betrachtet er sein Gesicht im Spiegel. Es macht fast den Eindruck, als gefiele ihm nicht, was er sieht.

»Ganz kurz?«

»Ja, und den Scheitel rechts, bitte.«

Mir bleibt fast die Luft weg in meiner Ecke hinter der Kasse. Ein Deutscher, der französisch spricht! Und sein Akzent ist weniger stark als der mancher Nachbarn hier im Viertel.

Ich unterziehe ihn einer gründlichen Musterung. Er trägt eine kleine glänzende Pistolentasche. Man sieht den Griff. Der Ring schaukelt hin und her, wie an meiner Spielzeugpistole.

Gleich wird ihm aufgehen, wo er sich befindet, und dann holt er seine Waffe raus und legt uns alle um, sogar Mama, die in der Küche ist und überhaupt nicht ahnt, dass zwei Nazis bei uns im Salon sind.

Duvallier liest seine Zeitung. Neben ihm sitzt Crémieux, ein Nachbar, der bei einer Versicherung arbeitet und seinen Sohn regelmäßig zu uns zum Haareschneiden mitnimmt. Ich kenne ihn von der Schule, wir spielen manchmal in der Pause zusammen. Er macht keinen Mucks; er ist klein, aber jetzt sieht er so aus, als würde er am liebsten im Erdboden versinken.

An die anderen erinnere ich mich nicht. Ich habe sie alle vergessen. Meine Angst wurde immer größer.

Ich weiß nur noch, dass Albert mit einem Kunden herumflachste, während er noch ein Duftwässerchen in die frisch gestutzten Haare gab: »Kein Zuckerschlecken der Krieg, hein?«

Der SS-Typ zuckte zusammen. Das war sicher das erste Mal, dass er von einem Franzosen angesprochen wurde. Diese Chance ließ er sich nicht entgehen!

»Nein, wirklich nicht.«

Sie redeten weiter, die anderen im Salon mischten sich ein, man unterhielt sich gut miteinander. Der Deutsche übersetzte für seinen Kameraden, der nur mit Nicken oder Kopfschütteln reagierte, was Henri verzweifelt auszugleichen versuchte, da er ihm gerade die Haare schnitt. Schließlich durfte er dem Herrenmenschen keinen Schmiss verpassen, die Situation war schon kompliziert genug.

Mein Vater schwitzte Blut und Wasser, und mir wurde ganz anders bei dem Gedanken an die Tracht Prügel, die mich erwartete. Sobald diese beiden Typen zur Tür hinaus waren, würde Albert mich übers Knie legen, Henri würde sich Maurice schnappen, und dann würden wir sehen, wie lange es dauerte, bis ihnen die Hände weh taten.

»Bitte sehr, Sie sind dran.«

Mein Vater übernahm den anderen SS-Mann.

Ich hatte zwar großen Bammel, musste aber trotzdem lachen, als Samuel auftauchte.

Er kam täglich vorbei, um hallo zu sagen. Er war einer der Trödler vom Flohmarkt um die Ecke und hatte sich auf Wanduhren spezialisiert. Aber man konnte auch sonst alles Mögliche bei ihm finden, Maurice und ich stöberten gern in seinen Sachen herum.

Gut gelaunt trat er ein.

»Guten Tag, zusammen!«

Papa war gerade dabei, dem SS-Mann ein Handtuch umzubinden.

Samuel konnte gerade noch die Uniform sehen.

Seine Augen wurden so kugelrund wie meine Murmeln und dreimal so groß.

»Oh, oh!«, rief er. »Oh, oh ...«

»Ja«, sagte Albert, »hier ist gerade viel los.«

Samuel strich sich über den Schnurrbart.

»Schon gut«, sagte er, »ich komme ein andermal, wenn es ruhiger ist.«

»In Ordnung. Meine Verehrung an Madame.«

Samuel stand da wie vom Donner gerührt und starrte die beiden an.

»Soso«, murmelte er, »soso.«

Ein paar Sekunden stand er wie angewurzelt dort, dann verschwand er mit unsicheren Schritten.

Dreißig Sekunden später wussten es alle von der Rue Eugène-Sue bis oben nach Saint-Ouen, von den jüdischen Restaurants bis hin zu den koscheren Metzgereien, dass Vater Joffo der ausgewählte Friseur der SS war.

Der Coup des Jahrhunderts!

Währenddessen wurde im Salon munter weiter geplaudert. Auch mein Vater beteiligte sich.

Der SS-Mann hatte uns im Spiegel entdeckt.

»Sind das Ihre beiden?«

Papa lachte.

»Ja, die Lausbuben gehören zu mir.«

Der Mann nickte gerührt. Schon merkwürdig, dass zwei Männer von der SS im Jahr 1941 bei zwei jüdischen Jungs sentimental wurden.

»Dieser Krieg ist einfach furchtbar. Daran sind nur die Juden schuld.«

Mein Vater hörte nicht auf zu schneiden. Jetzt war die Schermaschine dran.

»Glauben Sie?«

Der Deutsche nickte mit Bestimmtheit.

»Ja, natürlich.«

Papa beendete seine Arbeit, sah kritisch auf das Haupt seines Kunden und kniff wie ein Künstler ein Auge zu. Mit einer einzigen Bewegung entfernte er das Handtuch und hielt ihm den Spiegel hin.

Der SS-Mann lächelte zufrieden.

»Perfekt. Vielen Dank.«

Jetzt kamen sie beide zur Kasse. Ich schmiegte mich an meinen Vater und sah zu ihm hoch; er lächelte.

Die SS-Männer setzten ihre Mützen wieder auf.

»Sind Sie zufrieden mit dem Haarschnitt?«

»Danke. Ausgezeichnet.«

»Schön. Bevor Sie nun gehen, muss ich Ihnen noch sagen, dass alle hier im Salon Juden sind.«

In seiner Jugend hatte mein Vater Theater gespielt, und wenn er uns abends Geschichten erzählte, dann waren diese immer von großem Gestikulieren à la Stanislavsky begleitet. In diesem Moment hätte kein Schauspieler auf der Bühne majestätischer wirken können als mein Vater, wie er da hinter seiner Kasse stand.

Alle im Salon hielten die Luft an. Crémieux stand als Erster auf. Er nahm die Hand seines Sohnes, der sich ebenfalls erhob. Die anderen taten es ihm gleich.

Duvallier sagte nichts. Er legte seine Zeitung weg, nahm die Pfeife aus dem Mund. Und dann verließ auch François Duvallier, Sohn von Jacques Duvallier und Noémie Machegrain, getauft in Saint-Eustache und praktizierender Katholik, seinen Platz. Nun standen wir alle.

Der SS-Mann sah meinen Vater an, ohne mit der Wimper zu zucken. Seine Lippen erschienen mir allerdings eine Spur schmaler.

»Ich meinte natürlich die reichen Juden.«

Die Münzen klimperten auf die Glasplatte der Ladentheke, danach hörte man das Geräusch sich entfernender Stiefel.

Sie waren bestimmt schon die Straße hinuntergelaufen, und wir standen immer noch wie angewurzelt da. Als ob eine böse Fee mit ihrem Zauberstab vorbeigekommen wäre und uns zu Stein erstarren lassen hätte.

Irgendwann war der Zauber gebrochen, und wir setzten uns wieder hin. Wir waren wohl um die Tracht Prügel herumgekommen.

Bevor er seine Arbeit wieder aufnahm, strich mein Vater Maurice und mir über den Kopf. Ich schloss die Augen, damit Maurice nicht noch einmal an diesem Tag behaupten konnte, dass ich weinte.

»Wollt ihr wohl ruhig sein!«, ruft Maman über die Trennwand hinweg. Wie jeden Abend kontrolliert sie, ob wir ordentlich Zähne geputzt haben und Ohren sowie Fingernägel sauber und gepflegt sind. Dann schüttelt sie unsere Kopfkissen auf und deckt uns gut zu, bevor sie nach einem Gute-Nacht-Kuss aus dem Zimmer verschwindet. Und kaum ist die Tür zu, werfe ich mein Kopfkissen durch das dunkle Zimmer, treffe Maurice, der wie ein Pferdekutscher zu fluchen beginnt. Wir prügeln uns oft abends und versuchen dabei so leise wie möglich zu sein.

Normalerweise fange ich an.

Ich spitze meine Ohren. Ich höre das Rascheln der Bettwäsche auf meiner rechten Seite. Maurice ist aufgestanden, das höre ich am verräterischen Quietschen seines Betts. Gleich wird er mich anspringen. Ich spanne meine Muskeln an und kann es kaum erwarten. Ich werde es ihm schon zeigen ...

Das Licht geht an.

Geblendet wirft sich Maurice wieder in sein Bett, und ich tue so, als ob ich schliefe.

Papa steht im Zimmer.

Ihm können wir nichts vormachen.

»Ich erzähle euch die Geschichte weiter.«

Etwas Besseres kann uns gar nicht passieren.

Von all meinen Kindheitserinnerungen, und meine Kindheit währte nicht allzu lang, ist diese eine der schönsten.

Manchmal kam er abends in unser Zimmer, setzte sich bei mir oder Maurice auf die Bettkante und erzählte von Großvater.

Kinder sind von Geschichten fasziniert, egal ob man ihnen vorliest oder ob man sie erzählt. Ich erlebte es anders. In meinem Kopf war mein Großvater der Held. Sein Konterfei hing in einem ovalen Rahmen bei uns im Salon.

Sein strenges Schnurrbartgesicht hatte über die Jahre eine rosa Färbung angenommen, die mich immer an Babywäsche denken ließ. Unter seinem gut geschnittenen Anzug waren kräftige Muskeln zu erahnen. Er hatte sich auf einer wacklig aussehenden Stuhllehne abgestützt, der Stuhl schien jeden Augenblick unter dem Gewicht des großen Mannes zusammenzubrechen, und blickte stolz in die Kamera.

Die Erzählungen meines Vaters sind mir teilweise konfus in Erinnerung geblieben, und wie in einem Kaleidoskop fügen sie sich...


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Autor

Jospeh Joffo wurde 1931 in Paris geboren. Als er 1971 nach einem Skiunfall Bettruhe halten musste, schrieb er die Erinnerungen an seine Kindheit im von Deutschland besetzten Frankreich nieder. "Ein Sack voll Murmeln" wurde sofort zum Bestseller, der dann in 18 Sprachen übersetzt wurde. Heute lebt er mit seiner Familie in Paris nahe dem Arc de Triomphe.