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Unten auf der Piazza ist niemand

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
992 Seiten
Deutsch
Carl Hanser Verlagerschienen am19.08.20241. Auflage
Dolores Prato und das Buch ihres Lebens: 'Ein magisches Werk, das in eine versunkene Welt entführt - das literarische Moment einer ganzen Epoche.' Le Monde
International als Entdeckung gefeiert und nun erstmals auf Deutsch. Dolores Prato, die große Außenseiterin der italienischen Literatur, war achtzig, als sie das Buch ihres Lebens schrieb: die Geschichte ihrer Kindheit Ende des 19. Jahrhunderts in Treja, einer Kleinstadt in den Marken. Unehelich geboren, wächst sie bei Verwandten auf, fühlt sich ungeliebt und einsam. Ihr Blick ist klarsichtig und zugleich verzaubert, sie erzählt von häuslichen und religiösen Ritualen, von Karnevalsbällen bei Adel und Volk, und von magischen Praktiken. 'Treja war mein Raum, das Panorama ringsum, meine Vision: Ort des Herzens und des Traums.' Pratos 'Meisterwerk' (Le Monde) ist ein Atlas der Emotionen und das einzigartige Gemälde eines verschwundenen Italiens. Mit einem Nachwort von Esther Kinsky.

Dolores Prato, 1892 in Rom als uneheliche Tochter einer Patrizierin geboren, wuchs bei Verwandten der Mutter in der Kleinstadt Treja (heute Treia) in den Marken auf. Nach einer Ausbildung als Lehrerin in Rom unterrichtete sie u.a. in der Toskana, in Macerata und in Mailand. Mitarbeit bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. 1980 erschien Giù la piazza non c'è nessuno (Unten auf der Piazza ist niemand) in einer von Natalia Ginzburg stark gekürzten Fassung, das vollständige Buch erst 1997. Prato starb 1983 in Anzio.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR38,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR29,99

Produkt

KlappentextDolores Prato und das Buch ihres Lebens: 'Ein magisches Werk, das in eine versunkene Welt entführt - das literarische Moment einer ganzen Epoche.' Le Monde
International als Entdeckung gefeiert und nun erstmals auf Deutsch. Dolores Prato, die große Außenseiterin der italienischen Literatur, war achtzig, als sie das Buch ihres Lebens schrieb: die Geschichte ihrer Kindheit Ende des 19. Jahrhunderts in Treja, einer Kleinstadt in den Marken. Unehelich geboren, wächst sie bei Verwandten auf, fühlt sich ungeliebt und einsam. Ihr Blick ist klarsichtig und zugleich verzaubert, sie erzählt von häuslichen und religiösen Ritualen, von Karnevalsbällen bei Adel und Volk, und von magischen Praktiken. 'Treja war mein Raum, das Panorama ringsum, meine Vision: Ort des Herzens und des Traums.' Pratos 'Meisterwerk' (Le Monde) ist ein Atlas der Emotionen und das einzigartige Gemälde eines verschwundenen Italiens. Mit einem Nachwort von Esther Kinsky.

Dolores Prato, 1892 in Rom als uneheliche Tochter einer Patrizierin geboren, wuchs bei Verwandten der Mutter in der Kleinstadt Treja (heute Treia) in den Marken auf. Nach einer Ausbildung als Lehrerin in Rom unterrichtete sie u.a. in der Toskana, in Macerata und in Mailand. Mitarbeit bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. 1980 erschien Giù la piazza non c'è nessuno (Unten auf der Piazza ist niemand) in einer von Natalia Ginzburg stark gekürzten Fassung, das vollständige Buch erst 1997. Prato starb 1983 in Anzio.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783446281028
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum19.08.2024
Auflage1. Auflage
Seiten992 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2804 Kbytes
Artikel-Nr.14508245
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Die Stadtmauer hinter San Francesco teilte sich, wenn man rechts an der Haustür von Bufalini vorbei war: Die Straße entlang der Stadtmauer verlief auf gleicher Höhe Richtung San Marco, eine zweite, aber breitere Schotterstraße führte seitlich steil den Hügel hinunter und bis hinaus aufs offene Land. An der Stelle, wo sich die beiden Straßen teilten, gab es statt des Bretterzauns, der die Mauer von außen schützte, ein Mäuerchen, das viel breiter war als die Bretter. Auf die Balken konnte man sich setzen, doch viel bequemer, weil niedriger und breiter, war das Mäuerchen. Dort setzten sich die Tante und Sor Venanzo hin, während ich mich umschaute. Die Tante und Sor Venanzo sprachen sich mit »Ihr« an, aber mit dem Vornamen: »Ihr, Paolina«, »Ihr, Venanzo«. Meistens redete die Tante wenig, sie ließ reden. Eine Frau mit größerer natürlicher Würde gab es im ganzen Ort kein zweites Mal, auch nirgends sonst habe ich jemanden wie sie getroffen.

Nur vor diesem Mäuerchen wird Sor Venanzo lebendig, auch die Art, wie er uns von San Marco her entgegenkam. Wenn seine kleine, stämmige dunkle Gestalt in der sanften Biegung der Straße erschien, war ich glücklich. Aber das zeigte ich ihm nie. Er beschleunigte nicht den Schritt, doch er lächelte schon, wenn er ankam. Als mir die Tante eines Tages rote Strümpfe angezogen hatte, näherte er sich und sagte zur Luft: »Ihre Beine sind blutig, ihre Beine sind blutig!« Wenn man viele Scherze hört, vergisst man sie, passiert es selten, vervielfacht man, was man gehört hat.

Ich blieb vor den beiden stehen wie ein Prellstein, der sich umschauen kann. Wenn ich Sor Venanzo nur hier vor mir sehe, nie auf einer städtischen Straße, nie in einem Haus, nie in einer Kirche, heißt das, dass sie sich nur hier trafen, die Tante und er: Nur hier war es möglich.

Die Matriarchin der Familie Tommasoni, Signora Orsola, die Frau von Signor Tommaso, dem Bruder von Sor Venanzo, war eine Ciaramponi. Bis zu welchem Grad das Thermometer dieser Verwandtschaft stieg, habe ich nie erfahren. Die Tante erweckte den Eindruck, sich nichts daraus zu machen; Signora Orsola berücksichtigte sie bei den großen Familienfeiern: Todesfälle, Hochzeiten, Taufen. Was das Übrige anging, verschanzte sie sich wie eine Burgherrin. Wenn sie sich begegneten: ein angedeuteter Gruß ohne ein Lächeln von Seiten der Signora Orsola, das übliche Lächeln von Seiten der Tante. Wenn sie sich unterhielten, sprachen sie sich mit »Ihr« an. Signora Orsola war immer schwarz gekleidet, die Tante nie. Sie war so groß wie die Tante, aber kräftiger. Schwarz gekleidet, von dunklem Teint und mit dicken Lippen, sah sie aus, als hätte sie Verwandtschaft in Afrika.

Sich vorzustellen, dass die zwei Frauen auf dem Mäuerchen miteinander redeten, selbst wenn sie sich mit »Ihr« angesprochen hätten, war unmöglich. Doch bei traurigen oder fröhlichen Anlässen in der Familie waren Onkel und Tante die Ersten, die informiert wurden, nicht weil Signora Orsola sie liebte, sondern weil es Verwandte waren. Die Verwandtschaft muss respektiert werden.

Bei der Hochzeit von Flora, noch zu Lebzeiten des Kanonikers Tommasoni, des Bruders von Sor Tommaso und von Sor Venanzo, die alle unter dem Szepter der geborenen »Ciaramponi« lebten, war er der Priester, der sie traute. Bei der Hochzeit von Peppina war es mein Onkel, offenbar war er der nächste Priester in der Verwandtschaft, seit es den Kanonikus nicht mehr gab.

Hin und wieder besuchte die Tante die Tommasoni, nicht weil sie mit ihnen verwandt war, sondern weil Flora, die strahlende jung verheiratete Frau, wegen einer arthritischen Erkrankung von Decken bedeckt und halb auf einem Sessel ausgestreckt, sich nicht rühren konnte. »So jung und so schön!«, hieß es im Ort. Tatsächlich war sie ein Ausbund an jugendlicher Schönheit.

Die Tante nahm mich mit; ohne mich anzusehen, ohne mit mir zu sprechen, setzte man mich auf einen gepolsterten Fußschemel. Unter den Decken musste Flora die Füße auf einen Schemel stützen, der meinem ähnlich war, sodass ihre Füße und ich selbst auf gleicher Höhe waren. Es machte mir nicht das Geringste aus, dass ich da drin nicht existierte: Da es mich nicht gab, konnte ich Flora verzückt betrachten. Nicht einmal wenn die Tante sagte »Verabschiede dich«, merkte jemand, dass ich mir den Gruß ersparte.

Die ausnehmend große, üppige Flora war nach Hause zurückgekehrt, unter die Fittiche einer dominierenden Mutter, weil die Krankheit sie ans Bett fesselte. Wo sie als Ehefrau lebte, weiß ich nicht, jedenfalls nicht in Treja. Tatsächlich muss sie verschwunden sein, kaum dass sie wieder den Gebrauch ihrer Glieder erlangt hatte, denn wir leisteten ihr nicht mehr Gesellschaft neben dem Sessel.

Lange Zeit später kam sie plötzlich bei mir an. Ich hielt sie in der Hand und betrachtete sie, wie ich es einst zu ihren Füßen getan hatte. Es war eine farbige Postkarte. »Tizians Flora« stand darauf geschrieben. Es war nicht nur ihr Name, es waren auch ihre Farben, war ihr Körper, das blühende Gesicht, war das Porträt dieser Schönheit, die, obwohl sie bereits ein eigenes Kind hatte, niemals ein liebevolles Wort zu mir gesagt hatte.

Ich legte sie in das Postkartenalbum, das die gleiche Farbe hatte wie mein Bolerojäckchen; wenn ich danach suchen würde, käme sie vielleicht aus irgendeinem Koffer zum Vorschein.

Keiner im Ort hatte die gleiche lächelnde, herzliche Sympathie für die Tante wie Sor Venanzo. Worüber sie sprachen, weiß ich nicht, sie konnten sich nach Herzenslust unterhalten; ich hatte keine Eile; von ihm kam nie eine jener lästigen Fragen in Bezug auf mich, nie die Aufforderung, den Boden zu küssen, den Onkel und Tante berührten. Von Sor Venanzo kamen ein scherzhaftes Lächeln und das Spiel mit der Nase. Hatte er das tatsächlich so oft wiederholt, oder dehnten sich diese ein, zwei Male über mein ganzes Leben hin aus? Ich weiß es nicht; fest steht nur, dass der Scherz da war, wenn ich an diesem Mäuerchen vorbeiging.

Vielleicht kam es noch ein zweites Mal zu einer scherzhaften Liebkosung, und zwar an der Grube der Choleraopfer. Die Grube war schon vor Jahrhunderten zugeschüttet worden; man hatte eine Stele auf der viereckigen Basis zweier breiter, übereinanderliegenden Stufen errichtet. Auf der unteren Stufe ließen sich die Leute nieder, um frische Luft zu schnappen, und dabei lehnten sie sich an die höhere Stufe. Die Kinder spielten auf beiden Stufen Fangen.

Der Ort hieß San Marco, war aber keine Kirche, sondern der Bug der Stadt. Was bei einem Schiff die Back ist, war hier San Marco. Die Spitze der Back dient als Wasserscheide, hier war San Marco der Raumteiler.

Tief unten, an der Stelle, wo das Tal wieder ansteigt und einen Buckel bildet, stand eine monumentale Villa. »Villa Spada« nannten sie die alten Leute, »Villa Bonaparte« nannte sie Eugenia; Onkel und Tante erwähnten sie nie.

Von hier aus sah es aus wie eine einzige Ebene, aber sobald man die Stadtmauer entlang die Richtung nach San Francesco oder Porta di Testa einschlug, teilte sich die Ebene, und es ging entweder zum Meer oder zu den Bergen hin.

Die Galionsfigur an jenem Bug war der Turm von San Marco, für mich inzwischen San Michele, so schön und intakt, wenn man die vier Außenmauern betrachtete, so unheimlich, wenn man von den beiden eingestürzten Seiten her ins Innere blickte, von wo aus ich ihn im ungeheuren Raum jenes Gartens sah. Der Turm, von einem warmen Kupferton, schien eins mit dem Felsen zu sein: Der Fels, der hier unterhalb des Ortes zum Vorschein kam, bäumte sich auf und machte den Turm zu seinem natürlichen Endpunkt.

San Marco, die Spitze des Bugs, war ein dreieckiges Stück Erde, wo es nur Gras gab, das von allein wuchs, darum herum, als Begrenzung zum Abgrund, eine ganz niedrige Hecke von etwas, was nicht wuchs. Warum es San Marco hieß und nicht San Michele, verstand ich schlechterdings nicht. Mitten in diesem Dreieck war diese Stele aus Backsteinen, hoch wie ein Obelisk. Dort unten hatte man in einem großen Massengrab die Pesttoten begraben. Eugenia sang, fröhlich und spitzbübisch: »Am achtundzwanzigsten, am achtundzwanzigsten August, da ging die Cholera in Ancona an Land ...« Und sie begriff nicht, wie sie hatte an Land gehen können, egal, von der Cholera in Treja sang sie ja auch nicht. Wann hatte es die Pest gegeben? Das wusste vielleicht keiner. Aber es war schrecklich gewesen, viele Menschen waren lebendig begraben worden. Nach...

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Dolores Prato, 1892 in Rom als uneheliche Tochter einer Patrizierin geboren, wuchs bei Verwandten der Mutter in der Kleinstadt Treja (heute Treia) in den Marken auf. Nach einer Ausbildung als Lehrerin in Rom unterrichtete sie u.a. in der Toskana, in Macerata und in Mailand. Mitarbeit bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. 1980 erschien Giù la piazza non c'è nessuno (Unten auf der Piazza ist niemand) in einer von Natalia Ginzburg stark gekürzten Fassung, das vollständige Buch erst 1997. Prato starb 1983 in Anzio.
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