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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
212 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am26.10.20181. Auflage
In den meisten Essays geht es um Entstehungsfragen, sowohl um die Werkentstehung im weiteren Sinne als auch um die eigentliche Erfindung des Textes bei der Niederschrift, die in Kafkas Fall oft kaum voneinander zu trennen sind (?Der Schreibakt und das Geschriebene?). Pasley untersucht z.B. die manchmal verblüffende Art, wie Kafka das, was ihn unmittelbar beschäftigt, in seine entstehenden Geschichten einschreibt oder wie er seine Phantasien aus Redefiguren entwickelt, indem er sie beim Wort nimmt. Ohne selbst zu interpretieren, sucht er auf solche Weise Perspektiven zu eröffnen und zu werk- und autorgerechten Deutungen anzuregen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Malcolm Pasley, geboren 1926 in Rajkot (Indien), studierte in Oxford, wo er dann als Fellow und Tutor am Magdalen College Germanistik lehrte. Mitbegründer der Zeitschrift ?Oxford German Studies?, hat er neben zahlreichen Veröffentlichungen zu Kafka u.a. die Bände ?Germany: A Companion to German Studies? (2. rev. Ausgabe 1981) und ?Nietzsche: Imagery and Thought? (1978) herausgegeben. 1986 wurde ihm von der Justus-Liebig-Universität Gießen die Ehrendoktorwürde Dr. phil. h.c. verliehen. Pasley war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Fellow of the British Academy. Er starb 2004 in Oxford.
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Produkt

KlappentextIn den meisten Essays geht es um Entstehungsfragen, sowohl um die Werkentstehung im weiteren Sinne als auch um die eigentliche Erfindung des Textes bei der Niederschrift, die in Kafkas Fall oft kaum voneinander zu trennen sind (?Der Schreibakt und das Geschriebene?). Pasley untersucht z.B. die manchmal verblüffende Art, wie Kafka das, was ihn unmittelbar beschäftigt, in seine entstehenden Geschichten einschreibt oder wie er seine Phantasien aus Redefiguren entwickelt, indem er sie beim Wort nimmt. Ohne selbst zu interpretieren, sucht er auf solche Weise Perspektiven zu eröffnen und zu werk- und autorgerechten Deutungen anzuregen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Malcolm Pasley, geboren 1926 in Rajkot (Indien), studierte in Oxford, wo er dann als Fellow und Tutor am Magdalen College Germanistik lehrte. Mitbegründer der Zeitschrift ?Oxford German Studies?, hat er neben zahlreichen Veröffentlichungen zu Kafka u.a. die Bände ?Germany: A Companion to German Studies? (2. rev. Ausgabe 1981) und ?Nietzsche: Imagery and Thought? (1978) herausgegeben. 1986 wurde ihm von der Justus-Liebig-Universität Gießen die Ehrendoktorwürde Dr. phil. h.c. verliehen. Pasley war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Fellow of the British Academy. Er starb 2004 in Oxford.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105622278
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum26.10.2018
Auflage1. Auflage
Seiten212 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1329 Kbytes
Artikel-Nr.4011611
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Askese und Kannibalismus
Anmerkungen zu einem unpublizierten Kafka-Text

Kafkas Leben wurde von einem emotionalen und geistigen Hunger beherrscht, der stets unbefriedigt blieb, von einem überwältigenden Verlangen nach einer Nahrung, welche die Welt für ihn offenbar nicht bereithielt. »[...] nur vorwärts hungriges Tier führt der Weg zur eßbaren Nahrung [...], sei es auch hinter dem Leben« (Tagebuch, 10.2.1922, KKAT 903f.). Das Motiv taucht bereits zehn Jahre vor dieser Tagebucheintragung in den Erzählungen Das Urteil und Die Verwandlung auf: Georg Bendemann ergreift das Brückengeländer, über das er sich bei seinem Todessprung schwingt, »wie ein Hungriger die Nahrung« (KKAD 61); Gregor Samsa wird durch Musik dazu bewegt, den »Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung« zu suchen (KKAD 185), der ihm zumindest in diesem Leben versperrt bleibt.

Diese »unbekannte Nahrung«, die allein Kafkas Helden zufriedenstellen könnte, ist zum einen mit der wundersamen Speisung in Märchen verwandt, zum anderen mit der göttlichen »Speise«, auf die häufig in heiligen Schriften (z.B. Jeremia 15,16) angespielt wird. Für Kafka ist nicht nur der Spender solcher Nahrung in unerreichbare Sphären entschwunden, sondern schon das menschliche Verlangen nach ihr ist durch Nietzsche und nach ihm durch die Psychologie zutiefst verdächtig geworden. Dementsprechend bleibt für Kafkas Helden die wunderbare Speise das unerreichbare Objekt eines Begehrens, wobei sich dieses Begehren wiederum hauptsächlich negativ, nämlich als Ekel vor der normalen Nahrung äußert. »Ich habe ja Appetit, [...] aber nicht auf diese Dinge« ( Die Verwandlung , KKAD 183); »weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt« ( Ein Hungerkünstler , KKAD 349). Häufig ist dieser Ekel vor normaler Nahrung mit einer von Verfaultem ausgehenden Anziehungskraft verbunden. Samsas Verlangen nach der »unbekannten Nahrung« wird von seiner merkwürdigen Vorliebe für Verdorbenes begleitet; die Schakale in Schakale und Araber werden von dem Wunsch, zur weißen Reinheit der Knochen vorzudringen, dazu getrieben, das verwesende Fleisch, das die Knochen bedeckt, zu verschlingen: »ungestört soll es [i. e. das Getier] von uns leergetrunken und bis auf die Knochen gereinigt werden. Reinheit, nichts als Reinheit wollen wir« (KKAD 273).

Unabhängig davon, ob das geistige Verlangen des Menschen auf diese Weise offenkundig mit einer Vorliebe für Tod und Verfall verbunden ist, steht es zumindest immer im Kontrast zu seinem animalischen Verlangen, welches die Gier nach Leben, das Bestreben, die eigene Lebenskraft zu steigern, ausdrückt oder »symbolisiert«. Kafka betont den aggressiven, rohen und raubtierhaften Aspekt dieses Lebenshungers. Karl Roßmann, dessen »auffallende Appetitlosigkeit« ihn mit Gregor Samsa verbindet, beobachtet, wie der riesige Herr Green, »immer bereit, jeden neuen Gang ohne Ermüdung zu empfangen«, »einen Bissen in den Mund [führte], wo die Zunge, wie Karl zufällig bemerkte, mit einem Schwunge die Speise ergriff. Ihm wurde fast übel und er stand auf« (KKAV 82f.). Herr Green repräsentiert - wie viele andere in Kafkas Werk - das, was Nietzsche »alle rohe, stürmische, zügellose, harte, gewalttätig-raubtierhafte Gesundheit und Mächtigkeit« nennt ( Zur Genealogie der Moral , Dritte Abhandlung, Abt. 15). Für diese Gestalten, deren alles verschlingende Gier von den barbarischen Nomaden in Ein altes Blatt und den Raubtieren in Ein Hungerkünstler geteilt wird, lieferte Kafkas eigener Vater das Vorbild. »Du [hast] entsprechend Deinem kräftigen Hunger und Deiner besonderen Vorliebe alles schnell, heiß und in großen Bissen gegessen. [...] Knochen durfte man nicht zerbeißen, Du ja« ( Brief an den Vater , KKAN II 155f.). In ihrer extremen Form erscheint eine solche aggressive Gefräßigkeit als Kannibalismus, einschließlich des darin enthaltenen Motivs, sich die Lebenskraft des Opfers einzuverleiben. »Kronos, der seine Söhne auffraß«, schreibt Kafka 1921, »- der ehrlichste Vater« (Br 345).

Die Hinrichtungsmaschine in der Strafkolonie muß zunächst den kannibalischen Trieb des Menschen bezwingen (»Wirf die Peitsche weg, oder ich fresse dich«, KKAD 213), bevor sie sein »Vergnügen am Essen« gänzlich beseitigt (219). Die Bürger in Ein altes Blatt werden von einer unausgesprochenen Furcht vor Kannibalismus dazu getrieben, die Nomaden reichlich mit Fleisch zu versorgen: »Bekämen die Nomaden kein Fleisch, wer weiß, was ihnen zu tun einfiele« (KKAD 265). Der Schauplatz einer entlegenen Strafkolonie oder eines sagenhaften alten China erlaubt es, ohne Verstoß gegen die Voraussetzungen der Geschichte auf das Motiv des Kannibalismus einzugehen. Wählt man etwa das moderne Amerika als Schauplatz, so ist dies nur in Form einer witzigen Überlegung möglich: »Karl stellte sich zum Spaß die Frage, ob er [Herr Green] nicht etwa den guten Herrn Pollunder aufgefressen habe« (KKAV 121). Was Ein Hungerkünstler anbelangt, so wäre die entschiedenste Gegenfigur zum fastenden Helden vielleicht ein Mann, der mit einer kannibalischen Glanznummer alle Rekorde brechen würde. Die Einführung einer solchen Figur in den modernen europäischen Schauplatz hätte allerdings die innere Logik der Erzählung zerstört, hätte zur Überschreitung der Grenze zum Grotesken geführt. In der Tat wird dem Helden der Geschichte der junge Panther gegenübergestellt, der seinen Platz im Käfig einnimmt und mit der »Nahrung, die ihm schmeckte«, versorgt wird; »und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, daß es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten« (KKAD 349). Dessen ungeachtet hat Kafka aber eine Verstärkung des Kontrastes durch die Einführung eines Menschenfressers in seine Geschichte erwogen: Diesem verworfenen Plan wenden wir uns jetzt zu.

Die Erzählung Ein Hungerkünstler erschien zuerst im Oktober 1922 in der Neuen Rundschau . Später entschied sich Kafka, die Erzählung neben anderen in Buchform herauszugeben, und kurz vor seinem Tode erhielt er die erste Bogenkorrektur dieses Buches. Während der Korrektur machte er (auf einem der Gesprächsblätter, mit deren Hilfe er sich verständigen mußte) folgende Bemerkung zum Hungerkünstler : »Ein Drittel aus der Mitte gestrichen« (Br 486 und 520, Anm. 3). Die Bemerkung ist rätselhaft, denn die in der Buchpublikation erschienene Fassung der Erzählung weist gegenüber dem 1922 publizierten Text keinerlei Auslassungen auf. Worum kann es sich dann bei diesem gestrichenen »Drittel« der Erzählung gehandelt haben?

Die Handschrift der Originalfassung weist allerdings eine längere Streichung auf: sie folgt auf den Satz »nur der Hungerkünstler selbst konnte [...] der von seinem Hungern vollkommen befriedigte Zuschauer sein« (KKAD 337). Die gestrichene Passage leitet eine Art Dialog zwischen dem Helden und einem seiner Besucher ein:


»Das gab ihm selbst denjenigen gegenüber welche ihm völlig vertrauten, eine eigentümlich überlegene Stellung, es bildete sogar für manche den Hauptreiz der Vorführung. Es lockte sie nahe zum Gitter sich zu drängen und in die trüben Augen des Hungerkünstlers zu sehn, deren Anblick er niemandem entzog, der sich sichtlich darum bewarb, ja er suchte selbst unter der bunten Zuschauermenge Blicke, die sich in die seinen zu versenken Lust hatten. Dann ergab sich ein Frage- und Antwortspiel der Augen. Der Zuschauer fragte: Hast Du wirklich schon solange gehungert? Der Hungerkünstler antwortete: Allerdings genau so lange habe ich gehungert und werde noch lange hungern. Daß Du es nicht begreifen kannst, verstehe ich; es ist unbegreiflich. Der Zuschauer: Und Du solltest das Unbegreifliche ausführen können? Der Hungerkünstler: Ja, ich. Der Zuschauer: Nun, es wäre ja nicht weniger unbegreiflich, wenn Du etwa einmal in einer der vielen Nächte eine Kleinigkeit gegessen hättest. Dein Hungern wäre noch genau so unbegreiflich. Diese Kleinigkeit also hast Du doch vielleicht gegessen. Der Hungerkünstler: Nein, auch diese Kleinigkeit nicht. « (Vgl. KKAN II, Apparatband 318)


Nun macht diese vom Autor verworfene Stelle offensichtlich nicht »ein Drittel« der Erzählung aus. Es gibt aber außerdem eine viel längere Passage, welche gleichfalls die Konfrontation des Helden mit einem Besucher zum Inhalt hat. Sie hat sich nur zum Teil erhalten, jedoch ist genug davon überliefert, um sie als jenes »Drittel aus der Mitte« zu identifizieren, auf das sich Kafka bezieht. Nach den Papierverhältnissen zu schließen, muß diese Passage erst nach Eine kleine Frau entstanden sein, d.h. erst um Anfang 1924. Allem Anschein nach handelt es sich hierbei um einen vergeblichen Versuch Kafkas, die in der Neuen Rundschau erschienene Fassung von Ein Hungerkünstler vor dem Versand an den Verlag »Die Schmiede« noch auszubauen. Der Text dieser Passage lautet:


»[...] Benehmen verdächtig war, trat ihm sofort entgegen. Zwar schob ihn der Mann unwillig bei Seite und ging weiter, aber da diese Schaustellung äußerst sorgfältig...

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